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Sein Schwarzes Licht
Die Schreie des Ketzers eilten durch die Gänge des Tempels. Sie kletterten die schwarzen Säulen hinauf zum dunkelblauen, sternenübersäten Deckengewölbe. Sie stürzten sich Treppenfluchten aus rotem Marmor hinab, schlüpften durch Türen und Fenster, füllten jeden Winkel der Anlage mit ihrem Klagen. Wo immer sie hinkamen, schauten Akolythen, Adepten und Priester kurz auf, nickten einander aufmunternd zu und wandten sich mit doppelter Energie wieder ihren Aufgaben zu. Die Schreie hasteten weiter, drangen durch freskengeschmückte Wände, überwanden alle Hindernisse ...
... und erreichten schließlich Maras Kammer. Die Hohepriesterin lauschte einen Moment und verharrte in ihrem ruhelosen auf-und-ab-Laufen. Es ist fast soweit.
Beinahe hätte ihr schwacher Körper die Tortur nicht überstanden. Seit dem frühen Morgen hatten die Diener Mara nach alten Überlieferungen gereinigt, sie massiert, im Schlamm gebadet, im weißen Rauch getrocknet, mit glühenden Stäbchen alle überflüssigen Härchen ihres Körpers verbrannt. Gegen die Schmerzen hatte Lorn ihr wieder ein Gemisch aus Weidenrinde und Hanf angeboten, aber sie hatte abgelehnt. Es wirke schon lange nicht mehr richtig und heute konnte sie sich keinen benebelten Kopf leisten. Außerdem fühlte es sich nicht richtig an. Diesen Tag wollte sie so intensiv wie möglich erleben.
Schließlich klopfte einer der stummen Diener an die Tür. Endlich. Mit einem letzten Durchatmen straffte sich Mara und trat hinaus auf den Gang.
Als sie vorüberging, fielen in kleinen Nischen zwischen den Säulen Angehörige aller Rassen Elúsias auf die Knie. Gemeinsam bildeten sie Maras Ehrenspalier, keine Selbstverständlichkeit in dieser von Vorurteilen zerrissenen Welt. In SEINEN Augen war kein Platz für derartigen Unsinn.
Vor dem zweiten Alkoven blieb Mara stehen. Eine fremdartige Gestalt kniete hier und Mara streichelte ihre tätowierte Wange. Trotz der entstellten Gesichtszüge konnte sie den Stolz über diese Auszeichnung in den Augen der jungen Shrëddôk aufblitzen sehen. Der gesamte Körper war mit Zeichnungen geschmückt, Knochensplitter und kleine Metallstücke überall durch die Haut gestochen; kaum ein Fleck war frei, der die wahre Hautfarbe erraten ließe. D’Kra war die erste Angehörige ihres verfemten Volkes im Tempel. Um hierher zu kommen hatte das Mädchen eine halbe Welt angefüllt mit Feinden durchquert. Der Herr des ewigen Lebens würde sie eines Tages reich belohnen für ihre Treue.
Die Schmerzen wüteten in ihrem Unterleib schlimmer denn je. Plötzlich zitterte Mara, und suchte mit ihrer Hand Halt an einer Säule. Unruhe breitete sich unter den Akolythen aus, aber niemand wagte es, sich zu bewegen. Einen Moment hielt Mara den kühlen Stein der Säule fest und sammelte sich.
Sie starb. Seit Tagen konnte Mara nichts mehr bei sich behalten, spuckte immer wieder Blut. Aber das war ohne Bedeutung. Nur, dass es in einer für ihren Orden so wichtigen Zeit geschah, war ärgerlich. Aber auch für das Problem ihrer Nachfolge hatte sie noch eine Lösung gefunden.
Der Ketzer heulte wieder, sie sollte sich besser beeilen. Das Zittern ließ nach und als sie weiterging, verebbte die Unruhe in ihrem Rücken. Ihr ganzes Leben steckte in diesen Mauern und – was noch wichtiger war – im spirituellen Eifer der zu ihr aufblickenden Augen. Mit ihrem reichen, geerbten Vermögen hatte sie diesen Tempel wieder aufgebaut. Als die Ungläubigen zu triumphieren schienen hatte Mara den Orden hierher geführt, wo er fern der Zivilisation wieder erstarkt war. Ihre Feinde mochten sie für einen leibhaftigen Dämon halten, mochten sie hassen wie den Tod selbst – hier war sie eine Heilige.
Geräuschlos öffneten Diener vor ihr das Tor zum Ritualraum. Sie war am Ziel.
Wie der gesamte Tempel wurde der schlichte, eiförmige Raum von Säulen getragen. Tiefviolette Schriftzeichen leuchteten aus dem schwarzen Marmor, veränderten sich ständig in fließenden Bewegungen, rezitierten heilige Verse und lobpreisten Mergon. Die lebende Schrift war die einzige Lichtquelle, sie flutete den Raum mit SEINEM Schwarzen Licht. Kein Lebender konnte das Licht direkt sehen, aber es regte die weißen Maserungen im marmornen Fußboden, die Symbole auf den Kutten der Priester und ihre blasse Haut zum Leuchten an. Insgesamt war der Raum gerade ausreichend erleuchtet. Zwischen den Säulen warteten zwölf Adepten; sie waren schon länger im Tempel als die Akolythen draußen im Gang und durften deshalb am Ritual teilnehmen. Vor ihnen lagen auf Tischen aus rotem Marmor die Opfergaben. Am spitzen Ende des Ovals, direkt gegenüber dem Tor, stand leicht erhöht die überlebensgroße Statue des Einhorns, SEINE Gestalt in dieser Welt. Davor stand der Altar mit dem an Armen und Beinen festgeketteten Gefangenen. Ein würdiger Ort für diesen Tag.
Überraschung zeichnete sich auf dem noch knabenhaften Gesicht des jungen Kriegers ab. Mara musste lächeln. Wer nur ihren Ruf kannte, erwartete fast zwangsläufig eine hagere, harte Frau zu sehen, deren Augen vor Fanatismus flackerten. Stattdessen erblickte der Gefangene nun ihre trotz allem noch immer runde, gemütliche Gestalt – ein Kontrast, den sie immer wieder zum Vorteil der Gemeinschaft einzusetzen gewusst hatte.
Sie ließ sich Zeit, nickte erst jedem einzelnen Adepten zu und begrüßte ihre zwei Gehilfen. Nach ihr selbst waren Krish und Lorn die obersten Priester des Ordens; dass sie heute die einfachen Handreichungen übernahmen, war Ausdruck der besonderen Bedeutung dieses Tages. Mit beiden verband Mara eine jahrelange Freundschaft, obwohl ihr Krish natürlich noch wesentlich näher stand. Alle wussten, dass sie noch immer hin und wieder das Bett miteinander teilten.
Auf einem kleinen Tisch neben dem Altar standen ein Topf mit Salbe und eine Schale mit heiligem Wasser, daneben lagen eine Nachtklinge und eine silberne Kette – die alles entscheidende Seelenkette. Die benötigten Utensilien.
Auf ein Zeichen ihrer Hände knieten alle bis auf den Gefangenen nieder. Adepten und Priester stimmten einen ehrwürdigen Choral an, ihr Gesang hallte von der gewölbten Decke wider und das Ritual begann. Mara schwieg noch einen Moment. Alle Nervosität fiel von ihr ab und eine vertraute Ruhe erfüllte sie. Dann erhob auch sie ihre Stimme. Wie in einem Kanon, in dem sie als einzige an einer anderen Stelle im Text war, fiel sie in einen lauten Sprechgesang ein, übertönte den Chor und nahm zugleich seinen Rhythmus auf.
Der Choral rief als Einleitung des Rituals Mergons Aufmerksamkeit und Schutz herbei – und half den Adepten, die Welt um sich zu vergessen, sich ganz in ihre Aufgabe zu versenken.
Maras Stimme füllte jeden schattigen Winkel der Halle, wie so viele Male zuvor. Plötzlich rann ein Schauer über ihren Rücken, die Stimmen der Adepten überschlugen sich in Ekstase. Ohne aufzuschauen wusste sie, was geschehen war. Das eine verbliebene Auge des Einhorns hatte zu leuchten begonnen. Mergon war gekommen, dem Ritual beizuwohnen. Sie hätte diese Bestätigung nicht gebraucht, sie brauchte nichts, um sich Mergons Schutz sicher zu sein. Er war immer da, wenn sie ihn brauchte. Aber es war eine große Ehre für sie und ihre Priester. Für alle, die jahrelang auf diesen Tag hingearbeitet hatten.
Der Choral endete und der Orden verharrte einen Moment schweigend. Nur der Ketzer störte die Stille. Er schrie sich die Seele aus dem Leib, zerrte an seinen Ketten und versuchte hilflos, dem Auge des Gottes zu entkommen. Schließlich erhoben sich alle und der Gesang setzte von neuem ein, ruhiger diesmal. Mara wandte sich an den Gefangenen.
„Kirgan, im Namen Mergons, des Herrn des ewigen Lebens, frage ich dich: Schwörst du deinen falschen Göttern ab und erkennst in Mergon deinen Herrn in diesem und im nächsten Leben?“
Der Ketzer antwortete zuerst nicht, zerrte statt dessen weiter mit aller Kraft an seinen Ketten.
„Niemals“, presste er schließlich hervor. „Nera wird mir beistehen.“
Mara hatte keine schnelle Unterwerfung erwartet. Die einleitende Frage war ein wichtiger Bestandteil des Rituals und die Blasphemie, hier im Tempel einen fremden Gott anzurufen, legte für alle hörbar den hoffnungslosen Zustand des Ketzers offen. Trotzdem – sie hatte den Fanatismus dieser jungen Paladine nie verstanden.
„Ungläubiger, warum verachtest du die Nacht, die den Frieden bringt?“
Der Gefangene zögerte, schien die Ernsthaftigkeit der Frage abzuwägen. „Weil La-Ira, die das Leben und die Tugenden bringt, fort ist und mit Neras Abenddämmerung der Mut in den Herzen der Männer sinkt. Die Dunkelheit aber gebiert Albträume. Alpträume wie die dort.“ Er blickte auf ihre beiden Priester. „Oder wie euch.“
„Die Nacht mag dunkel sein“, ignorierte sie die Beleidigung, „aber in der Dunkelheit ist Platz für tausend Lichter. Wieso verlangen deine Götter den Himmel für sich allein?“
Aus dem Augenwinkel sah Mara Krishs besorgtes Gesicht. An dieser Stelle war kein theologischer Disput vorgesehen. Er hat recht, diese Debatten führen zu nichts. Sie führen nie zu etwas und hier ist nicht der Ort für leeres Geschwätz.
Der Ketzer wollte gerade antworten, da wiederholte Mara ihre Frage:
„Ich frage dich noch einmal: Was zögerst du? Sieh, SEIN Auge ruht auf uns, ruht auf dir. Erkenne Mergons Herrlichkeit und lebe in seinem Schatten auf ewig.“
Der Gefangene leckte seine Lippen. Einen Moment hing alles in Balance, all die Vorbereitung. Dann fasste der Ungläubige sich und begann, lautstark nach seinen kleinen Göttern zu rufen. Gut. Alles andere wäre ... schwierig gewesen.
„Ihr hört den Ketzer, SEIN Auge streicht über diesen Ungläubigen, doch er bleibt stur und verblendet!“, wandte sich Mara an die Adepten. „Lasst uns beginnen mit dem Ritual beginnen.“
Die Schriftzeichen auf den Säulen änderten sich und der Tonfall des Chorals nahm einen anderen Rhythmus an.
„Mergon, sieh herab auf uns, deine Kinder ...“
Zuerst musste der Ring vom Finger des Ketzers entfernt werden. Als er ihn zum ersten Mal überstreifte, hatte der Gefangene seine Seele dem Irrglauben verschrieben; ihn zu entfernen, war keine leichte Aufgabe. Krish hielt den Topf mit Salbe bereit und Mara holte ein wenig der im schwarzen Licht blau schimmernden Masse hervor. Der Ketzer versuchte, das Unvermeidliche zu verhindern und ballte die Hand zur Faust.
Auf Maras Wink begann Krish, die Finger einen nach dem anderen aufzubiegen.
„Vorsicht, verletz ihn nicht.“ Krish nickte bloß. Den übermenschlichen Kräften ihres Priesters konnte der austrainierte Krieger nichts entgegensetzen und bald presste Krish die ausgestreckten Finger auf den Marmor. Mara fing an, die Salbe aufzutragen, und der Ketzer begann zu schreien. Aber diesen Schmerz teilten sie: Als Mara nach dem Ring griff, biss die verfluchte Magie in ihre Hand, der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Nur in winzigen Stücken rutschte der Ring weiter.
Der Ketzer schrie, kreischte in Agonie nach seinen hilflosen Göttern. Weder Neras Tapferkeit noch La-Iras Tugend würden ihn hier retten. Mara bezweifelte, dass die beiden leuchtenden Geschwister jemals auf das Geschrei ihrer Anhänger hörten. Mara empfand fast Mitleid mit soviel fehlgeleiteter Hingabe.
Als der Ring mit einem Ruck über das Gelenk glitt, hätte sie ihn um ein Haar fallen lassen. Schweiß lief ihr von der Stirn, als das widerwärtige Metall brannte in ihrer Hand. So etwas durfte auf keinen Fall den Boden ihres Tempels besudeln. Lorn hielt einen kunstvoll verzierten Schädel bereit, dessen Stirn sich aufklappen ließ. Doch bevor Mara den Ring in das Behältnis legte, steckte sie ihn trotz der Schmerzen hoch in die Luft. Alle Adepten sollten ihren Erfolg sehen. Wieder wurde der Gesang eine Spur lauter und ekstatischer, hallte wie ein gefährliches Grollen zwischen den Säulen.
Ein dünner Faden Blut lief aus einer Wunde in Maras Hand, an mehreren Stellen war die Haut wie verbrannt. Lorn wollte seine Heilungsmagie wirken, aber sie ließ es nicht zu, begrüßte die Schmerzen. Die Würde einer vollbrachten Tat haftete ihnen an und für einen Augenblick verdrängten sie den nutzlosen Schmerz in ihren Eingeweiden, gegen den Lorn schon lange nichts mehr ausrichten konnte.
Jetzt waren die Symbole auf seiner Haut an der Reihe. Und dann würde der eigentliche Kampf beginnen.
Krish reichte ihr die Schale mit heiligem Wasser. Es war seit Wochen immer wieder gereinigt und auf diesen Moment vorbereitet worden. Mara badete ihre Hände in der wertvollen Flüssigkeit und begann, die Essenz über die unheiligen Symbole zu verstreichen. Sofort bäumte sich der Ketzer auf, krampfte zusammen. Das Wasser musste auf seiner Haut brennen wie Säure.
Als sie sich den beiden Geschwistersonnen auf seinen Wangen näherte, schnappte der Ketzer nach ihr wie ein wildes Tier, versuchte, sie zu beißen und erwischte beinahe einen ihrer Finger. Lorn packte den Kopf des Gefangenen mit beiden Händen und presste ihn auf den Altar.
Zärtlich, mit unendlich viel Geduld wusch sie den sich windenden Körper wieder und wieder in dem heiligen Wasser und allmählich verblassten die Zeichnungen. Schließlich sank der Ketzer befreit von den Symbolen seines Irrglaubens zurück. Er weinte, aber das war zu erwarten.
Auch Mara schwindelte und stützte sich müde auf den dunklen Marmor des Altars. Nicht nachlassen, noch nicht. Es ist fast getan. Einen Moment sammelte sie sich, badete bewegungslos im Licht seines Auges und lauschte dem Choral der Adepten.
„Jetzt Krish.“ Sie nickte ihrem ersten Priester zu und Krish griff nach der bereitliegenden silbernen Kette.
Alles, was mit diesem Ritual zu tun hatte, war aufwendig vorzubereiten gewesen, die anderen Elemente waren jedoch nicht wirklich neu. Mara hatte schon häufig Zeichen fremder Götter und Dämonen von geschundenen Körpern entfernt und die Salbe war Bestandteil vieler Rituale. Die Kette war einzigartig. Ihre Herstellung zu erforschen, hatte Jahre gedauert. Reinstes Silber war aus fernen Minen herangeschafft, Wasser aus den tiefsten Schattenhöhlen geschöpft worden. Neue Gebete hatten die Priester geschrieben, neue Zauber die Magier erst erdacht und dann gewirkt. Viele Opfer waren dargebracht worden. Diese Kette hatte den ganzen Tempel über Jahre beschäftigt, und heute sollten sich ihre Hoffnungen erfüllen, ihre Planungen auszahlen. Wenn alles gut ginge, bliebe sie als neue Reliquie im Tempel, und kündete auf ewig von SEINER Macht.
So lang wie ihre ausgestreckten Arme endete die Kette an beiden Seiten in einem Silberhalsband. Krish blickte Mara einen Moment direkt in die Augen, suchte nach Zweifel. Er fand keinen, öffnete eines der beiden Halsbänder und legte es ihr um. Das Band war zu groß, aber die Magie ließ den Ring schrumpfen. Das Metall floss um ihre Haut, schmiegte sich an sie, als sei es nur für sie geschmiedet. Was ja auch der Fall war.
Der Ketzer hatte die Szene beobachtet und als Krish ihm das andere Halsband anlegen wollte, schüttelte er den Kopf, warf sich hin und her. Ein letztes Mal versuchte er, sich zu wehren. Aber der Paladin war schwach geworden und bald waren Mara und er über ein Band aus Silber miteinander verbunden.
Krish hielt jetzt den Mittelteil der Kette hoch in die Luft, das eine geöffnete Kettenglied leuchtete in einem schwachen, magischen Licht. Lorn trat hinter Mara und fasste ihre Arme. Sie wappnete sich. Der Chor erreichte immer neue Höhen. Das rote Auge schaute auf sie herab, übergoss sie mit SEINER Ruhe. Jetzt, Krish, dachte sie. Jetzt. Mit einer kleinen Bewegung seiner Finger schloss Krish die Kette.
Der Tempel verschwand. Krish, Lorn, die ganze Welt, alles verschwand. Nichts war da als ihre eigene Dunkelheit und ein unerträgliches, grelles Licht. Ihr Ziel, ihr Feind. Sie hatten vorher nicht gewusst, wie sich das Duell manifestieren würde, dies war Neuland für sie alle.
Mara griff an. Immer wieder schlug sie mit ihrem ... Schatten? Ihrem Schatten? ... auf das Licht ein, riss an seiner Verankerung. Es begann, sich zu wehren, verbrannte sie mit Hitze, blendete sie mit Helligkeit.
Kurz sah Mara ein kleines Mädchen vor dem Scheiterhaufen seiner Eltern. Weitere Feuer leuchteten überall in der Nacht, verbrannten die Opfer von Masiras Fluch, der großen Seuche, die seit bald einem Jahr ganze Dörfer leerfegte. Voll Wut schrie das Mädchen einen Priester in hellen, lichten Roben an, stellte Fragen, die nicht gestellt werden durften, verlangte nach Antworten, die es nicht bekam. Der Priester schüttelte den Kopf, wich zurück. Das Mädchen schrie weiter. Auf einmal hob der Priester die Hand, schlug das Kind und wanderte davon. – Lange her, eine andere Zeit, lange hinter ihr. Welche Antworten hätte er schon geben können?
Der Kampf wogte hin und her, Licht gegen Schatten, Hitze gegen Kälte, schwarz gegen weiß. Das Licht war sengend heiß und unendlich grell. Mehrfach war Mara am Rand einer Niederlage, fühlte ihren Schatten weichen. Aber immer, wenn sie wankte, wenn sie fliehen und sich wimmernd in der Dunkelheit verstecken wollte, sah sie den Scheiterhaufen, sah sie den Priester einfach davongehen. Jedes Mal stieg mit neuer Wut auch neue Kraft in ihr auf.
Zuletzt begann das Licht zu flackern. Ihre größere ... nicht Entschlossenheit, ihre größere Wut gewann die Überhand. Noch einmal bäumte sich das Licht auf, erstrahlte heller als je zuvor, dann fiel es zu einem Funken zusammen. Mit einer letzten Anstrengung stieß Mara das schwache Glimmen vom Sockel und nahm selbst seine Stelle ein. Es war vollbracht. Der Funke trieb im Nichts davon.
Als Mara die Augen öffnete, sah sie über sich die Decke des Tempels. Unbekannte Gefühle verwirrten sie, nur allmählich wurde die Welt klarer.
Sie war auf dem Altar festgekettet. „Mach mich los, Krish.“
Ihr Priester zögerte.
„In Mergons Namen, dem Gott des ewigen Lebens, dem ich diene in diesem Leben und im nächsten, öffne die Ketten.“
Ihr Glaubensbekenntnis überzeugte Krish und er gehorchte. Ein erleichtertes Lächeln, wenn ein Untoter zu so etwas fähig war, huschte über sein Gesicht.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, Erste.“ Hier im Ritualraum hielten sie an der formellen Anrede fest.
„Ich mir auch, Krish, ich mir auch.“
Sie legte dem Lichlord die Hände auf die Schultern und richtete sich auf. Im Schwarzen Licht leuchtete der Knochen seines blankliegenden Schlüsselbeins bläulich, auch sein Schädel war teilweise skelettiert, aber das spielte keine Rolle. Sie hatte ihn aufwachsen sehen, in Mergons Dienst leben und schließlich sterben. Erst war Mara Mutter für den verwahrlosten Jungen gewesen, später die Geliebte des aufstrebenden Priesters, zuletzt des mächtigen Untoten. Wie sich ihre Beziehung nun entwickeln würde, war schwer vorauszusagen. Vielleicht würde Lich sie in Zukunft ab und zu in Gestalt eines toten Mädchens besuchen.
Sie schaute an ihrem neuen Körper herunter. Er war jung und kräftig. Und ... männlich. Ein seltsames Gefühl, sie – nein, er – müsste sich erst daran gewöhnen. Tatsächlich glaubte er, es zu mögen.
„Ihr werdet mich in Zukunft wohl mit „Erster“ anreden müssen, wie es aussieht.“
Krish grinste mit seinem halben Gesicht. „Wie ihr meint Erste ... Erster.“
Es war Zeit, das Ritual zu vollenden. Lorn hielt noch immer den zusammengesunkenen Körper fest, der so lange der seine gewesen war. Die alte Frau murmelte irgendetwas vor sich hin. Oder vielmehr murmelte das, was vom Paladin übrig war.
„Gib mir den Dolch.“ Krish reichte ihr die Nachtklinge. Die schwarzen Klingen waren SEINE geweihten Waffen, wer durch sie starb, würde sich wieder erheben – so oder so. Mara – er würde auch einen neuen Namen brauchen – ergriff die schwarze Klinge, legte sie auf seine ausgestreckten Hände und streckte sie einen Moment hoch über den Kopf. Dann fasste er den Griff, zog die Klinge nach unten und küsste das vor ihm aufgerichtete Blatt. Es war der für alle erkennbare Beweis für den Erfolg des Rituals, der Beweis, wer jetzt im Körper des ehemaligen Paladins wohnte. Jeden Ungläubigen, jeden Unwürdigen, hätte dieser Kuss sofort getötet.
Statt dessen hob Mara die Stimme. Sie war seltsam tief, aber auch das war eine Frage der Gewöhnung.
„Es ist vollbracht.“ Die Gemeinde wiederholte seine Worte.
„Mergon war mit uns.“ Erneut das Echo der Gemeinde.
„Lasst uns das Ritual vollenden und unsere Opfergaben darbringen!“
Mit der Nachtklinge in der Hand wandte Mara sich um. Lorn richtete seinen alten Körper auf.
„Kirgan, kannst du mich hören?“
Keine Reaktion.
Er packte in sein eigenes, noch heute morgen kunstvoll gekämmtes Haar und riss den Kopf nach hinten.
„Kirgan? Du wirst jetzt sterben. Willst du Mergon als deinen Gott anerkennen und wiedergeboren werden oder zergehen?“
Der ehemalige Paladin war am Rande der Bewusstlosigkeit und schien das Geschehen nicht mehr wirklich zu begreifen. Etwas flackerte in den verwirrten Augen, doch dann drehte er einfach den Kopf beiseite und wimmerte vor sich hin.
Um so besser. Mara hätte seinen eigenen Körper nur ungern hier unter den niederen Tempeldienern gesehen. Mit einer Hand bog er den Kopf noch weiter nach hinten und zog die Nachtklinge quer über die bloß liegende Kehle. War er wirklich so hinfällig und schwach gewesen? Blut schoss aus der Wunde, besudelte Mara und Lorn. Der Vampir schaute unverkennbar hungrig auf die rote Flüssigkeit, aber er würde sich gedulden müssen. Später könnte er seinen Hunger im Zellentrakt tief unter dem Tempel stillen.
Gleichzeitig mit Mara hatten auch die Adepten ihre Nachtklingen aus den Gewändern gezogen. Keines der Opfer auf den Tischen vor ihnen war angekettet, sie alle waren Freiwillige, die an diesem besonderen Tag ihres alten und neuen Oberhaupts sterben wollten. Sterben und wiedergeboren, denn die sich als würdig erwiesen hatten, würde Mergon reich belohnen. Der Rest ergänzte als hirnlose Wiedergänger das Heer der Tempeldiener.
Kein Stöhnen, kein Geräusch war zu hören, als die Dolche ihre Opfer nahmen. Während das Blut von dreizehn Leichen auf dem Boden des Ritualraums zu einem See zusammenfloss, kniete Mara vor der Statue des untoten Einhorns nieder und wartete. Noch immer leuchtete aus dem zur Hälfte skelettierten Kopf SEIN Auge auf ihn herab. Die Adepten traten nach dem Opfer in ihre Alkoven zurück und stimmten einen neuen, ruhigen Choral an.
Er kannte alle, die jetzt ihr neues Dasein in seinem Segen begannen, hatte sie über Jahre in ihrem Glauben gestärkt, durch ihre Zweifel begleitet. Er war stolz auf die Seinen. Wie sehr hatte er gehofft, auch endlich seinen verdienten Platz in den Reihen der Unsterblichen einnehmen zu dürfen. Aber der Orden brauchte einen lebenden Anführer, das war in bestimmten Situationen von Vorteil. Und die Priesterin, die wie keine andere sich als fähig erwiesen hatte, Mergons Kinder in schwierigen Zeiten zu leiten, würde sie nun für eine weitere Lebensspanne führen. Vielleicht nächstes Mal, so in sechzig Jahren.
Einige der Toten begannen, sich zu bewegen, aus anderen stiegen diffuse, im schwarzen Licht bläulich leuchtende Nebel auf und formten sich zu Geistern. Mergon, der Herr des ewigen Lebens für seine Kinder, der Herr der Untoten für seine Feinde, die wie Staub im Wind vergehen würden, hatte seine Urteile gefällt.
Aus Maras altem Körper stieg eine andere Art Nebel: Ein düsterer, schwacher Geist versuchte, über der Leiche Form anzunehmen, aber etwas zog die Seele des Ketzers unerbittlich zur nächsten Säule hin; schließlich verschwand sie mit einem kläglichen Aufheulen im Gestein. Die Mauern des Tempels hielten die Seelen aller Ungläubigen gefangen, die hier starben. Sie speisten die Magie des Tempels, ernährten SEIN schwarzes Licht und wurden dabei langsam verzehrt.
Das Auge verlosch.
Der junge Mann, der einst Mara gewesen war, die gefürchtete Hohepriesterin der Untoten, holte tief Luft. Vor ihm lagen große Aufgaben.