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Selbstauflösung

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13.07.2001
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Selbstauflösung

Ich beginne, mich aufzulösen.
Vor wenigen Minuten hat der Prozess eingesetzt und er wird nur noch wenige Minuten andauern. Solange ich noch bin. Dann werde ich gewesen sein. Dann wird es aufgehoben sein, dieses barbarische Urteil, von grausamen Göttern über mich verhängt. Wenn das Fleisch vergangen ist, wenn es sich wieder in seine Bestandteile aufgelöst hat, dann werde ich frei sein. Schon kann ich den Tisch sehen, wenn ich auf meine Hand schaue. Zwar nur verschwommen, wie durch eine Milchglasscheibe, aber ich kann ihn sehen. Und kaum noch fühlen. Jetzt, in diesem Zustand, kommt mir mein Körper noch fremder und unrealer vor, als er es bisher schon tat. Als mein Körper noch mein Sein bestimmte.
Es mussten so viele Jahre ins Land gehen bis zu diesem Augenblick. Jahre der Verzweiflung, der Erniedrigung, der Schande. Der Erkenntnis. Für diese Augenblicke der Erkenntnis hat sich das Leben gelohnt. Für den Augenblick meines Todes. Vor 6 Stunden habe ich beschlossen, diese Welt hinter mir zu lassen. Ich war soweit. Und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich diese Zeit, die ich auf Erden weilen musste, weise genutzt habe. Ich habe nachgedacht. Ich wüsste von niemandem sonst, der sein Leben einsetzt, um zu denken. Momente vielleicht, vielleicht sogar einige dieser Momente, um über etwas wirklich wichtiges nachzudenken. Aber das ganze Leben? Leider habe ich nie so jemanden getroffen. Ich habe aber auch nur kurz gesucht.. Mein Hauptinteresse galt nur mir selbst. Nur so konnte ich zu diesem Punkt gelangen, an dem ich nun stehe.
Jetzt kann ich schon spüren, wie meine Kleidungsstücke einsinken. Wie sie den Platz erobern, den vormals mein Körper innehatte. Millimeter um Millimeter schieben sie sich voran, bis sie schließlich in sich zusammenfalle. Das allerdings werde ich nicht mehr erleben. Vielleicht den kurzen Augenblick, den sie in der Luft hängen, bar der Stütze, die sie einst hielt. Doch den Moment, wenn mein Hemd auf den Sessel niederfällt, die Hose auf den Boden und die leeren Schuhe hinunterrutscht, den werde ich wohl nicht mehr erleben.
Bilder vergangener Tage ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Einer wie der andere. Im Kern zumindest. Ich schaue nicht länger hin. Wozu auch, ich habe dieses Leben schließlich gelebt. Jede Sekunde davon. Jeden Atemzug. Wieso soll ich es mir nun noch einmal anschauen? Ich schaue lieber auf die wenigen Dinge, die ich missen werde. Die ich nicht mitnehmen kann, dahin, wo ich gehe. Ich habe meine Schätze vor mir auf dem Tisch niedergelegt. Auf ihnen soll der letzte Blick aus meinen Augen ruhen. Es sind allesamt persönliche Gegenstände, ohne objektiven Wert. Sachen, die sich in den Jahren angesammelt haben. Zur Hälfte kleine Geschenke. Das ist das Beste an ihnen. Ihr Wert liegt in meinen Erinnerungen. Sie werden bei mir sein, wenn ich mich erinnere.
Nun dürfte es in der Tat nicht mehr lange dauern. Nicht einmal meinen Herzschlag kann ich mehr spüren. Das dumpfe Pochen in den Ohren, welches mich mein ganzes Leben unmerklich begleitet hat, ist verschwunden. Hat sich aufgelöst. Erst jetzt, in seiner Abwesenheit, bemerke ich dessen Präsenz. Der leichte Druck, den das Blut immer von innen auf meinen Körper ausgeübt hatte. Der Rhythmus des Fließens, der mir den Takt für das Leben vorgab. Verschwunden. Ich wusste, dass ich in den letzten Sekunden wehmütig werden würde. So sehr ich das Leben verachtet habe, das Loslassen fällt doch ungeheuer schwer. Warum ist das so?
Ich hebe Vorbereitungen getroffen. Ich will erhaben, aufgerichtet, diese Welt verlassen. Nicht verbittert, nicht traurig. Und schon gar nicht unentschlossen.
So drücke ich mit der letzten mir verbleibenden Kraft die Play-Taste der Fernbedienung in meiner Hand. Es gibt weniges von dieser Welt, das diese überwindet, Großes ahnen lässt. Das die Substanz berührt und sie auf ihre Grenzen verweißt.
Musik. Musik durchbricht Raum und Zeit. Körper und Form. Musik ist in Melodie gefasster Geist. Für sie gibt es kein Leben, kein Sterben. Ich habe mir vorgenommen, diese Welt stolz zu verlassen. Ich will, dass mich ein Hauch Göttlichkeit umweht, wenn ich gehe. Ich habe die Musik dazu. Machtvolle, erhabene Klänge. Voll Wut, voll Hass, voll Raserei. Ohne animalisch zu werden. Wie die Laune eines gewaltigen Gottes. Der verachtet. Der so stark verachtet, dass es ihn nicht mehr tangiert, sodass er nicht von sich selbst gefangen genommen wird, sondern beständig erhebt. Und ich werde Teil davon, sobald die ersten Noten Emperors ertönen. Zwischen der Musik und mir flicht sich ein Band ausdruckslosem Verstehens. Überbegrifflich. Übermenschlich.
So verlasse ich das Sein, diese erdgebundene Existenz, die in erster Linie Mangel bedeutet. Diesmal auf ewig. Ich verlasse mein Heim, mein Land, diese Erde. Ich verlasse meinen Körper. Nur noch in meinem Geiste hallt die übermächtige Musik. Weißt mir den Weg, den ich zu beschreiten habe und nun, endlich, auch zu beschreiten vermag. In die Ewigkeit.

ENDE

[Beitrag editiert von: Markus Boehme am 07.01.2002 um 00:07]

 

So hallo,

ich muß sagen, die Geschichte an sich gefällt mir nicht sehr, da sie sehr eintönig ist. Alles dreht sich nur um das Eine. Dafür ist die Ausdrucksweise um so besser.
Die Spreche, die du wählst klingt irgenwie pompös, das gefällt mir. Trotzdem fällt es einem schwer zu ende zu lesen.


Gruss Franco

 

Da muss ich meinem Vorredner recht geben: Es fällt ziemlich schwer, zu Ende zu lesen. Ich musste bestimmte Abschnitte zwei- oder dreimal lesen, weil ich zwischendurch die einzelnen Worte zwar gelesen habe, sie aber nicht so richtig aufnehmen konnte (vielleicht liegts aber auch daran, dass ich in der letzten Zeit recht wenig Schlaf bekommen habe... :sleep: ). Aber auch, wenn er sich ziemlich in die Länge zieht, gefällt mir der Text, insb. sein Thema.
Der letzte Abschnitt ist dir sehr gelungen.

Schönen Abend noch,
das deprikind

 

Hi Markus,

also ich hatte weniger Probleme damit, diese Geschichte zu Ende zu lesen, im Gegenteil, ich habe die ganze Zeit auf etwas gewartet: auf das Warum. Warum löst sich Deine Figur auf? Ich denke, dass damit eine Form des Todes gemeint ist, aber die betrifft nur den Körper, nur dass der im Leben nicht so schnell vergeht, so dass ich nicht glauben kann, dass der Körper gemeint ist, Du sprichst zwar davon, dass sich der Körper auflöst, aber ich denke, dies ist wohl eher als Metapher gemeint. Aber was dann? Die Figur spricht von seinem Leben, jedoch nur ansatzweise, kein Hinweis auf das in ihm, was nun stirbt. Der Geist/ die Seele bleibt in deiner Geschichte erhalten.
Also was ist Deiner Meinung nach nun vergänglich.

Außerdem bleibt eine Frage offen: wieso will diese Figur gehen. Ich bin nicht überzeugt davon, dass sie gehen will, weil niemand da ist, der nachdenkt, denn dann hätte sie nämlich versucht, diese auch zu finden. Ich glaube auch nicht, dass sie das tut, weil sie von anderen nicht gemocht oder nicht ernst genommen wird, dagegen kann man etwas tun oder man kann lernen, sich von solchem Gerede nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Es gibt keinen wirklichen Grund, warum eine so "weise" (wie Du es beschreibst) Person, das Leben aufgeben sollte, wenn sie nämlich wirklich weise wäre, würde sie erkennen, dass in den wenigen Jahren, in denen wir auf dieser Erde verweilen, noch eine ganze Menge ist, was sie erfahren kann únd zwar egal, wieviel sie schon erlebt hat.

Was mir allerdings sehr gut gefallen hat, ist wie der Vorgang der Auflösung an sich beschrieben wurde.

Die Geschichte ist zwar interessant, aber ich finde, dass ihr ein für dieses Thema nötiger Tiefgang oder eine nötige Ausführlichkeit fehlt, um sie vertehen zu können.

 

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