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Selbstmordgedanken
Tagein, tagaus geh ich die Straße entlang, trostlos, grau. Was bringt es, hier zu laufen? Jeden Tag zur Arbeit, niemand würde es merken, wenn ich tot wäre. Das Leben wäre besser. Niemand würde sich mit mir herumplagen, jedes Problem, welches ich verursache, wäre gelöst. Ein Schnitt, ein Sprung, ein Drink und alles wäre vorbei. Ich mache es jetzt gleich, oder doch erst morgen, noch einmal schlafen. Der süße Gedanke an einen schönen Traum, wegzukommen von dem schmerzenden Leben. Einfach davonschweben, ohne an die Realität zu denken.
Wieder wach, Viertel nach sieben. Aufstehen, Zähneputzen – ach kann man einmal weglassen - Haustür auf, Treppen hinunter. Frühstück, wozu essen? Heute Mittag, eine letzte Mahlzeit, bevor es am Abend mit mir zu Ende geht. Der Weg zur Metro, gleiche Gebäude, gleicher Geruch und gleiches Grau, wie jeher. Das Leben, nichts für mich. Stehen in der Metro, falsche Einstiegsstelle, so gut wie nie ein Sitzplatz. Raus, ab zur Arbeit ins Callcenter. Menschen, die anrufen, den Hörer am linken Ohr, mit den Augen auf dem Computer. Facebook, Twitter, 9Gag. Die Menschen reden einem das Gehirn aus dem Kopf.
„Ich kann nicht mehr“; „Ich halte es nicht mehr aus, will aber nicht sterben.“; „Ich bring mich jetzt um, wenn er nicht zu mir zurückkommt“. Dann macht es halt, tötet euch. Tötet euch alle. Das Leben birgt nichts außer Leid. Glück, nur die Illusion der Dummen. Am liebsten, wäre ich schon das Ich des heutigen Abends, das tote Ich. Heute Abend, wird das tägliche Leid, mein Unglück beendet. Ja heute Abend!
Moment, habe ich das gerade laut gesagt? Egal, ist ja ein anonymer Service. Nachfragen.
„Hallo, sind Sie noch da?“
Schluchzen am Ohr, schniefend kommt die Antwort.
„Ja, ich weiß einfach nicht mehr wohin? Können Sie mir nicht helfen? Ich brauch doch nur ein kleines Startbudget.“
Ja, für deine Fixerei du Bitch. Nicht laut sagen, nicht laut sagen.
„Tut mir leid, wir kennen uns leider nicht, sonst gerne. Fragen Sie doch einen Ihrer Freunde?“
„Ich hab doch niemanden, nur Sie, Sie netten Mann am Telefon, kommen Sie an den Bahnhof, nur fünfzig Euro. Ich mach auch alles, was Sie wollen. Nur eine Nacht mit Dach über dem Kopf.“
Ja genau, eher keine Nacht ohne Spritze im Arm.
„Tut mir ehrlich schrecklich leid, doch wir dürfen keinen persönlichen Kontakt mit unseren Anrufern aufbauen. Sorry.“
„Aber, ach was fick dich du Penn…“
Aufgelegt. Was fällt dieser Cracknutte denn ein? Niemand spricht auch nur für eine Minute so mit mir. Blöde Arbeit, blöde Menschen, blödes Leben. Noch dreißig Minuten bis zur Mittagspause. Hoffentlich kein weiterer Anruf.
Blick auf die Uhr. Noch zehn Minuten.
Das Telefon klingelt. Nein nicht jetzt, ich wollte doch noch zum warmen Buffet.
„Hallo, Telefonhilfe für Selbstmordgefährdete. Was ist Ihr Problem, wie kann ich Ihnen helfen?“
Jedes Mal den gleichen, schlechten festgeschriebenen Begrüßungssatz. Wie das nervt.
„Hallo, ehh, ist das hier die Selbstmordhilfszentrale?“
Nein, natürlich nicht, hier ist die Kundenzentrale von Ikea. Man, Sie hat doch die Nummer gewählt, abgetippt aus dem Internet oder den Plakaten, welche in der ganzen Stadt verteilt sind, außerdem wie hab ich mich gerade gemeldet? Leute gibt es, die sind dümmer als Gott erlaubt. „ Ja, Sie sind hier richtig. Welches Problem haben Sie? Außerdem schöne Stimme, wenn ich das anmerken darf.“
„Ehhh danke, ich, ich habe Angst mich selbst zu töten. Können Sie mir helfen? Bitte, ich weiß nicht weiter.“
Ganz einfach, bring dich nicht um.
„Was ist Ihr Problem, Sie brauchen keine Angst zu haben, alles wird gut.“
„Nein, ich…“.
Na toll, sie fängt an zu schluchzen. Kann das mal bitte jemand abstellen?
„Ich… ich, meine Kinder sie wurden weggebracht, ich weiß nicht wie ich, wie ich weiter machen soll? Sie sagen, ich bekomm meine Kinder nicht zurück, kann sie nicht mehr sehen. Warum soll ich noch leben?“
„Denken Sie doch an Ihre Kinder, sie brauchen Sie doch noch, suchen Sie sich einen Job und bekommen Sie ihr Leben unter Kontrolle.“
„Kann ich nicht, bin unfähig. Warum wurden sie mir genommen? Ich schlitz mich auf, hab mich schon geritzt, überall Blut, ich sag’s Ihnen. Mach, dass sie wieder zu mir kommen, oder... oder ich mach’s, ich töte mich und es ist eure Schuld.“
Oh Gott nein, das geht mir jetzt aber zu Herzen.
„Bleiben Sie ruhig, machen Sie nichts Unüberlegtes. Warum und von wem wurden Ihre Kinder weggenommen?“
„Na vom System, ich pass nicht rein, treiben wir sie raus, das denkt Ihr doch. Die Kinder kann man noch umpolen. Das System du Schwein, gehörst doch auch dazu. Ihr wollt mich tot sehen. Das System macht alles. Das System ist an allem schuld.“
Jetzt reicht’s, diese minderwertige Sau. Niemand würde es interessieren, wenn sie krepiert. Stiehlt mir meine Zeit und mein warmes Essen, die Kinder freuen sich dann sicher auch. Ein Blick über die Schulter, das Kontrollzentrum ist nicht besetzt, na klar ist ja gerade auch Mittagspause. Die Telefonate werden sowieso nicht aufgenommen und abgespeichert. Kostengründe. Ist mir aber eigentlich total recht.
„Fräulein, von welchem System reden Sie? Ich versuche Ihnen, nur zu helfen.“
„Genau, versuchst nur zu helfen, dann bring mir meine Kinder zurück.“
„Tut mir leid, das steht nicht in meiner Macht.“
„Ja klar, Ihr lacht doch über mich, wollt mich an den Rand der Verzweiflung bringen.“
Ja stimmt, lachen tu ich über dich armseliges Wesen, innerlich.
„Sie wollen sich also umbringen, weil Ihre Kinder vom Jugendamt abgeholt wurden?“
„Nein, von den Bullenschweinen.“
„Findest du es denn nicht berechtigt, wenn die Polizei selbst deine Kinder mitnimmt?“
„Wie bitte? Schiebst mir auch die Schuld in die Schuhe?“
Haha nein, du bist schuld an alldem, am besten du wärst tot. Noch ein Blick, immer noch keiner im Kontrollraum. Niemand hört mich reden, niemand außer diese Schlampe.
„Ich schiebe dir gar nichts zu, du bist ganz einfach schuld, schuld an dem Leiden deiner Kinder, schuld das sie jetzt, Gott sei dank an einem besseren Ort sind.“
Und Gott verdammt daran schuld, dass ich nicht zum Buffet kann.
„Sollten, sollten Sie nicht helfen, mir helfen?“
„Ja, normal helfe ich auch, aber eine Ausnahme für das Wohl der Gesellschaft kann man doch mal machen.“
Der hat gesessen.
„Hör auf, ich mach’s, jetzt sofort, also mach deinen Job richtig oder willst du dafür belangt werden, dass du mich auf dem Gewissen hast? Willst du das?“
„Belangen tut mich keiner, die ganze Abteilung lacht hier mit mir über dich, ja bei Gott sogar mein prüder Boss kann sich ein dreckiges Grinsen nicht verkneifen. Dazu wette ich, würden deine Kinder sicherlich mit uns lachen.“
Hoffentlich war das jetzt nicht zu viel des Guten und sie bleibt am Telefon. Es ist ruhig, aber da sind noch Geräusche.
„Ach halt die Fresse, weißt gar nicht wie es sich anfühlt, das ganze hier durchzumachen.“
Gott sei Dank, sie ist noch dran.
„Ja, das stimmt. So erbärmlich kann sich ein normaler Mensch auch nicht vorkommen. So tu nun bitte jedem einen Gefallen und leg auf und verschwinde, am besten für immer.“
„Hör auf oder ich mach’s!“
„Dann tu es! Schrei dabei, keiner wird dir helfen wollen.“
„Ich hab mich schon geschnitten, noch ein Wort und dann kommt der Schnitt, der mich töten wird, dann bist du dafür verantwortlich. Kannst du Arsch das mit dir ins Reine bringen?“
Na klar, kein Problem, ist doch spaßig.
„Damit haben wir hier alle kein Problem. Also auf einen schönen Tod, Fräulein.“
„Jetzt ist es aus, ich tue es.“
Na toll, schluchzen, nichts als schluchzen. Hab doch Eier und schneide deinen Arm auf, von mir aus auch die Kehle. Aber bitte mach es endlich, ich habe Hunger und das Buffet hat nur noch knappe 20 Minuten auf.
„Beeil dich besser, ich hab echte Probleme hier.“
Sie sagt nichts mehr, hat sie aufgelegt? Nein, das Signal ist noch da.
„Hallo, ist da noch jemand?“
Ahh ich höre röcheln, schluchzen, weinen. Klingt nach Schmerzen und dem Vorübergehen des Lebens. Endlich, wurde aber auch langsam mal Zeit. Nur ein Problem hat sie hinterlassen, jetzt muss ich auflegen, und das wird in der Zentrale hinterlegt, da kommen wieder Fragen auf. Immer der gleiche Scheiß, dafür noch schnell zum Buffet! Klack und aufgelegt.
War ja klar, ohne Umschweife ins Kontrollbüro. Keine Zeit, sich nach dem Essen gemütlich an den Schreibtisch zu setzen und sich für die gelungene Arbeit auszuruhen.
„Habe gesehen, Sie haben den letzten Anruf selber beendet. Ging über fünfzehn Minuten, klingt nicht nach einem Scherzanruf.“
„Ja, hab ich anfangs auch gedacht. Junges Mädchen, schätze so um die fünfzehn, sechzehn. Ruft verheult an, klang zu mindestens so, erzählt von ihrem Freund, der mit bester Freundin fremdgegangen ist und anderes Teenagerzeugs, kennen Sie ja. Dann normal angefangen, nach Vorschrift, ganz professionell, wie immer. Doch am Ende konnte sie ihr Lachen nicht mehr unterdrücken und irgendwelche anderen haben ins Telefon geschrien, war dann natürlich genervt. Haben mich auch noch beleidigt, hatte keinen Bock mehr darauf und klack aufgelegt. Können Sie mich verstehen?“
„Ja klar, kein Ding gehen Sie wieder an Ihren Platz.“
Den ganzen Nachmittag nur untätig herumgesessen. Was bringt es bloß, hier zu sein? Zehn Anrufe, neun Scherzanrufe. Ein normaler war dran, aber keine akute Gefahr. Nicht mehr lang, dann Feierabend. Auf dem Rückweg, was vom Asiaten an der dritten Haltestelle mitnehmen. Hat gute Nudeln, ist aber nicht der günstigste.
Wieder auf dem Rückweg. Top Nudeln. Hätte zwei Boxen nehmen sollen.
Aufzug noch immer kaputt, dann die sieben Stockwerke zu Fuß. Atem weg, keuchend und mit zittrigen Händen die Tür aufschließen. Tür zu, abschließen und die zwei Schlösser wieder anlegen, man weiß ja nie. So daheim. Wollte ich heute noch was tun? Fernseher an. Noch ein bisschen in Aurels Selbstbetrachtungen blättern. Ja, das Leben bietet nicht viel. Warum lebe ich eigentlich? Genau! Heute sollte es doch mit mir zu Ende gehen. Naja, ein Tag mehr oder weniger, ist doch alles egal. Morgen auch schon Freitag. Gut dann Wochenende, vielleicht ändert sich mein Leben ja urplötzlich. Kann den Tod ja noch auf Sonntagabend verschieben, oder besser Montagmorgen, liegt in meiner Hand. So dann ab ins goldene Reich der Träume. Verdammt! Schon wieder vergessen ins Bad zugehen. Egal, stehe in neun Stunden wieder auf. Das macht doch nichts.
Dummer Wecker, dummer Ton, brauche dringend einen neuen. Wieso stehe ich eigentlich auf? Nur um mit gestrandeten Seelen zu sprechen? Ohne die, wäre ich viel besser dran. Meine Metro kommt um 8:12 Uhr, zur Station brauch ich knapp zehn Minuten. Kann damit noch ne halbe Stunde bis drei Viertel schlafen. Perfekt.
Schweißgebadet in die Metro, warum waren auch drei Leute vor mir am dummen Zeitungsstand? Immerhin die Metro noch bekommen. Heute sogar mit Sitzplatz. Zeitung auf, übliche Themen. IS in Syrien, Griechenland – Schuldenproblem spitzt sich zu, Konflikt in der Ukraine, immer mehr Asylanten in Deutschland.
Doch was ist das? Kleiner Bericht auf Seite 14 oben links, eine achtel Seite schmal, eine halbe lang. Überschrift: Familiendrama in Neukölln. Frau verliert Kinder an Sozialarbeiter, daraufhin Selbstmord an Münztelefon.
War anscheinend ziemlich blutig. Sogar ein Bild dabei. Die dumme Kuh ist hässlicher, als ich dachte. Kommt bestimmt von den ganzen Drogen.
Fast hätte ich auch noch wegen der meine Station verpasst. Zeitung zu. Schnell raus zur Arbeit. Manchmal ist so ein alltäglicher Trott gar nicht so schlimm.
Mit einem Lächeln bewegt er seinen unhygienischen, überfetteten Körper zum Callcenter. Den ganzen Tag übersteht er, ohne einmal an den Tod gedacht zu haben, denn seine Gelüste sind für eine Zeit lang befriedigt.