(Selbst-)Mord nach Plan
(Selbst-)Mord nach Plan
Die Stadt lag in ihrem dunklen, nebligen Schein. Die Straßenbeleuchtung war ausgefallen. Ganze Geschäfts- und Häuserzeilen lagen in völliger Dunkelheit. Schornsteine qualmten. Niemand war durch diese schaurige Atmosphäre beunruhigt. Es kam öfter vor, das hier oben im Norden der schottischen Highlands im Herbst der Strom ausfiel. Der volle Mond erleuchtete die engen Gassen. Einige Wölfe, die vor einiger Zeit aus einem Nationalpark ausgebrochen waren, heulten in der Ferne. Als ein Auto über die Landstraße durch das Moorgebiet fuhr und sich die Scheinwerfer zwischen den dampfenden Nebeln hindurchreflektierten, wusste Mark Smith noch nicht, was ihn heute Abend erwarten würde. Er fuhr den kleinen Hügel hinauf, hinter welchem sich sein kleines Haus befand. Dieses war aus rotem Backstein gebaut. Ein Dachziegel war abgefallen. Hatte es einen Sturm gegeben?
Mark hatte davon nichts bemerkt, aber das musste nichts heißen. Er arbeitete als technischer Zeichner in Glasgow. Es waren 60 Kilometer zu fahren. Aus diesem Grund kam es öfter vor, dass er an seinem Arbeitsplatz nicht mitbekam, wenn sich das Wetter veränderte. Oft schien in Glasgow noch die Sonne, wenn es hier oben schon regnete. Ayr Town war eine verlassene Stadt in einer verlassenen Gegend. Viele junge Leute hatten in den letzten Jahren ihre Heimat verlassen, um in den großen Städten wie Aberdeen, Edinburgh oder eben Glasgow eine Arbeit zu finden. Mark war nach der Hochzeit mit Catherine, einer ansässigen Bauerntochter, in seiner Heimatstadt wohnen geblieben. Seiner Frau zu Liebe hatte er diese Entscheidung getroffen, da sie sich in der Großstadt niemals eingelebt hätte.
Er parkte das Auto in der Garage und machte die Scheinwerfer aus. Er griff nach seiner Aktentasche und schloss den Wagen ab. Mit einem kurzen Druck auf seine Fernbedienung, schloss er die automatische Garagentür ab. Er suchte krampfhaft nach seinem Haustürschlüssel. Er konnte ihn nirgends finden. Hatte er ihn vergessen?
So etwas war ihm noch nie passiert. Er war aus Gewohnheit vorsichtig. Zu viele schlechte Nachrichten hörte man aus dem Radio oder konnte man in den Tageszeitungen nachlesen.
Doch als er sich der Haustür näherte, merkte er, dass er ihn nicht mehr brauchte. Diese stand einen Spalt weit offen. Er erschrak. Vorsichtig näherte er sich der Tür und stieß sie langsam auf. Er suchte krampfhaft den Lichtschalter. Er wurde hektisch. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Schließlich fand er den Schalter an der rechten Wandseite. Er betätigte ihn und nichts geschah. „Mist, schon wieder so ein Stromausfall“, fluchte er. Er warf seine Aktentasche zu Boden und betrat vorsichtig den Flur. Sein Magen verkrampfte sich vor Angst. Er wünschte sich, eine Waffe zu besitzen. Allerdings hatte er es damals abgelehnt, als man ihm angeboten hatte in den Jagdverein einzutreten. Er wäre nie und nimmer dazu in der Lage gewesen auf ein Tier zu schießen, geschweige denn auf einen Menschen. Allerdings war er auch noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert.
Als ihn ein weiterer kalter Schauer der Angst überkam, schrie er in die Dunkelheit seines Hauses. „Catherine, bist du zu Hause?“ Er rief es wieder und wieder. Doch sein Schrei wurde durch die starken Mauern seines Hauses zu ihm zurückreflektiert. Als er sich dazu entschieden hatte, eine Taschenlampe aus der Garage zu holen, um nachzusehen, was geschehen war, wollte er sich umdrehen, um zu gehen. In diesem Moment spürte er einen Schlag in den Rücken. Erschrocken und unbeholfen fiel er um und schlug der Länge nach hin. Mit feuchten Händen drehte er sich auf die Seite, als er von seinem Angreifer im Gesicht abgeschleckt wurde. „Mensch Barnie, hast du mir einen Schreck eingejagt.“ Barnie, ein großer, kräftiger Bernerdiener mit hellem Fell und großen schwarzen Flecken auf dem Rücken, war ihm vor einigen Jahren zugelaufen. Er hatte nie etwas für Haustiere übrig, aber als dieses halbverhungerte Geschöpf vor seiner Haustür stand, brachten es er und Catherine nicht übers Herz, ihn wieder abzugeben. In seiner Angst hatte er völlig vergessen, dass er einen Hund besaß. Dieser kniff sich in Marks Seidenhose fest. Er ließ nicht locker.
„Willst du mir etwas zeigen?“, fragte Mark, als der Hund noch immer nicht von ihm abließ. Als er dies gesagt hatte, stürmte der Hund hinaus in die Dunkelheit. „Warte“, schrie Mark energisch. Der Hund machte auf dem Absatz kehrt und setzte sich vor die Füße von Mark. Dieser öffnete seine Garage, um die große, silberne Taschenlampe zu holen. Er schaltete sie ein und schloss die Garage wieder ab. Sofort stürmte Barnie den Hang hinunter. Mark hatte Probleme, mit seinem vierbeinigen Freund mitzuhalten. Er bewegte sich geradewegs auf ein kleines Moor zu, welches direkt vor seiner Haustür lag. Im Sommer, wenn dieses Gebiet einigermaßen trocken war und die Sonne durch die kleinen Schäfchenwolken schien, war es hier wunderschön, erinnerte sich Mark, um mit seiner Angst fertig zu werden.
Barnie war außer Sichtweite. Plötzlich fing er zu bellen an. Mark versuchte sich zu orientieren. Als er seinen Hund im trüben Licht der Taschenlampe erblickte, fing der zu rennen an. Er beleuchtete den Boden unter seinen Füßen nicht, sondern leuchtete nur auf das Ziel, welches sich etwa 200 Meter vor ihm befand. Er rutschte auf einem kleinen Schlammhaufen aus und fiel kopfüber in das Moor. Seine Designerhose und sein weißes Sakko waren von Schlamm durchtränkt. Doch das interessierte Mark in diesem Moment nicht.
Was hatte er neben seinem Hund liegen sehen? Konnte es wirklich war sein?
Er rappelte sich auf und stürmte auf Barnie zu. Dieser bellte noch immer lauthals und ohne Pause. Als er den Platz erreicht hatte, sank er schluchzend auf die Knie. Der Hund hatte den Kopf seiner Frau gefunden. Er lag neben einer Plastiktüte eines namhaften schottischen Supermarktes. Die Augen waren herausgetrennt. Daneben lag ein Brief, welcher mit roter Tinte geschrieben zu sein schien.
Mark fasste sich wieder und begann zu lesen.
„Hast du gefunden, wonach du gesucht hast? Leider ist es zu spät. Sie hat schrie wie ein kleines Kind, als ich sie geschlagen habe. Sie weinte jämmerlich, als ich ihre Augen herausnahm. Und als ich ihr schließlich das Messer ins Herz stieß, hörte ich nur noch ein leises Wimmern. Das ist der Lauf des Lebens Mark. Jeder bekommt, was er verdient. Gez. Dein heimlicher Verehrer.“
Mark bemerkte nicht, dass das Blatt Papier, welches er in der Hand hielt, noch feucht war. Der Täter hatte den Brief nicht mit Tinte, sondern mit dem Blut von Marks Frau geschrieben.
Mark stand auf und blickte gen Himmel. Wie konnte so etwas nur geschehen?
Er drehte sich um. Barnie war verschwunden. Gerade eben hatte er noch neben ihm gestanden. Er blickte auf den Hügel, wo sein Haus stand. Dieses brannte lichterloh. Mark stand auf und rannte los wie ein Besessener. An einem Baum unterhalb des kleinen Hügels hing die Leiche seines Hundes. Sie war noch warm. Wie konnte es sein , dass er es nicht gemerkt hatte? Wie lange hatte er den Brief studiert?
Plötzlich hörte er das Dröhnen eines Motors. Als er sich umdrehte, war es schon zu spät. Er wurde von seinem eigenen Wagen überrollt.
Als die Polizei am nächsten Morgen eintraf, lag die Sache auf der Hand. Der Kommissar fragte den Pathologen, was er für den Moment sagen könne. „Herr Kommissar, für mich liegt die Sache auf der Hand. Zuerst hat Herr Smith seine Frau enthauptet und ihr vor dem Tod die Augen herausgetrennt. Seine Fingerabdrücke haben wir überall gefunden. Danach hat er seinen Hund erhängt und das Haus angezündet, um Spuren zu verwischen. Zuletzt hat er seinen Wagen auf den Hügel gestellt und die Handbremse gelöst. Außerdem hat er ein gutes Dutzend Schlaftabletten geschluckt. Er legte sich unten an den Fuß des Hügels. Als der Wagen über ihn herfuhr, hatte er eine Rollgeschwindigkeit von 50 km/h erreicht. Wenn sie mich fragen, eine perfekte Mordsimulation. So etwas habe ich noch nicht gesehen.“
Der Kommissar schwieg.
Den Brief, welchen Mark Smith vor seinem Tod gefunden hatte, fand niemand.
Nachdem in den folgenden Wochen drei weitere Familien nach dem gleichen Strickmuster getötet worden waren, steht die Polizei vor einem Rätsel. Wer hinter diesen Taten steckt, ist niemandem bekannt, doch eins ist sicher, jeder kann der nächste sein.