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Sei wachsam
„Pass gut auf deinen Geldbeutel auf“, hatte der Vater ihm eingeschärft. „In der Stadt treibt sich viel Gelichter herum. Mir nichts, dir nichts ist so eine Börse da vom Gürtel geschnitten.“ Ja, Roderich war wachsam. Schützend hielt er den Beutel in beiden Händen geborgen vor der Brust, als er sich seinen Weg durch das Gewirr der Marktbuden bahnte.
Überall um ihn herum waren fremde Menschen, alte und junge, arme und reiche, Männer und Frauen. Sie stießen ihn an, drängten einfach weiter und schienen ihn gar nicht zu bemerken. Immer wieder zuckte Roderich zusammen, wenn etwas seine Kleidung streifte oder sein Fuß gegen ein Hindernis stieß. Was für ein Gedränge. So groß hatte er sich die Stadt nicht vorgestellt.
Wie sollte er hier nur seinen Onkel finden? Er wusste ja nicht einmal, in welchem Gasthaus er eingekehrt war.
Vorsichtig schob Roderich sich weiter. Er hatte gehofft, seine edle Kleidung würde den Leuten ein wenig Respekt einflößen, wie er es von den Dörflern aus den Ländereien seines Vaters gewöhnt war. Doch hier schien Stand und Herkunft nicht viel zu zählen.
Zwei betrunkene junge Männer, die wohl in einen Händel geraten waren, hatten sich gegenseitig am Kragen gepackt und torkelten gegen ihn. Angewidert trat Roderich ein wenig zur Seite und stieß nun seinerseits eine dicke, kleine Frau an, die einen riesengroßen Korb vor sich hertrug. „Pass doch auf, du Tolpatsch!“ zeterte sie los. Er murmelte eine Entschuldigung. Dann durchzuckte es ihn. War das ein Ablenkungsmanöver gewesen? Aber nein, der Geldbeutel war ja noch da, er hielt ihn fest in den Händen. Vorsichtshalber wickelte Roderich sich die Lederschnur noch ein paar mal ums rechte Handgelenk, bevor er seinen Weg fortsetzte.
„Mandeln! Gebrannte Mandeln! Köstliche Spezereien aus dem Süden!“ Der Marktschreier schaute Roderich direkt an. „Kommt, junger Herr, probiert eine Mandel! Ganz frisch!“ Roderich schüttelte den Kopf, packte seine Börse noch ein wenig fester und wollte seinen Weg fortsetzen. So leicht ließ er sich nicht ablenken.
Eine Meute schmutziger Kinder stürmte an ihm vorbei und drängte zum Mandelstand. „Ich, ich will eine probieren!“ „Ich auch...“ Doch der Verkäufer wusste, mit wem ein Geschäft zu machen war und mit wem nicht. „Schert euch weg! Oder ich mach euch Beine!“ Er hob drohend die Hand mit der Holzkelle. Wieder wurde Roderich von drängenden Kinderleibern umgeben, diesmal, weil sie vor dem Marktschreier zurückwichen. Schultern streiften seine Seiten, kleine Hände stützten sich gegen ihn. Roderich hielt die Hände mit der Geldbörse hoch.
Er ging weiter und erreichte endlich die andere Seite des Marktplatzes. Hier war ein Gasthaus, in dem er noch nicht nach seinem Onkel gefragt hatte. Als er die „Brunnenschänke“ betrat, stieß ihn ein junger Mann an, der eiligen Schrittes die Wirtschaft verließ. Roderich musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen, um nicht zu stürzen. Schnell griff er wieder zu und barg den Geldbeutel sicher in beiden Händen.
Die Wirtschaft war, trotz der frühen Stunde, noch voller als der Markt. Fuhrleute warteten darauf, dass ihre Dienste gebraucht wurden, Fernhändler saßen in Geschäftsgespräche vertieft und so mancher Bursch nutzte wohl einen Botengang als Ausrede für einen schnellen Schluck Bier zwischendurch.
Roderich ging zum Tresen und bestellte ein Glas Wein mit Wasser. Er wollte nicht riskieren, sich zu betrinken. Sorgsam darauf bedacht, fremde Blicke abzuschirmen, legte er den Geldbeutel auf die Theke, immer mindestens eine Hand darauf, und fischte eine Silbermark hervor.
Der Wirt grinste begierlich. Schnell steckte Roderich das Wechselgeld in den Beutel, zog ihn zu und hielt ihn fest an seine Brust gepresst, während er seinen Weinhumpen entgegennahm. Er fragte nach seinem Onkel. Der Wirt erinnerte sich nicht genau, starrte aber immer noch auf Roderichs Börse. Seufzend stellte er den Humpen wieder ab, kramte nach einigen Kupfermünzen. Ah, jetzt erinnere er sich. Gestern sei er noch hier gewesen. In der Jakobsklause würde er wohnen, dass hätte er gesagt. Ja, leicht zu finden, nur zur Tür hinaus, und dann links die kleine Gasse hinunter.
Roderich stürzte seinen Wein hinunter. Endlich. Die Geldbörse fest gepackt schob er sich an den anderen Gästen vorbei wieder nach draußen. In der kleinen Gasse war es angenehm ruhig, es waren nur wenige Menschen unterwegs.
Vor sich sah Roderich einen Straßenjungen in erbärmlicher Kleidung, mit einem seltsam vornehmen Jagdhut, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er stutze und griff sich an den Kopf. „Hey, Du!“ rief er und wollte dem Jungen, der sofort schneller wurde, nachsetzten. Seine Hose rutschte von seinen Hüften und behinderte ihn beim Laufen. Überrascht sah Roderich an sich herunter. Wo war sein Gürtel mit der großen silbernen Schnalle?
Unbeholfen lief er hinter dem dreisten Dieb her, mit einer Hand den Hosenbund haltend, in der anderen immer noch den Geldbeutel. In einer noch kleineren Gasse blieb der Bursche plötzlich stehen und drehte sich um.
Hab ich dich, dachte Roderich und wollte nach seinem Schwert greifen. Seine Finger streiften nur das Leder der leeren Scheide. Vor ihm stand in angriffslustiger Pose der Straßenjunge, seinen Hut auf dem Kopf, sein Schwert in der einen und ein paar goldene Knöpfe von Roderichs Wams in der anderen Hand.
Der Dieb hielt die Knöpfe hoch und deutete mit der Schwertspitze auf den Geldbeutel in Roderichs Hand. „Tauschen?“ fragte er.