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Selbsthilfe
Sie verbrachten den Tag mit allerlei angenehmen Dingen. Nach einem ausgiebigen Frühstück auf der Terrasse liefen sie zum See hinunter und genossen die angenehm wärmende Aprilsonne. Zum Baden war es noch zu kalt, aber das empfanden die drei als nicht besonders störend. Gerhard beschäftigte sich mit seinen Wohnmobilkatalogen, Birgit lag – alle Viere von sich gestreckt - faul auf ihrem Badetuch und Katja las in dem - wie sie später feststellte – enttäuschenden Roman „Atlantis“ von Stephen King.
Sie fuhren wie jedes Jahr für vier Tage nach B., heuer nur zu dritt, da Katja`s Freund Chris auf einem Seminar referierte. Katja wusste, dass ihm dieser Umstand nicht sonderlich ungelegen kam. Zwar tat es ihm leid, dass er an der alljährlichen Weinverkostung in B. nicht teilnehmen konnte – andererseits bekam er leicht Sodbrennen, auch wenn es sich um qualitativ hochwertige Weine handelte, wie es im Weinbaugebiet B. der Fall war.
Etwas außerhalb des Ortes gab es volkstümliche Denkmalkeller, in denen für die Gegend charakteristische Rebsorten verkostet wurden. Anschließend saß man auf grob geschnitzten Holzbänken in den Kellergewölben und kam in den Genuss von Volkstänzen – die Tänzerinnen und Tänzer in prachtvolle Bauerntrachten gekleidet - und Zigeunermusik. Dieses Zusammenspiel gab dem Ambiente eine besondere Note.
Abgesehen davon war es eine Freude, in den Weinbergen herumzuwandern und die Aussicht über den an den Ort angrenzenden See zu genießen.
Direkt im Kern von B. ging es lebhafter zu. Der Ort bestand aus einigen Weinbuden, einem weitläufigen Park und Ständen, die Korbwaren, T-Shirts und anderen touristischen Schnick-Schnack anboten. Die Häuser der Weinbauern, die Zimmer vermieteten, lagen etwas außerhalb.
Gegen Abend rafften Gerhard, Birgit und Katja ihr Strandzeug zusammen und schlenderten durch den Ort. Er war immer wieder erstaunlich. Die Schiffe spuckten ganze Trauben von Leuten jeden Alters und Geschlechts aus, die in Scharen zu den Weinbuden zogen, sich betranken und dann jauchzend und grölend zur Schiffsanlegestelle zurückkehrten. Wie gesagt – diese Haltlosigkeit bekam man weder in den Denkmalkellern noch in den Weinbergen zu Gesicht. Es war ein spektakulärer Anblick. Jeder Soziologe hätte seine Freude daran gehabt.
Sie verbrachten einen angenehmen und lustigen Abend. Alberten herum, hatten ihren Spaß und machten Pläne für den morgigen Tag. Katja fiel auf, dass ein Typ vom Nebentisch ständig herüberstarrte und begann sich zu ärgern. Dieser Mensch hatte einen unangenehmen – und wie ihr schien – lauernden Gesichtsausdruck. Abgesehen davon hasste sie es, so frech angeglotzt zu werden. Es war ihr schlicht und einfach unangenehm. Sie warf dem unsympatischen jungen Kerl einen verächtlichen Blick zu und als das nicht half, schlug sie ihren Gefährten einen Lokalwechsel vor. Dieser Vorschlag wurde ausgeführt und Katja vergaß das dämliche Gegrinse.
Es war weit nach Mitternacht und die im Freien gelegene Tanzfläche war noch immer voller Leute. Es war ein vergnüglicher Abend gewesen, aber Katja war müde und die vor Stunden genossenen kalten Grammeln lagen ihr schwer im Magen. Gerhard und Birgit tanzten selbstvergessen miteinander und sahen sich verliebt an. Sie freute sich, dass ihr Bruder und ihre beste Freundin sich nach über zehn Jahren Ehe noch immer so anschauten. Sie dachte an Chris und begann ihn zu vermissen.
Katja stand auf, bahnte sich den Weg durch das tanzende Menschenknäuel und tippte ihrem Bruder leicht auf die Schulter. „Ich geh zum Quartier“, sagte sie, „ich bin schon so müde, dass mir gleich die Augen zufallen“. „Nichts da!“, erwiderte Gerhard, „wir sind gleich soweit. Wart noch ein bisschen.“ „Ihr tanzt gerade so nett“, sagte Katja augenzwinkernd, „und ihr wollt noch bleiben, dass sehe ich euch doch an. Ich will nicht, dass ihr wegen mir heimgeht.“ „Sei nicht komisch“, mischte sich Birgit in das Gespräch, „wart halt noch die paar Minuten!“
Katja setzte sich also wieder hin, rauchte noch eine Zigarette und schlief fast ein. Als sie es nicht mehr aushielt, stand sie auf und ging ohne auf die Freundin und ihren Bruder zu warten Richtung Quartier. Die anderen Weinbuden hatten schon geschlossen und Katja genoss trotz ihrer Müdigkeit die angenehme Stille ringsum. Sie nahm eine Abkürzung durch den – schwach, aber immerhin beleuchteten - Park.
Katja hörte ihn nicht, sah ihn auch nicht. Zwei Arme umklammerten sie von hinten und Katja wurde herumgewirbelt. Perplex erkannte sie das frettchenhafte Gesicht des Typen, der sie vorhin so aufdringlich angestarrt hatte. Er schnaufte und ein Schwall - für Katja unverständliche Wörter - quollen aus seinem Mund. Sie riss sich los und rannte blindlings drauflos, den Typen dicht auf den Fersen. Er erwischte schließlich die Träger ihres Rucksackes und Katja, ins Straucheln geratend, fiel hin.
Ihre Gedanken fuhren Karussell. Solche Dinge las man in der Zeitung, oder man sah im Boulevard-Fernsehen Berichte darüber. Sie erschreckten einen kurzfristig und dann vergaß man sie einfach wieder. Es war ein unumstößliches Gesetz, dass einem selbst nichts passieren konnte. Das war einfach unmöglich. So etwas gab es nicht, konnte es nicht geben.
Die nächsten Momente nahm Katja nur verschwommen wahr. Sie kämpften miteinander. Katja war nicht besonders groß und ziemlich dünn, sie kam nicht mehr vom Boden hoch. Der Typ knallte ihr eine runter und Katja`s Brille flog in hohem Bogen ins Gras. Sie blieb einige Momente benommen liegen – nicht richtig weggetreten, aber doch ohne sich weiter zu wehren. Sie starrte in den Nachthimmel empor und konnte noch immer nicht begreifen was mit ihr passierte. Etwas Hartes in ihrem Rucksack bohrte sich schmerzhaft in ihre Wirbelsäule, als sich das Gewicht des Mannes auf sie legte. Sie öffnete den Mund um zu schreien und brachte keinen Laut heraus.
Ihr Angreifer hielt ihr mit einer Hand die Handgelenke über den Kopf zusammen, die andere tastete hektisch nach ihren Jeans. Seine Bemühungen blieben erfolglos, er ließ Katja letzt endlich los, richtete sich auf, kniete zwischen ihren Beinen, versuchte ihre Hose zu öffnen, gewaltsam mit beiden Händen am Stoff zerrend, vor sich hinfluchend.
In Katja`s schmerzenden Kopf nahmen zwei furchtbare Worte Gestalt an. Diese Wörter lauteten „Vergewaltigung“ und „Krankheit“ - AIDS zum Beispiel. Sie wurde von einer unglaublichen Wut erfasst, die alles andere überdeckte. Etwas Grauenhaftes würde passieren, würde jetzt passieren und es war kein schlechter Film sondern Realität – wenn sie nichts unternahm. „Lieber sterben!“ hämmerte es in ihrem Kopf und ohne dass es ihr richtig bewusst wurde, krampften sich ihre Finger zu einer Faust zusammen, gleichzeitig schoss ihr Oberkörper hoch und mit voller Wucht traf Katja das verzerrte Gesicht über ihr. Sie hörte ein ekelhaftes Knirschen. Ihr Angreifer fiel wie ein gefällter Baum hinten über und landete auf dem Rücken. Katja kam auf die Beine und rannte.
Sie fand sich am See wieder, hinter einer hölzernen Badehütte, angespannt in die Dunkelheit lauschend. Als Katja – nach Stunden wie es ihr schien – endlich klar wurde, dass sie sich wirklich und wahrhaftig in Sicherheit gebracht hatte, begann ihr Körper unkontrolliert zu zittern, ihre Zähne klapperten wild aufeinander. Gleichzeitig wurde sie von einem unbändigen Triumphgefühl erfasst. Sie war sich ziemlich sicher, den Typen bewusstlos geschlagen zu haben – die Nase hatte sie ihm ganz sicher gebrochen. Was für eine kranke Welt. Katja presste beide Hände gegen ihr Kiefer um ihr Zähneklappern zu dämpfen, das ihr viel zu laut erschien.
Das Verlangen nach einer Zigarette war unerträglich – aber sie wagte dennoch nicht, sich eine anzustecken, trotz des jetzt vorherrschenden Gefühls von Sicherheit. Sie glaubte, verrückt zu werden, wie konnte sie in so einer Situation an Nikotin denken?
Katja blieb sitzen, versuchte sich zu beruhigen - was ihr schließlich mehr oder weniger gelang - und überlegte die weitere Vorgangsweise. Ohne ihre Brille war sie schon tagsüber blind wie ein Maulwurf, in der Nacht fand sie sich überhaupt nicht zurecht – sie würde nie das richtige Haus in dem sie untergebracht waren, finden, sahen diese für sie doch alle gleich aus – mit ihrem Orientierungssinn war es nicht weit her. Am liebsten hätte sie sich in einem Gebüsch verkrochen, aber das konnte sie sich abschminken. Sie musste zum Quartier, Gerhard und Birgit würden sonst vor Sorge vergehen. Aber ohne Sehhilfe würde sie sich nie aus ihrem Versteck wagen – vielleicht schlich dieser Verrückte ja doch noch immer herum. Sie bezweifelte es, aber man konnte nie wissen.
Sie zitterte wieder, aber nicht vor Angst sondern vor Kälte.
Ihr Rucksack. Natürlich, darin befanden sich ihre Kontaktlinsen, die sie vorsichtshalber mit an den Strand genommen hatte – für den Fall, dass sie doch ins Wasser ging.
Das Einsetzen der Linsen in fast völliger Dunkelheit entpuppte sich als schwieriges Unterfangen. Katja stellte sich im Geiste einen Spiegel vor und so gelang es ihr, die erste Linse einzusetzen. Die zweite Linse rutschte ihr vom Mittelfinger. Es war ihr egal, finanzielle Angelegenheiten waren jetzt ihr geringstes Problem. Katja sah ganz gut, wenn sie das schlechte Auge zukniff. Sie spähte vorsichtig um die Wand des Badehauses und versuchte sich zu orientieren. Erleichtert stellte Katja fest, bei ihrer panischen Flucht die richtige Richtung gewählt zu haben. Sie befand sich an dem ihr wohlbekannten Strand, das Quartier war schätzungsweise fünf Minuten entfernt.
Katja huschte auf die von Straßenlaternen beleuchtete Straße, und verfiel in einen leichten Laufschritt – sich immer wieder nach allen Seiten drehend. Als sie endlich an der richtigen Gartentür angelangt war, gewahrte sie Gerhard und Birgit, die auf dem Stiegen-Aufgang saßen und ihr mit erleichterten Gesichtern entgegensahen. Sie liefen auf sie zu, schoben Katja in den Vorgarten, sprachen wütend und vorwurfsvoll auf sie ein. Als Katja die hinter ihr abgeschlossene Gartentür registrierte, kippte sie weg, wurde von Gerhard und Birgit aufgefangen, ihr Bewusstsein schaltete auf Leerlauf.
Als Katja später im Bett lag und über den glimpflichen Ausgang der ganzen Angelegenheit nachdachte, drängten sich immer wieder wüste Gedanken in ihr Bewusstsein. Hätte sie den entscheidenden Schlag auch anbringen können, wenn sie keine Latzhose angehabt hätte? Was, wenn der Typ mit einer Waffe unterwegs gewesen wäre? Wieso hatte sie nicht schreien können? Fragen, auf die sie – dem Himmel sei Dank – keine Antwort fand.
Natürlich fuhren sie am nächsten Tag heim.. Gerhard suchte den Park nach Katja`s Brille ab, aber die Suche verlief im Sand. Nichts erinnerte an diesem sonnigen Vormittag an die Szene die sich in der Nacht abgespielt hatte. Katja machte keine Anzeige gegen unbekannt, für sie war die Sache gegessen. Zuhause hätte sie nicht gezögert, aber dies war ein fremdes Land – das war für sie ausschlaggebend. Erst viel später wurde ihr bewusst, dass sie egoistisch gehandelt hatte – was, wenn dieser Typ andere Überfälle beging und sie diese durch eine Anzeige verhindern hätte können, weil die ansässige Polizei eventuell den Park überwacht hätte? Aber – wie gesagt – diese Gedanken kamen ihr erst später.
Außer materiellen Dingen hatte sie nichts eingebüßt – und diese Dinge ließen sich ersetzen. Der hässliche Bluterguss im Gesicht konnte vermutlich mit reichlich Make-up leidlich überdeckt werden und die aufgeschürften Handflächen würden rasch abheilen. Das Einzige was wirklich ziemlich wehtat, waren ihre schmerzenden Finger, aber auch das würde vorübergehen. Katja grinste zufrieden in dem Bewusstsein, dem Typen mehr zugesetzt zu haben als er ihr. Sie hätte niemals daran gedacht, dass sich ihr Wissen, wie man eine richtige Faust zu machen hatte, einmal als nützlich erweisen würde. Bei der Wucht mit der sie zugeschlagen hatte, hätte sie sich sonst alle Finger gebrochen.
In ihrer Fantasie sieht Katja jenen Mann Zeit seines Lebens mit einer zermantschten Nase herumlaufen.
Sie unternimmt seit diesem "Erlebnis" keine nächtlichen Abkürzungen durch Grünanlagen, obwohl sie weiterhin der Meinung ist, dass dies in einer halbwegs zivilisierten Welt möglich sein sollte.
Theoretisch betrachtet.