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SeidelSassel
An unserem Briefkasten stand Seidel/Sassel. Ich war Sassel, sie war Seidel. Auf der Straße beobachtete ich sie mit ihrer kleinen Schwester und einer Freundin vom Fenster. Die immerwarme Sonne schien erbarmungslos aus dem wolkenlosen Himmel. Drinnen war es zu heiß. Meine Mutter befahl mir raus zu gehen. Ich kletterte auf die Garage und schmiss Wallnüsse und Steine herunter oder knackte die Wallnüsse mit den Steinen oder klopfte und kratzte mit einem Stein auf der Garage umher. Denn es war verboten auf die Garage zu klettern.
"Was machst du da auf der Garage?" Ich wollte schon herunterspringen, aber das war nur die Stimme der Seidel. "Ich genieße die Aussicht!" "Wie sieht es denn da oben aus?", wollte die Seidel wissen. "Schön", sagte ich und war mit meiner Antwort nicht zufrieden. "Du darfst nicht auf die Garage!", sagte sie. "Traust du dich nicht hoch?", fragte ich. Jetzt sagte sie nichts mehr, sondern kletterte hoch und ließ ihre Beine in das Seidelgrundstück hängen. So saßen wir lange Zeit auf der Garage, sie auf ihrem Teil des Grundstücks und ich auf meinem. "Hier ist es langweilig.", stellte sie schließlich fest und kletterte wieder von der Garage. "Warte!", schrie ich verzweifelt. "Komm' wieder hoch, ich zeig dir was!"
Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich überwunden hatte so tief auf den Kompost zu springen. "Na, traust du dich das auch?" Sie sprang und ich hatte ehrfurcht vor ihr. Dann sprang ich nochmal und sie nochmal und wir kletterten immer wieder auf die Garage und sprangen. Aber dann, als ich kletterte, hörte ich plötzlich einen Aufschrei. Von der Garage konnte ich sie sehen, sie saß neben dem Kompost und weinte und ihre kleine Schwester stand in der Tür. Ich fühlte mich schrecklich und hätte die Schwester am liebsten festgehalten, als sie ins Haus lief. Mein Herz pochte. Ich stürzte zu meinem Teil der Garage zurück, kletterte hinunter und rannte ins Haus und fühlte mich schlecht.
Ich hörte, wie ihre Mutter mit der Seidel schimpfte. Sie schimpfte laut und unsere Wände sind dünn, so dass sie mit mir statt mit der Seidel schimpfte. Dann sah ich sie im Seidelgolf wegfahren. Die Seidelschwester blieb allein auf der Straße stehen und guckte zuerst dem Fahrzeug nach und dann zu meinem Fenster. Wie ein unschuldiger Racheengel guckte sie. Es war mir egal, ob sie ihrer Mutter schon erzählt hatte, dass ich an allem schuld war. Ich hasste sie.
"Hast du gehört? Die Seidel hat einen Schlüsselbeinbruch, weil sie von der Garage gefallen ist!", erzählte mir der große Timo zwei Tage später beim Fußballspielen. Ich wusste zwar nicht, was ein Schlüsselbeinbruch war, aber zuckte zusammen. "Woher weißt du das?", wollte ich wissen. "Meine Mutter ist doch mit der Mutter von der Seidel befreundet!", antwortete Timo gelangweilt. "Und weißt du auch, wer die Seidel da runter gestoßen hat?", wollte ich wissen. "Heruntergestoßen? Du kennst doch die Seidel, die bricht sich ständig etwas."
Die Sonne konnte tausendmal so heiß scheinen und die Mutter brüllen so oft sie wollte. Ich ging nicht mehr nach draußen. Mit einem Schlüsselbeinbruch war nicht zu spaßen. Draußen spielten die Kinder und waren fröhlich, aber ich musste in meinem Zimmer bleiben. Sie wussten es ja alle.