Seine Depression
„Sei vorsichtig“ meine Stimme war sanft, genauso sanft wie meine Finger, die über seine Schlüsselbeine glitten. Auf leichten Füßen tänzelte ich um ihn herum, darauf bedacht, kein störendes Geräusch von mir zu geben. Das leise Stimmengewirr klang hinter der schweren, dumpfen Holztür fast wie ein kleines Orchester, welches irgendwo da draußen, noch viel weiter im dichten Geäst verschwollen als wir es waren, spielte.
Jetzt stand ich wieder vor ihm, erst ganz nah, so dass ich nur mit einer kleinen Fingerbewegung über seine Wange streichen könnte, hinab zu seinen Lippen, hinauf in sein dichtes Haar. Doch ich bewegte mich rückwärts, ohne ihn dabei aus den Augen zu verlieren. Seine waren versunken, nicht in mir versunken, wie sie es sonst immer waren, nein, seine Augen starrten in das Glas vor ihm, starrten durch es hindurch, durch den Tisch, durch die Erde, sie bohrten sich durch diesen Planeten.
Ich wünschte mir, dass er sie gehoben hätte, in mir zu ertrinken drohte, es nicht versteckte, sondern es offen für jeden zeigte, der unseren Weg kreuzte. Aber er tat es nicht, selbst, als ich meine Stimme wieder erklingen ließ, den Raum damit erfüllte.
„Ich werde dir dein Herz brechen“ Jetzt doch, jetzt hob er seinen Blick, ließ mich auf seine grünen Augen blicken, ließ mich in diesen Genuss bringen, während er gleichzeitig seinen Atem anhielt. Und ich meinen. Er verzog mit keinem Wort seine Miene, wie in Stein gemeißelt, als sich seine Lippen sanft öffneten und schlossen.
„Schon längst gebrochen“ Er starrte in mich, durch mich, als wäre da an meiner Stelle nichts als Luft, Luft, die mit ihm sprach, Luft, die ihn an etwas schreckliches zu erinnern schien, Luft, die ihn darin erinnerte, dass er sie atmen musste, dass er weiter atmen müsste, egal, was er versuchte, dagegen zu tun.
Schnell schritt ich wieder auf ihn zu, legte meine Hand auf sein Brust, doch er, er riss sie von sich, so dass meine Finger ins Leere glitten.
„Dort schlägt schon lange nichts mehr“ Sein eiskalter Blick löste sich von mir, er griff nach seinem Glas, schüttete den Inhalt hinunter. Sein Gesicht verzog sich nicht, so wie es sich immer verzogen hatte, wenn er seine Sorgen hinunter gespült hatte, wenn er versucht hatte, seine Speiseröhre weg zu ätzen, oder doch wenigstens versucht hatte, seine innere Kälte zu vertreiben.
Endlich schwebten meine Finger nicht mehr in die Leere, sondern ich zog sie an mich, umklammerte sie, als hätte er sie mir gebrochen, ausgerissen.
Mit einem Klirren ließ er das Glas auf den massiven Tisch fallen, es dauerte, bis es seinen Mittelpunkt gefunden hatte.
„Dort schlägt schon lange nichts mehr“ flüsterte er erneut, zu sich selbst, nicht zu mir. Er goss sich das nächste Glas ein, schüttete es sich in den Rachen, ein Schluck nach dem anderen. Sein Atem füllte den Raum, so dass es mir vorkam, als würde alleine das Atmen der gleichen Luft, meine Sinne vernebeln, mich langsam davon gleiten lassen, so wie es ihn davon gleiten ließ.
Er schaute wieder zu mir hinauf, seine Augen so groß wie die eines Rehes, gebannt von dem Scheinwerferlicht, doch unfähig sich zu bewegen.
„Hast du ein Problem? Seine Miene zeigte keine Regung, seine Augen waren Eisblöcke im tiefsten Winter.
„Glücklich oder traurig?" Meine Stimme war heiser, trotzdem bestimmend, so wie er es mochte, auch wenn er es vielleicht nicht zu geben wollte.
„Spiel nicht mit mir“ Ein Tropfen der hellen Flüssigkeit bahnte sich den Weg aus dem schweren Glas, hinab zu seinem Kinn, ehe es geräuschlos auf seine Hose prallte, und einen unschönen Fleck hinterlassen würde.
„Ich spiele nicht mit dir“ gab ich zurück, zurückgelehnt an die Kante des Tisches, doch immer noch trennten uns wenige Zentimeter, immer noch musste er zu mir herauf schauen.
„Du spielst nur mit mir“ Jetzt verhärtete sich seine Miene, seine Züge schienen ihm zu entgleiten, seine aggressive Stimmung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er holte seine Packung Zigaretten aus seinem Mantel, zündete sich eine an, blies den Rauch in die Luft, in meine Richtung, weil er dies immer tat, er wusste, dass es mich störte. Doch ich bewegte mich nicht, genauso wenig, wie sich mein Gesicht nicht regte, nicht zuckte, mir nicht entglitt. Weil ich wusste, dass er es nicht mochte.
„Ich spiele nicht mit dir“ Diesmal wiederholte ich mich, seine Reaktion war ein verächtliches Schnauben, ein Zug an seiner Zigarette, das Erklingen seiner kratzigen Stimme.
Seine Hände bewegten sich im Takt seiner Worte, ausdrucksstark, angst-einflößend.
„Du spielst mit der ganzen Welt“ Die Worte erfüllten das gesamte Zimmer, doch klangen nach hinten ab. „Als wäre die Welt nur ein Spiel für dich“
Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, einem Grinsen. „Traurig oder Glücklich“
Das Glas rauschte wenige Zentimeter an meinem linken Ohr vorbei, knapp verfehlte es den Stuhl hinter meinem Rücken, schlug mit einem betäubendem Lärm gegen die weiße Wand, zerplatzte, spritzte die übelriechende Flüssigkeit durch den Raum, ließ die Scherben auf den Boden aufschlagen. Er war aufgesprungen, war nur Millimeter von mir entfernt, sein Atem war schwer, warm, ich konnte ihn in meinem Gesicht spüren, an meinen Lippen, in meinem Mund.
„Traurig“ Seine Lippen berührten fast meine, als er sie bewegte, darauf bedacht, seine Augen nicht von meinen zu lösen, darauf wartend, dass ich einen Fehler beging, mich versuchte von ihm abzuwenden, die Angst sich in meinen Zügen widerspiegelte, doch ich beging keinen Fehler, so sehr er darauf hoffte.
Er berührte meine Wange, wanderte mit seinen Fingern darüber, hinunter zu meinem Kinn, welches er umschloss, nach oben regte, während er versuchte, in meine Knochen einzudringen, sie zu zermahlen, zu zerdrücken. „Traurig“ sprach ich ihm nach, zog das Wort lang, ließ es mir aus meiner Zunge zergehen. Seine Augenlider schienen kurz zu flackern, dann ließ er von mir ab, wandte mir den Rücken zu, tigerte im Raum auf und ab. Er versuchte seinen Mittelpunkt wieder zu finden, so wie das Glas, nur lag dieses nun zerbrochen, zerplatzt in der dreckigsten Ecke des Zimmers, ohne jegliche Beachtung. Er würde genauso enden, seinen Mittelpunkt niemals wirklich finden, alleine in der dunkelsten Ecke verkommen, ohne jegliche Aufmerksamkeit, ohne überhaupt, dass irgendjemand sein Elend vernahm. Ohne mich, da würde da nichts mehr sein, nur noch Leere, vollkommene Leere, ohne mich da wäre nichts mehr da, deswegen kam er zurück, zurück zu mir getigert, mit großen langen Schritten, schaute mich wieder an, als würde er in mir ertrinken, als würde er in mir, mit mir untergehen, als wäre ich das einzige, einzig wichtige in seinem Leben.
Und das bin ich, denn ich, ich bin der dunkle Schatten seiner Seele, der ihn nährt, ihn füllt, ihn mästet, bis er soweit ist, bis er sich von mir schlachten lässt, sich wirklich in meine Arme wirft, sich mir voll und ganz hingibt.
Denn ich, ich bin der dunkle Schatten, seine dunkle Gestalt, seine Depression.