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Selbst ist der Mord
Die Last ist hinfort, mein Körper überschwemmt von Sinneseindrücken, eine Sinfonie der Ewigkeit, dirigiert von meinem Geist, alles dreht sich, ohne qualvoll zu sein, ich fliege, vielleicht liege ich auf einem Bett aus Seidenschals, die mir aufgehäuft wurden, dieser Moment, so unendlich lang, ein Rauschen so laut, dass alles verstummt, die Farben vor meinem inneren Auge spielen verrückt, kaum zu erkennen und doch wie ein expressionistisches Kunstwerk, jedwedes Verlangen, jeder Trieb ist erstickt,die Augen geschlossen, das Atmen fällt schwer wie kaum auf, das Herz pocht, mal dezent, mal schnell als würde es mir entfliehen und meinen Geist das eigene Spiel spielen lassen, Kälte umschweift die Nüstern als träfe mich ein harter Schlag. Für einen kurzen Moment bleibt alles stehen.
Das Ende, der Sturz wie er ihn sich vorgestellt hatte, Momente der Freiheit, der Anarchie und der grenzenlosen Unfehlbarkeit des Menschen, die dem Tod kurz zuvor kommt.
Um 9:05 klingelte der Uhrwecker unaufhörlich mit greller werdenden Lauten, nicht einmal einer Melodie, wie sich Pierre um 9:07 dachte, als die Lautstärke erdrückend und tinituserregend wurde.
Ein Samstagmorgen im Herbst, einer wie jeder andere auch, so mag man glauben. Alles ist getan, erledigt, kein kleinster Stressfaktor. Es zuckte ein Lächeln über die schmalen Wangen des 18-Jährigen, dass sich kleine Falten bildeten, die seine beinahe verschwundene Akne auffälliger werden ließen. Seine Gefühlslage war wirr und unwirklich, einsam und missverstanden auf der einen, in gewisser Weise glücklich und befreit auf der anderen Seite. Die Aufregung wurde hin und wieder größer, wenn er daran dachte, was dieser Tag noch mit sich bringen würde. Seine Gedanken schweiften umher, während er reglos im Bett lag und auf die beinahe kahlen Bäume vor seinem Fenster stierte. Kleine Windböen trugen den Ästen die letzten Kleider davon. Er spürte nur den Druck des Windes auf das geschlossene Fenster, so als würde der Wind das Fenster gegen ihn drücken. 09:18, der Hunger war unerträglich, daher trat Pierre nun den schwierigsten Teil dieses Tages an, er wusste, dass seine Familie die Pläne nie verstehen würde. Sie würden nie nachvollziehen, was er tat und er wusste, dass er sie unheilbar verletzen würde.
Allerdings waren diese Gedanken irgendwie schon Routine geworden, er duschte ausgiebig, überlegte zu onanieren, bis ihm sein Hunger sagte, dass er dies auf später verlegen musste. Als er die Küche betrat, saßen seine Eltern wie jeden Tag ab 9:00 Uhr am Küchentisch, tranken maßlos ihren Kaffee und unterhielten sich kaum, jetzt wo die Arbeitswoche vorbei war und andere Themen nötig waren. Neben der völlig unnötigen wie nervtötenden und nicht einmal inhaltlich zur Zeit passenden Begrüßung des Vaters, ob Pierre auch mal aus dem Bett gefallen sei, erklärte seine nichtsahnende Mutter nach einem freundlichen, allerdings mit traurigem Lächeln untermalten „Guten Morgen mein Schatz“, dass sie und Pierres Vater auf einen herbstlichen Markt in einer naheliegenden Kleinstadt gehen wollten und zum Nachmittagskaffee wieder da seien. Eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Weg. Pierre hatte mittlerweile ausgiebig gefrühstückt und seine Eltern damit verwundert, dass er glücklich schien und vergleichsweise viel redete. „Bis später !“ „Fackel nicht das Haus ab, wenn du kochst!“, „Denk an dein Zimmer !“, Diese Sätze hätten ihn vor Wochen noch innerlich aufgefressen, immer dasselbe, doch jetzt war ihm nur sein Plan wichtig, seine Aufgabe und er ging erneut in sein Zimmer, um den Brief zu lesen, es kam ihm so kitschig vor, so abgeschaut, diesen geschrieben zu haben aber irgendetwas musste seinen Eltern von ihm bleiben, wenigstens, um die Gründe gehört zu haben. Vorher jedoch tat er seiner Mutter einen letzten Gefallen, er räumte auf wie noch nie, alles war sortiert, geordnet, der Müll entsorgt, in einer Perfektion, die ihm noch nie jemand zugesprochen hatte. Um 12:31 Uhr holte er den Brief zwischen seinen fast unbenutzten Schulbüchern hervor und ging ihn ein letztes mal durch.
Mein Tod ist nicht der Tod eures Sohnes, eures Kindes, sondern der einer Mischung aus Missgeburt und Mitläufer einer Generation , die planlos, geldgeil und parasitär, un(ter)geordnet, arrogant und egoistisch ist.. Jeder spielt sich sein Leben zurecht, zu dumm, es zu verstehen, zu schlau, es so zu nehmen, die eigene Nichtigkeit wird verdrängt. Einengend, und druckvoll, Dauerdruck auf jedes Individuum, jeder wird entschieden, niemand entscheidet für sich selbst.
Mama, Papa,
meine Eltern, die ihr mir die einzig wichtigen Menschen seid.
Ich hoffe auf wenigstens eine leise Spur von Verständnis,
denn wenn ihr dies lest, bin ich befreit von dieser Spezies,
die mir und uns allen doch nur immer neue Lasten auferlegt, uns selbst in Lügen einwickelt und sich von Gott eine Lösung verspricht.
Eine Minute Freiheit hätte mir gereicht, keine Sekunde bekam ich, bekommt niemand. Eine Minute Meinungsfreiheit in einem Staat der solchen, auch hier bekommt keiner nur eine Sekunde geschenkt. Wir werden gelenkt, manipuliert und missbraucht.
Dagegen zu kämpfen war mein Ziel, der innere Kampf das Ergebnis. Um zwei Uhr mittags sitze ich da und weine, überlege mir revolutionäre Ansätze und doch sitze ich zwei Minuten später an meinem Handy und schreibe unterbelichtete Sätze an minderbemittelte Mädchen, während ich beim Online-Spiel auf der Konsole die 30-sekündige Pause in Anspruch genommen habe, die mich schnellstmöglich wieder ins Spiel holt.
Wo am Anfang der Hass auf einzelne Individuen war, steht jetzt die Verachtung für den Menschen an sich, die Akzeptanz eines unsinnigen Staatssystems, die Akzeptanz für Obrigkeiten und besonders der Glaube machen ihn unerklärlich schwach und ekelerregend.
Ich habe viele dieser Dinge nicht einmal im großen Maße erlebt, jedoch denke ich, dass dies unbedeutend ist. Was zum Beispiel soll eine Beziehung sein, eine Ehe? Ich versteh es nicht, ich empfinde Hass wenn mein Partner andere Sexualpartner sucht, verlange aber selbst ständig danach und je nach moralischer Grundeinstellung, die man wie auch immer gewonnen hat, legt man sich Fesseln an oder ist unmoralisch. Wer hat diesen Begriff denn festgelegt? Ich habe diese Woche mein Geld für Prostituierte ausgegeben und ein Mädchen aus meiner Klasse gefickt, die seit längerem Interesse hatte. Marie habe ich das gestern erzählt, man weiß ja nicht, was sie jetzt trauriger macht. Und dann reden diese Menschen mir und mich wichtig, was unhaltbar sinnlos erscheint. Oma sagt du musst studieren, du bist ein schlauer Kopf, Opa sagt dir wo du studierst, Mama sagt dir wer wo was und wie studiert, ihre Arbeitskollegen zeigen sich sehr hilfsbereit, ihre eigenen Kinder zu nobelisieren. Was möchtest du später denn machen, Pierre? Leben. Was machst du später, Pierre? Sterben. Mehr weiß ich nicht, und was außer diesen beiden Dingen ist wichtig? Nicht einmal vermehren sollten wir uns, wo die Menschen sich schon nicht nur selbst ausrotten werden, sondern auch noch die Erde glauben mitnehmen zu dürfen. Wir sind gezwungen den Weg der bestmöglichen Karriere zu gehen, ohne wirklich leben zu können und wenn wir faul sind wie ich, nur mit dem Gefühl im Magen, dass die Obdachlosigkeit, die Armut nicht weit ist. Niemand sucht sich mehr selbst sein Futter, es gibt zu viele Menschen, aber das ist sicher nicht der Hauptgrund für meinen Suizid, keinesfalls opfere ich mich für das Bestehen des Menschen, höchstens für die Dummheit, die seiner Intelligenz entsprang. Der erweiterte Horizont des Menschen macht ihn dumm und blind.
Doch nicht das alles brachte mich zugrunde, sondern der Gedanke, dass ich niemals diese Worte aussprechen konnte, hätte aussprechen können, weil ich selbst zu eingeengt war. Freundin, Schule, Zukunftspläne, wenn ich mich nicht feige umbringe oder mit viel Glück ein feiger Autor werde, der seine Meinung hinter Fiktion verborgen hält, kann ich unmöglich glücklich sein. Doch ist dies überhaupt das Ziel? Es frisst mich auf in all dem menschlichen Wissen im Grunde unwissend zu sein. „Wer bin ich, warum bin ich hier?“ Die Phrase die als Phase der Pubertät abgetan wird, die Antwort ist klar und wird niemals einen Menschen zufrieden stellen, ich habe versucht meine Nichtigkeit zu akzeptieren, doch es geht nicht.
Ich vermute für euch habe ich jetzt wirr gesprochen, doch ich glaube genau das ist der Grund. Einen wirklich klaren Gedanken habe ich nur, wenn ich springe.
Nun bin ich gesprungen, versucht meinen Verlust zu verkraften und tragt nach Außen, was ich schrieb, oder lasst es sein, es wäre ja nur, weil ich tot bin.
Ich liebe euch, zündet keine Kerzen für mich an, ich bekomme es nicht mit. Trotz allem habe ich das Leben geliebt. Aber was ist schon Liebe?
Euer Sohn
Als er den Brief weglegte, war Pierre unzufrieden mit der Ausgestaltung seiner Worte, dem was er sagen wollte, aber er wusste, dass er niemals zufrieden sein würde, deshalb war der Brief nun akzeptiert als Teil seines Planes. Er brachte ihn zum Küchentisch und legte seine Kreuzkette darauf. Er hatte sie seit Jahren nur getragen, weil sie ein Erbstück seines Großvaters gewesen war beziehungsweise hätten es seine Eltern ihm zum Vorwurf gemacht, wenn er sie nicht getragen hätte.
13:09 Sonnenstrahlen, Rauchschwaden, verschwommene Umrisse in Menschengestalt, das Blickfeld von Pierre war eingeschränkt, die letzte Zigarette sollte nun doch die vorletzte werden, die Angst vor dem Sprung drängte sich zwischen die Planung. Ich bin sogar zu unfähig mich umzubringen, dachte er kurz, nahm einen langen Zug. Seine Eltern hatten nie gewusst, dass er rauchte, er hatte es nie gewagt sich preiszugeben, sich wirklich und wahrhaftig preiszugeben. Der Weg zur Talsperre war nicht gerade kurz, kaum jemand kam auf den Gedanken zu laufen. Ein wenig christlich bin ich dann doch, dachte er sich innerlich scherzend und lächelte zaghaft auf seinem Kreuzweg.
13:57 Gleich ist es soweit, die Zigarette verglomm, sein Blick war starr, kein Blinzeln bis die Augen trockneten und tränten, wie widersprüchlich, seine Gedanken waren konfus und doch zielgerichtet, konzentriert.
13:59 Die Zigarette war ausgetreten, er nahm zunächst sein Handy, sprach eine Notiz in die Whattsapp-Gruppe seines Abiturjahrgangs „Tschüss, macht euch keine Gedanken, ihr braucht es nicht zu verstehen, ich mochte euch!“, warf es über die Brüstung. Kurz, bündig, der Wind wehte stärker, die Haare flogen entgegen ihres Ansatzes. Ein älteres Pärchen ging in einiger Entfernung spazieren, die letzten Sekunden blieben, um sich auszuziehen, ein letztes Mal zu spüren, was die Natur so gewaltig macht. Die Augen waren geschlossen als er auf die Brüstung geklettert war, sich erstaunlicherweise trotz des Windes gut halten konnte und..
14:01.. nun ohne einen letzten Gedanken, nur mit dem Bild seiner Eltern vor den Augen, die lächeln, ihn verstehen, die Zehen von der kalten Brüstung ablöste, einen letzten Befehl vom Hirn zu seinen Muskeln schickte, die sich allesamt anspannten, wieder entspannten und er einfach fiel, er fiel, er sprang nicht und bekräftigte damit die Leichtigkeit, nun 80 Meter und 5 Sekunden frei zu sein.
War es das wert?