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Seine Wölfin
Der Nebel fällt aus den Waldhängen, aus den Grenzen, die die Stadt in ihrer Größe beschneiden. Die Stadt verliert darin die Konturen. Da und dort ein Wetterhahn, ein verschwommener Giebel, ein Dachfirst, der auftaucht um gleich darauf unterzugehen. Gut ist es, hier zu sein, sagte der alte Mann.
Er zelebriert jede seiner Handlungen. Sein Stammtisch. Sie kennen ihn alle. Wie er den Hut abnimmt, den Schal, die Jacke. Wir haben Zeit, sagt er. Keine Eile. Wir waren schon weit weg. Jetzt sind wir da.
Er wartete auf die Begrüßung, beobachtete flüchtig andere Gäste, die an den Nebentischen saßen. Das Übliche, sagte er und kurz darauf standen zwei frisch gezapfte Biere vor uns. Eingeschenkt in den Gläsern, die nur wir beide bekommen. Dickwandig, bäuchig. Sie haben das bitter schmeckende Bier auch vor Jahrzehnten daraus getrunken. Die Landgrafen und Großbauern der Jahrhundertwende, deren Portraits jetzt die weiß verputzten Wände zieren.
Es war so:
Wir prosten uns zu, ich sehe das Leben in seinen Augen. Den Schalk sehe ich darin. So spricht man, wenn einem der Blitz aus den Augen fährt. Er greift in die Brusttasche seines Sakkos. Ich weiß, dass er dort zwei Zigarren aufgehoben hat. Sie werden für die Zeit reichen, in der wir hier das Bier genießen. Es ist alles richtig um uns herum. Wir wissen, dass die Frauen mit der gemeinsamen Arbeit in der Küche beschäftigt sind. Er liebt es, mich zu fragen, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm in die Stadt zu fahren. Ich warte auf seine Frage und liebe es, diese zu bejahen. Er gebraucht selten große Worte, um etwas erklären zu müssen. Es reicht mir vollkommen, ihn zu beobachten, um die Stille um ihn genießen zu können. Es freut ihn, wenn er mit Herr Direktor angesprochen wird. Wie früher. Wie nach dem Krieg, als er die Leitung der Volksschule übernahm. Er ist mein väterlicher Freund und ich habe ganz gewiss nur den Einen. Ein Zweiter würde an den, den ich in ihm gefunden habe, nicht herankommen. Als ich mir darüber bewusst wurde, waren ein paar Jahre vergangen. Wir beide sehen vieles mit denselben Augen. Ich möchte es so formulieren, da dies die Sache punktgenau trifft: Wir sind in grundsätzlichen Dingen einer Meinung. Und wir haben Respekt vor einander. Der Altersunterschied verliert seine Bedeutung. Meine Gefühle für ihn sind tief. Ich fühle mich wohl in seiner Gegenwart. Aus all den genannten Gründen fahre ich mit ihm in die Stadt und will die Stille um ihn erleben.
Sie hieß Tatjana, beginnt er.
Es war, als wir die Krim aufgeben mussten, als wir ahnten, dass es vorbei war. Es war Sommer. Sewastopol war zur Festung erklärt worden. Aber es liefen täglich Schiffe aus, mit Verwundeten, Sterbenden, schwerem Gerät. Sie brachte mich fast um den Verstand. Verstehst du? Sie zeigte mir den russischen Himmel und wir hielten uns ganz fest dabei. Sie erzählte mir, dass der Mond notwendig sei mit seiner Kälte. Sie war einer Wölfin ähnlich. Ihre Haut brannte danach, von mir berührt zu werden. Sie hatte das, das ich schon immer gesucht hatte. Ich war immer auf der Suche danach gewesen. Und dann hatte ich es gefunden. Bei ihr gefunden. Sie hatte eine Seele. Ich wusste, dass so etwas kein zweites Mal passieren würde.
Ich wäre ihr bis ans Ende der Welt gefolgt. Es war das Gefühl, miteinander etwas gefunden zu haben. Sie mit mir und umgekehrt. Sie war zwanzig Jahre jung und ihre Achselhöhlen rochen nach dem frisch gedroschenen Getreide dieses Sommers.
Er räuspert sich. Er hat im Rauch seiner Zigarre die Augen geschlossen. Ich hatte ihn nie weinen gesehen. Oder ich hatte nie darauf geachtet.
Die Flieger kamen über die Hügelkämme, fielen wie Morgennebel in unsere Bereitstellungen, sagt er. Sie war diese Nacht bei mir. Sie hat gesagt, dass sie mich liebt, dass sie wusste, dass ich ihr Mann wäre. Die Meisten schafften es in die Splittergräben. Ich habe nichts mehr von ihr gefunden. Nichts.
Es war der schönste Sommer meines Lebens. Es sind seitdem vierundfünfzig Jahre vergangen.
Danach:
Er schneuzt sich umständlich, zieht an der Zigarre, lässt zwei volle Biergläser vor uns hinstellen.
Wollen wir fahren, frage ich leise.
Nein, sagt er. Lass uns hier sitzen und über den Mond nachdenken.
Noch etwas, sagt er. Es geht seit einem halben Jahr. Der Stuhl ist voll Blut. Ich musste es loswerden.
Ich glaube seitdem daran, dass es magische Momente gibt. Dass sie wie verirrte Seelen auftauchen, unverhofft, sich mit dem Geruch der Wälder und dem Nebel über eine Stadt legen können. Dass sie in Achselhöhlen nisten, aus denen heraus schon der Gedanke an Flucht sinnlos wird. Dass sie mit den Fliegern heran getragen werden, nur zu dem Zweck, sich in surrenden Splitterschwärmen aufzulösen.
Es bleiben Momente. Daher besteht kein Anspruch auf Unendlichkeit.
Er hatte sie gehabt. Trägt sie mit in der Stille, mit der er sich umgibt.
Doch sie gehabt zu haben ist mehr, als Worte darüber zu gebrauchen. Worte ranken sich umständlich drum herum und werden zum ungewollten Dickicht.
Darum hat er geschwiegen. Sie ist seine Wölfin.