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Selain und der Mond
SELAIN UND DER MOND
Der helle Mond leuchtete über die Dächer von Paris und tauchte die Stadt in eine seltsame, melancholisch anmutende Stimmung, die alles für sich zu beanspruchen schien, sodass sogar die Menschen, obwohl es Samstag war, nicht wirklich die rechte Laune hatten, wegzugehen und das Wochenende artgerecht zu feiern. An eben diesem Abend schritt die junge Selain, blass und zierlich von Gestalt, durch die Straßen, scheinbar ziellos und ohne Intention, den Blick immer auf den Gehsteig gebannt und das Bewusstsein hinter dem Schleier tiefer Nachdenklichkeit verborgen. Niemand realisierte diese einsame Figur, denn ihre Ruhe deckte sich mit dem Ambiente der fahl beleuchteten Wände und der Erscheinung des stillen Mondes, der in das Dunkel hineinschwieg und dennoch alles mit seinem Lichte erfüllte. Es ist genau diese Bescheidenheit des mystischen Himmelskörpers, welche auch so manchen Menschen obliegt, nämlich, das Leben der anderen zu beleuchten, ohne einen unbedingten Anspruch darauf zu erheben, selbst bemerkt zu werden, ohne sich anderen Existenzen direkt aufzudrängen, auf sich zu weisen und zu sagen: »Seht her, ich bin da!«. Die Fähigkeit, zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, ohne die Aufmerksamkeit letztlich wieder auf sich selbst richten zu wollen, so wie es die Majorität zu tun pflegt, als sehe sie ihr soziales Umfeld eigentlich nur als Mittel an, für sich selbst den Schein einer Bedeutung zu bewahren; genau diese Fähigkeit ist wohl eben so selten, wie das Antreffen wahrer Tugendhaftigkeit und Unschuld. Sollte dies aber bedeuten, dass diese Apathie, diese Teilnahmslosigkeit am Geschehen, von welcher nur das gedankliche Arrangement verschont bleibt, auch ebenso wertvoll genannt werden sollte, wie Sittlichkeit und Moral, oder ist dieses passives Verhalten nicht viel mehr die verwerfliche Befriedigung einer verblendeten Selbstsucht? Wem nutzt es letztlich etwas, wenn der einzelne sich selbst in dem Denken über das Denken verliert?, in der ewig sukzessiven Reflexion über die Eigenreflexion, in der Suche nach dem Verständnis der Welt, welche ihm nur weis macht, wie weit er sich von dem eigentlichen Ideal, das er sich über sich selbst gebildet hat, entfernt ist, und ihn letztlich an dieser Diskrepanz verzweifeln lässt, von der Abscheulichkeit allen Lebens erschüttert und von der eigenen Existenz bitter enttäuscht.
Solche und ähnliche Gedanken spielten sich in dem Kopfe des junges Mädchens ab, als es völlig versunken durch die Stadt schritt, eng gehüllt in einen schwarzen Mantel, der zumindest die körperliche Kälte abhielt, und den Mond betrachtend, welcher hin und wieder die Richtung flüsterte, die es einzuschlagen hatte. Erst als Selain sich in einer Sackgasse wiederfand, merkte sie, dass sie sich vollkommen verlaufen hatte und einen Moment lang wusste sie nichts anderes, als einfach nur da zu stehen, betrachtete die Wand, welche den Weg nicht freigeben wollte, bis sie plötzlich, wie aus einer Trance gerissen, umkehrte, nun wesentlich schneller dahinschreitend, als ob sie von einer schlagartig auftretenden Sorge überrascht worden wäre, welche vorher nur latent existiert haben mochte, nun aber all ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Tatsächlich war ihr erst jetzt bewusst geworden, wie viel Zeit sie eigentlich mit nutzlosem Herumgehen verschwendet hatte, und so ärgerte sie sich über ihre eigene Unvernünftigkeit, denn ihre Eltern warteten sicher bereits schon seit einer guten Stunde auf ihr Erscheinen, und sahen es für gewöhnlich gar nicht gern, wenn die, von ihnen so hoch geschätzte, Pünktlichkeit nicht eingehalten wurde.
Selain legte die letzten Meter schließlich im Laufschritt zurück, den Kopf zwischen die Schultern pressend, um die schneidende Kälte besser ertragen zu können, öffnete dann die Haustür, lief die zahlreichen Stufen bis in den dritten Stock und klopfte an die dort befindliche Wohnungstür ihrer Familie. Als keiner aufmachte, sie selbst aufsperren und feststellen musste, dass gar niemand zu Hause war, stattdessen lediglich ein Zettel auf dem Boden lag, auf dem geschrieben stand, dass ihre Eltern noch ins Theater gegangen waren, war sie teils verwundert, darüber nicht informiert worden zu sein, teils aber auch einfach nur erleichtert, nun keine Rechtfertigung für ihr eigenes Zuspätkommen abliefern zu müssen. Sie befreite sich geschwind von ihrem Mantel, hängte ihn auf den bronzenen Haken im Vorzimmer, warf Schal und Handschuhe achtlos auf den Tisch, und eilte in ihr Zimmer, wo sie sofort den Lichtschalter betätigte. Da merkte sie, dass ihr Computer noch lief, obwohl sie sich doch eigentlich sicher währte, ihn heute gar nicht eingeschaltet zu haben und als sie näher trat, um ihn abzudrehen, fiel ihr auf, dass eine neue Nachricht ihren Weg zu ihrer E-Mail Adresse gefunden hatte.
Sie öffnete die Datei und begann desinteressiert zu lesen:
Salut Selain,
Es kann gut möglich sein, dass du dich nicht mehr so recht an mich erinnern kannst, aber ich gehe dieses Risiko gerne ein, um dich darüber in Kenntnis zu setzen, dass sich dir, wenn du nur willst, die einmalige Möglichkeit bietet, das Leben, das du nun führst, grundlegend zu verändern. Ich habe dich damals im Philosophie Unterricht, als ich neben dir saß, das erste Mal gesehen, und war sofort davon überzeugt, in dir ein potentielles Mitglied unserer Gruppe zu finden, den »Étrangers«, den Weltfremden, wie wir uns selbst etwas ironisch zu nennen pflegen. Das mag jetzt im ersten Augenblick etwas verrückt für dich klingen, aber glaube mir, auch wir Einzelgänger brauchen manchmal den Beistand von außen, um uns nicht ganz im selbstreflexiven Denken zu verlieren, und da wir auf diesen wohl kaum in der Masse der Stumpfsinnigen hoffen können, so ist es unsere Pflicht, die Pflicht der Peripherie, zusammenzuhalten, das Vertrauen zumindest gegenüber dem vernünftigen Teil der Menschheit aufrecht zu erhalten, um uns unserem Leben und dessen Bedingungen nicht gänzlich zu entfremden.
Ich weiß, was du jetzt denkst. Ideale hast du selbst zur Genüge und Pflichten wohl auch mehr als du vertragen kannst, doch hier geht es um etwas völlig anderes. Hier geht es um den Versuch der Außenstehenden nach innen vorzustoßen, das verkehrte Menschbild der Moderne umzudrehen, eine neue kopernikanische Wende auszurufen, welche die Nachdenklichen, die geistig Eminenten, die Künstler und Philosophen, ins Zentrum des Weltgeschehens rücken, auf das die Wertlosigkeit des Geldes, die Bedeutungslosigkeit der schimärischen Oberfläche und die Verlogenheit der Wirklichkeit den Menschen ins Bewusstsein gerufen wird. Außerdem suchen wir nach der Freiheit unserer Gedanken, nach dem Einklang von Weisheit und Glückseligkeit, der uns deshalb so fremd und widersprüchlich scheint, weil eben wir, gerade wir, welche wir die Unterstützung so nötig hätten und am meisten und tiefsinnigsten leiden, keine Hilfe erlangen, weil sich die Leute immerzu darauf ausreden, unsere Arroganz und Abgehobenheit sei an dieser Distanz schuld, während sie selbst nur enttäuscht sind, mit ihren üblichen Spielchen auf der Oberfläche, keine Faszination mehr in uns auslösen zu können, woran man sie eben so verantwortlich machen kann, wie uns, die wir das Lachen längst verlernt haben. Dabei müssten sie nur in sich selbst hineinsehen, müssten sich nur auf ihr Leben besinnen, um zu erkennen, wie alles bedeutungslos an ihnen vorüber streicht, sodass ihr Leben tatsächlich irgendwann zu Ende sein wird, ohne mehr als eine Anhäufung unzusammenhängender Erlebnisse gewesen zu sein, die sie selbst nie zu deuten wussten.
Dir, Selain, steht ein anderes, ein höheres Schicksal zu, das kann ich spüren. Alles, was die Menschen gewöhnlich an dir hassen, zeichnet dich vor uns aus, macht dich besser als die von der Unterhaltung verblendete Bourgeoisie es jemals sein könnte. Das Leiden, das du dir selbst aufbürdest, das Opfer, das du dem Selbstbewusstsein der Welt erbringst; diese Eigentümlichkeiten sind es, in welchen allein der echte Wert deines Lebens offenbar wird.
Doch tut mir leid, ich langweile dich gewiss mit deinen eigenen Gedanken. Wenigstens siehst du jetzt, dass wir dich kennen, und zwar gut genug, deine innere Verzweiflung nicht zu übersehen, und dass wir auch gewillt sind, dir zu helfen, denn möge uns das Leben auch in noch so unerträgliche Bedingungen versetzen und scheinen wir auch noch so machtlos gegenüber dem Schicksal, das uns jeglicher Freiheit zu berauben trachtet, zusammen werden wir es vielleicht durchstehen, wir, die es doch am meisten gewohnt sein sollten, den süßlichen Geschmack des Leidens auf der Zunge zu spüren, die wir verstehen, was es bedeutet, ohne konkreten Grund, einfach nur aus kontemplativer Traurigkeit, zu weinen; wir, die wir mittlerweile sogar glauben, dass wir dazu imstande sind, unser Leiden zu einer Kunst zu transfigurieren, einer schwarzen, tristen, leidenden Kunst zwar, die niemanden erheitern wird, doch dennoch die Sinnhaftigkeit im Opfer festhält, welches wir alle mit unserer Nachdenklichkeit erbringen, indem wir die Dinge nicht einfach geschehen lassen, sondern uns ihrer in Gedanken annehmen, und die Bürde der Wahrheit auf unsere schmalen Schultern heben. So ist es auch kein Wunder, dass wir den Menschen missmutig erscheinen, wenn wir uns selbst so viele Probleme künstlich erschaffen, die eigentlich gar nicht unserem persönlichen Glück dienen, ja diesem sogar oft diametral entgegenlaufen. Genau deshalb aber, weil wir uns von dem primitiven Selbsterhaltungstrieb unbeeindruckt zeigen, weil wir keiner Sehnsucht hinterher laufen, keiner bloßen Empfindung verfallen, keiner Enttäuschung nachhängen und keiner Hoffnung vertrauen, genau deshalb ist unser Geist frei und steht über den Dingen, welche den Großteil unserer Gattung unter ihre Knechtschaft gezwungen haben, sodass wir unverblendet die Zusammenhänge unserer Welt zu erkennen in der Lage sind.
Wenn meine Worte dich neugierig gemacht haben sollten, dann zögere bitte nicht, dich zu melden.
Julien P. Renault
Le Commandant d’étrangers
Selain hatte zu Ende gelesen und in ihrer Gefühlswelt manifestierte sich ein verwirrender Konflikt zwischen Empörung und Faszination. Einerseits war sie zwar zutiefst verärgert darüber, dass es einem fast fremden Schüler so leicht gefallen war, ihre Traurigkeit und Verzweiflung zu durchschauen, war sie doch selbst immerzu davon überzeugt gewesen, dass niemand sie so recht kannte, außer sie selbst; andererseits aber musste sie sich eingestehen, dass die Worte von Julien furchtbar treffend das ausdrückten, was ihr selbst schon oft durch den Kopf gegangen war, und als sie sich in ihrem Hocker zurücklehnte und die Arme verschränkte, fiel ihr auf, dass ihre Glieder sich, während des Lesens, eine kaum merkliche Gänsehaut zugezogen hatten.
Tatsächlich kannte sie diesen Julien, welcher in eine ihrer Parallelklassen ging und in heurigem Jahr den selben Philosophie Unterricht besuchte wie sie, konnte sich allerdings nicht daran erinnern, jemals mehr als zwei Worte mit ihm gewechselt zu haben und war auch sonst nicht sonderlich gut über ihn informiert.
So viel wusste sie: Im gesamten Lycée galt er als durchgeknallter Schauspieler und Philosoph, als durchaus charismatischer Mensch von Geist, dem es immer wieder gelang, die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse auf sich zu ziehen, indem er sich über die Engstirnigkeit der Lehrer lustig machte und gekonnt jedes ihrer Worte mit seinen Kommentaren ins Lächerliche zog. Es erschien Selain durchaus nicht einleuchtend, weshalb gerade dieser selbstbewusste Schönling, sich als der »Commandant d’étrangers« bezeichnete, obgleich er keineswegs als der typische Außenseiter galt, ja im Gegenteil sogar von Unmengen stumpfsinniger Mädchen umschwärmt und von ihren Blicken verfolgt wurde. Was sollte also dieses Gerede über die Ungerechtigkeit der Welt, wenn er selbst doch eigentlich keinen Grund hatte, sich über den Stand seines Leben zu alterieren?
Selain hatte plötzlich genug von dieser kuriosen Person, die ihr auf einmal furchtbar falsch und verlogen erschien und vertrieb sie ganz aus ihren Gedanken. Sie ließ den Computer herunterfahren, schaltete das Licht ab, zog sich schnell um und kuschelte sich dann in die wohlige Wärme ihres Bettes, wo sie mit geöffneten Augen, die Decke bis über ihren Hals gezogen, in dem Dunkel ihres Zimmers verweilte. Sie blickte aus dem Fenster, wo sich die blasse Scheibe des Mondes abbildete und fühlte sich wieder von der selben tiefen Verbundenheit ergriffen, welche sie auch schon beim heutigen Abendspaziergang befallen hatte.
Sie flüsterte zum Mond: »Du und ich, wir sind die wahren Außenseiter. Wir kreisen um das Geschehen der Welt, ohne etwas daran ändern zu wollen, ohne uns ein Urteil darüber zu bilden, was richtig und was falsch sein könnte, und ohne gegen die Ungerechtigkeit zu protestieren, die in unserem Verständnis gar nicht existiert. Es gibt nur diese eine tiefe Notwendigkeit, die alles in sich fasst, es gibt nur die Übermacht des Schicksals, welche jede unserer Handlungen beherrscht und vorausbestimmt, sodass jeder Versuch, sich in Freiheit zu währen, jeder Versuch aus dieser Notwendigkeit auszubrechen, nur aus Dummheit oder Neigung zum Absurden geschehen kann und bereits im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist«
Es nahm noch Stunden in Anspruch, bis Selain endlich, von arger Müdigkeit befallen, die Richtleuchten ihrer Gedankengänge im dichten Nebel des Unbewussten verlor und sich den Bildern, den bloßen Vorstellungen ihrer Träume hingab, um als neue Selain geboren zu werden, als unbekümmertes junges Mädchen, welches Sonnenblumen pflückte und den Wolken nachlief.