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Selbst und ich
Ein Fleck schleicht da flirrend und wabernd am Wüstenhorizont entlang. Von näherem betrachtet wird jedoch offenbar, dass es sich um zwei handelt. Ich, so heißt der eine, hüpft um den anderen herum wie ein Kind und redet auf ihn ein, bekommt aber ein stetig mildes Lächeln zur Antwort.
»Ist das hier schon die Wüste Zenhara?«, fragt Ich nun schon zum dritten Mal. Und zum dritten Mal schweigt Selbst; insgeheim beginnt sein Atem wieder bei eins. »Und meinst du nicht auch«, versucht Ich sein Gespräch aufrechtzuerhalten, »dass wir hier doch ziemlich einsam sind. Kein anderer Mensch weit und breit, niemand ist anwesend, deshalb sind wir es auch nicht und laufen Gefahr, uns selbst zu vergessen, nein, das wär schrecklich, das darf nicht passieren, das wäre so, als wenn man morgens vor den Spiegel träte, dahinter aber niemand ...«
Das Alleinsein düngt den Nährboden wahrer Gemeinschaft, denkt Selbst bei sich, außerdem bekommt Ich womöglich einen trockenen Mund und ihm klebt die Zunge am Gaumen. Dann kann Selbst in Ruhe seine Atemzüge zählen.
Gedanken.
»... und überhaupt: Ich finde, die Sonne könnte eine Brille tragen, wozu gibt es Sonnenbrillen sonst, ich meine, sie verursacht doch das viele Licht, also wirklich, das ist nicht auszuhalten, das muss sich ändern ...«
Selbst lächelt. Meist ist Ich ein recht unterhaltsames Kerlchen. Gar niedlich, wie es trotz der Hitze und des pulverigen Sandes um Selbst alleine ringeltanzt, eifrig dabei zu überzeugen, was alles nicht stimme auf ihrem Weg zum vollkommenen Glück.
»... aber was grinst du so dämlich – selbst Buddha, auf den du ja so viel hältst, hat das für einen Augenblick vergessen, wenn ihn bei der ganzen Sitzerei ein Moskito stach, okay, ich sehe schon, du nimmst mich gar nicht mehr für voll, ja, ja, grinse nur immerfort, du wirst sehen, fändest die Brunnen der Ehre nie im Leben ohne mich, die finde ich allein dank meiner empfindlichen Sinnesinstrument– huch, Hilfe, was ist das?!« Ein kleiner Käfer ist zwischen Ichs Füßen hindurch gekrabbelt und hat sich, kaum aufgetaucht, wieder in den Sand vergraben.
Da kichert Selbst vergnügt. »Hm«, sagt es, »das könnte ein Satzpunkt sein.«
Bald nahe genug, dass es keine Fata Morgana mehr sein kann: die Brunnen der Ehre. »Vielen Dank«, sagt Selbst und verbeugt sich leicht vor seinem Gefährten.
»Das ist doch eine Fata Morgana«, sagt Ich mit einem irritierten inneren Blick auf seine Instrumente, »oder hast du schon mal Steinbrunnen in einer Wüste gesehen, in der Tat solche mit Seilscheibe wie aus altertümlichen Dörfern?«
Sie schreiten an die Brunnen heran. Ich ergreift verschämt das Seil und holt es ein. Doch es braucht zu wenig Mühe – nur das ausgefranste Ende des Seils kommt ans Licht.
»So einfach geht das wohl nicht«, lacht Selbst und hebt seines aus der Rille. »Hier dran scheint etwas zu hängen ...« Selbst holt einige Ellen ein und lässt sie wieder fallen. Neigt das Ohr zum Brunnenschacht und vernimmt, wie unten etwas dumpf auf den Boden prallt.
»Dieser Brunnen hat einen Eimer, doch kein Wasser. Und deiner?«
Ich schaut in den Brunnen und schüttelt den Kopf. »Meiner hat auch kein Wasser.«
»Merkwürdig, dort unten schimmert Licht. Warte hier oben.« Selbst schwingt die Beine über den Brunnenrand und lässt sich am Seil den Schacht hinunter.
Kaum hat sich der Schatten über seinem Haupt geschlossen, steigt ihm Ich hinterher. »Los, weiter!«, drängt es Selbst, das innegehalten hat und geduldig lächelt. Und gleich wieder bei eins beginnt mit dem Zählen seiner Atemzüge. Der Holzbalken über ihnen ächzt. Selbst rührt sich nicht. Ich schwindet die Kraft, ihm bleibt nichts anderes übrig, als wieder hinauszuklettern.
»Unser Retter! Unser Retter ist da, unser Mönch und Asket deluxe«, empfangen Selbst Gesänge von weiter unten. »Wir verehren dich, wir preisen dich, erleuchte uns mit deinem Gleichmut.« Selbst ist am Boden angelangt. Er besteht aus Morast, eine kleine Pfütze ist noch nicht ganz versickert. »Errette uns, o nähre uns mit deiner Weisheit«, kommen säuselnd barbusige Sirenen von überall herangeschwirrt. Eine Sorge liegt Selbst zu Füßen.
»Ich, warte da oben, ja?«, ruft Selbst empor, aber bekommt keine Antwort.
Und tatsächlich zwängt sich ein Lichtschein durch den Spalt einer angelehnten Tür.
»Eine Wand mit einer Tür in einem Grundwasserreservoir, hm«, flattert Selbst durch den Kopf. Es drückt sie sanft auf und findet sich in einer Oase wieder. »Oase zur Ehre des Gleichmuts, der Achtsamkeit und des wahren Mitleids« lautet ein Schild an der Bar, die inmitten eines von Palmen gesäumten Beetes frisch erblühender Blumen prangt. Auf den Regalen steht eine Vielzahl von Flaschen aus aller Herren Ländern aufgereiht.
Der Barkeeper trocknet gelangweilt ein Glas ab. Selbst reicht den Eimer über die Theke. »Bitte, hätten Sie Wasser für zwei Durstige?«
Der Wirt blickt verwundert und weist mit ausladender Geste auf die vielen schmackhaften Getränke hinter sich. Selbst bewegt lächelnd den Kopf nach links und nach rechts, bekommt schließlich unverstanden, doch für einen umso größeren Dank einen Eimer voll klaren Wassers zurück.
»Zieh bitte!«, ruft Selbst hinauf, die Brunnenwände spielen einander das Echo zu. Ich ist doch nicht – »Ziehst du?« ... Selbst steigt behutsam auf den Rand des festgebundenen Eimers und klammert sich darüber am Seil fest. »Danke für den Gesang, er ist schön. Oh, und schön seid ihr auch«, sagt Selbst zum Abschied von den Sirenen und zieht sich empor.
Den wirklichen Himmel über sich, steigt Selbst schnaufend über den Brunnenrand. Es verwundet sich die Hände dabei, mit letzter Kraft das gespannte Seil in die Scheibenrille zu zwingen. Der Eimer scheint das Gewicht einer randvollen Regentonne zu besitzen, doch mithilfe eines stillen Lachens gelingt es Selbst, ihn zu heben. Sogleich trinkt es in genussvollen Zügen die Hälfte aus.
Dann geht es erfrischt zum anderen Brunnen hinüber.
»Ich, bist du da unten?« Wie ein Herbstblatt taumelt die Frage in den Brunnen hinab.
»Wie? Ja ... ... ... ja, und ich ... bleibe hier unten, es ist schön hier ... schön kühl und, und Sex gibt es hier auch ...«, blubbert und gluckert und hickst die Antwort herauf.
»Lass ruhig los, das sind nur Vorstellungen.«
... ... ... »Aber sie brauchen mich!«
»Die Vorstellungen brauchen dich?«
... ... ... »Ich brauche sie auch.«
»Komm doch herauf.«
... ... ... ... ... »Nein!« Ichs ertrinkende Stimme ist plötzlich leiser, entfernt sich. »Komm du doch herunter!«
»Hast du dort unten Wasser?«
... ... ... ... ... ... ... »Ich weiß nicht, nein ... hier ist alles duster.«
Selbst lichtet abermals das Seilende, knotet den halbvollen Eimer daran und lässt ihn langsam hinab, bis es kaum hörbar platscht.
Mit einem »Hm« auf den Lippen kehrt Selbst den beiden Brunnen den Rücken zu und spürt Trauer in sich heraufsteigen.
Auf seinem Weg trifft Selbst im Schatten einer Düne den Maler Du. Selbst bewundert das Kunstwerk, dass Du soeben stolz vollendet hat. Es zeigt Ichs eiförmiges Gesicht wellenartig verzerrt; anstelle der Augen prangen zwei Brunnen darin.
»Wozu spiegelt sich ein Blinder im Wasser«, sagt Selbst nachdenklich, ohne eine Antwort zu erwarten. »Ich«, fügt es dann hinzu, »ist am Ziel zurückgeblieben.«
Der Maler wendet sich zu Selbst um. »Wo?«
»An seinem Ziel, am ›Brunnen der Ehre‹, der beim ›Brunnen am Anfang‹ stand.«
Da reißt Du mit seiner Pranke Ichs papierne Schädeldecke auf. So kommt ein Stück des darunter liegenden Bildes zum Vorschein: Eine Figur blickt einer anderen über die Schulter, vor ihnen im Wüstensand steht eine Staffelei. »Möge Ich«, sagt der Künstler und blickt durch Selbst hindurch, »das Paradies in deinem Herzen finden. Trauere, weise ihm sodann frohen Gedenkens den Weg.«
Das ewig beginnende Selbst lässt Dus Worte auf sich wirken. Es bedankt und verabschiedet sich, und macht eine Verbeugung, bevor es sich zum Horizont wendet. Auf seiner Wanderung der Abendsonne, dem Wir entgegen zählt es von eins bis zehn, immerfort aufs Neue, seinen Atem aus der Wüste, seinen Atem in die Welt.