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Sehr eng verschnürt
Ich weiß noch, wie sämtliche Gespräche verstummten, als er den Klassenraum in Begleitung von Frau Schröter betrat.
Sie ging vorneweg, hielt dabei seine unter dunklem Stoff verborgene Hand, während er sich widerwillig von ihr mitziehen ließ.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis beide endlich vor dem Lehrerpult Stellung bezogen hatten. Mir war, als bekäme ich keine Luft mehr, und so sehr ich es auch versuchte, gelang es mir nicht, den Blick von seinem Gesicht abzuwenden.
Besser gesagt von dem feuchten Stoff, der es verbarg und um seinen Kopf gewickelt war. Zwei Löcher für die Augen, zwei für die Ohren, jeweils eines für Nase und Mund.
Er atmete schwer und ich konnte nicht ausmachen, ob es an seiner Krankheit, oder aber an der Aufregung lag.
"Das ist Martin", sagte Frau Schröter, und ich zuckte zusammen. Aus heutiger Sicht kann ich nicht mehr sagen, weshalb. Vielleicht lag es an dieser vollkommenen Normalität, die der Name mit sich brachte.
Zwei Mädchen hinter mir begannen zu tuscheln, als Frau Schröter fortfuhr: "Wie ich es euch bereits gesagt habe, hat Martin eine sehr seltene, sehr schwere Krankheit. Deshalb sind viele Stellen seines Körpers mit Stoff abgedeckt, und ..."
"Warum hat er diese nassen Wickel um den Kopf", rief irgendjemand von hinten. Meine damalige Klassenlehrerin lief rot an, und wir alle wussten, was jetzt kommen würde.
Doch es kam anders.
Bevor sie zu einer Antwort ansetzen konnte, antwortete Martin für sie: "Das ist, weil ich Salbe darunter habe, sie zieht in die Wickel ein, und hat eine kühlende Wirkung."
Niemals zuvor in meinem Leben hatte ich ein derartiges Gefühl gehabt, und für einen Augenblick dachte ich, mich übergeben zu müssen.
Martins Stimme klang wie die eines Sterbenden. Jedes Wort schien ihm Mühe zu bereiten. Er krächzte die Buchstaben bloß, konnte kaum einen Ton konstant halten.
Ich muss zugeben: Ich hatte in diesem Moment eine Scheißangst vor ihm.
Nach einigen Augenblicken ergriff Frau Schröter wieder das Wort: "Ich möchte, nein, ich verlange, dass ihr alle nett zu Martin seid. Er ist ein ganz normaler Junge, der durch eine schlimme Krankheit in seinem Alltag eingeschränkt ist. Möchtest du dich vielleicht kurz der Klasse vorstellen, oder etwas sagen", fragte sie ihn, den Kopf zur Seite geneigt.
Wieder vergingen Sekunden der Stille, bis Martin kurz und kaum erkennbar mit dem Kopf nickte.
"Ich freue mich, hier zu sein." - Das war es. Dieser kurze, mühsam geröchelte Satz, und so gruselig ich seine Stimme auch fand, so klang das, was er sagte auf eine unglaublich traurige Art ehrlich.
Und plötzlich war die Angst verflogen. Er tat mir Leid.
"Nun, dann schauen wir doch mal, wo du dich hinsetzen kannst." - Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass in diesem Moment purer Ekel in den Gesichtern der anderen lag, und aus einem Impuls heraus, den ich mir heute selbst nicht mehr erklären kann, meldete ich mich und sagte: "Er kann neben mir sitzen."
Einen Moment lang setzte Frau Schröter eine überraschte Mimik auf. Dann lächelte sie.
"Das ist sehr lieb von dir, Sandra."
Sofort bereute ich, was ich da gesagt hatte, ließ mir aber nichts anmerken.
Träge und unbeholfen kam Martin zu mir an das Pult, setzte sich, öffnete die Tasche, die er dabei hatte, breitete seine Schreibutensilien vor sich aus; wirkte geradezu so, als hätte er nie woanders gesessen.
Er sah mich an, und erst jetzt fielen mir seine Augen auf. Sie waren trübe und vollkommen grau.
"Hallo", sagte er, und wandte den Blick wieder ab. Ein paar andere Mädchen begannen zu kichern, bis sie von Frau Schröter zur Ruhe ermahnt wurden.
Ich hatte eigentlich befürchtet, er würde stinken. Aber er roch nach Salbe.
Und dann hatten wir Unterricht.
In der Pause stand er in einer Ecke. Die Schüler der anderen Klassen hatten ihn natürlich gleich entdeckt, und auch einige aus unserer Klasse zählten zu denen, die sich im Kreis um ihn versammelt hatten, und Fragen stellten, oder einfach nur unverhohlen ihre Abscheu demonstrierten.
Wieder tat er mir Leid. Ich lief auf den Mob zu und schrie: "Verpisst euch und lasst ihn in Ruhe!"
Natürlich wusste ich, dass das nicht unbedingt die klügste Entscheidung war. Gerade mit 14 ist es eine schlechte Sache, sich auf Freaks einzulassen. Ich denke, in diesem Moment hatte ich vor den anderen größere Abscheu als vor Martin selbst. Ein paar zeigten in meine Richtung, lachten und spotteten, aber schlussendlich löste sich der gebildete Kreis auf. Zu meinem Glück zählte ich zu den beliebteren Schülern, wenn ich auch gerade dabei war, meine Gunst zu verspielen.
"Lass dich nicht ärgern", sagte ich, und Martin erwiderte: "Warum tust du sowas. Sie wollten doch bloß wissen, was mit mir ist."
Seine Stimme ließ mich erneut dermaßen erschaudern und unwillkürlich an den Tod denken, dass mir im ersten Augenblick gar nicht bewusst wurde, was er da gerade eben gesagt hatte.
"Was", brüllte ich ihn dann an. - "Willst du mich eigentlich verarschen? Die wollten sich doch nur über dich lustig machen, du Missgeburt!"
In den nächsten Wochen sprach ich kein Wort mehr mit ihm, und ich bereute jeden Tag mehr, ihm den Platz neben mir angeboten zu haben.
In den Pausen wurde er regelmäßig fertig gemacht, und ich tat den Teufel, ihm noch einmal den Rücken zu stärken.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass gerade Menschen wie er viel Zeit mit Lernen verbringen. Es stellte sich jedoch heraus, dass Martin in sämtlichen Fächern unterdurchschnittlich war. Es gab ein Abkommen mit der Schulleitung, dass seine mündlichen Leistungen etwas milder bewertet werden sollten. Doch auch in Klausuren brachte er kaum etwas zustande.
Ich hätte ihn wohl nicht weiter beachtet, von meinem täglichen Ärger darüber, dass er nicht an anderer Stelle saß, einmal abgesehen. Selbst an seine Stimme hatte ich mich inzwischen gewöhnt und fand sie bloß noch nervig.
Dann, irgendwann kurz vor den Sommerferien, schob er mir während der Geschichtsstunde völlig unvermittelt einen Zettel zu.
Es tut mir Leid stand darauf.
Und: Können wir nach der Schule vielleicht mal kurz reden?
Ich war bereits drauf und dran mit einem klaren "Nein" zu antworten, spürte aber plötzliche Neugier in mir aufkommen, und schrieb statt dessen: Von mir aus
In diesem Moment fiel Frau Schröters Blick in unsere Richtung, und mir wurde heiß. Ihre Praxis bestand darin, im Unterricht geschriebene Zettel vor der Klasse vorzulesen.
Sie stutzte einen Moment, und tat dann so, als hätte sie nichts gesehen.
Im Nachhinein wünsche ich mir, sie hätte anders reagiert.
Er wartete am Tor auf mich. Im Vorbeigehen flüsterte ich schnell: "Wir treffen uns bei der kleinen Brücke am Wald."
Ich lief einen Umweg, dachte ununterbrochen darüber nach, ob ich wirklich hingehen sollte, obwohl meine Entscheidung längst feststand.
Es war seltsam, ihn da auf der Brücke zu sehen; entspannt über das Geländer gelehnt, wie ein Spaziergänger, der eine kurze Rast einlegt. Hätte ich ihn zum ersten Mal gesehen, wäre ich damals vermutlich schreiend davon gelaufen. Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich mich mit seiner Erscheinung arrangiert hatte. An seinem ganzen Körper war nicht ein Fleck Haut zu sehen. Überall war Stoff. Ich fragte mich, wie heiß es ihm bei diesem Wetter sein musste, und ich fragte mich ebenso zum ersten Mal seit Wochen, was sich wohl unter den Wickeln verbarg.
Er sah mich und hob kurz die Hand. Ich stellte mich neben ihn, und fragte: "Was willst du?"
"Ich habe ein Geheimnis", gab er zurück, und ich musste lachen. - "Deine entstellte Fratze meinst du", kicherte ich, und schlagartig tat es mir unendlich weh, so mit ihm zu reden.
"Tut mir Leid".
"Schon okay. Aber das meinte ich nicht. Ich habe noch ein anderes Geheimnis. Ich bin nicht krank."
Ich spürte ein unangenehmes Kribbeln im Bauch, und hatte keine Ahnung, was als nächstes kam.
"Bist du nicht?"
"Nein."
"Sondern?"
"Ich muss dir etwas zeigen."
Die Furcht, die ich bei unserer ersten Begegnung in der Klasse gehabt hatte, war augenblicklich zurückgekehrt. Meine Lippen zitterten wie die Worte meiner Frage: "Was denn zeigen?"
Martin öffnete seine Hose und zog sie ein Stück herunter. Ich war viel zu starr und vor Angst gelähmt, um irgendeine Reaktion zu zeigen.
Sein Name konnte unmöglich Martin sein, und er war auch kein Junge. Fasziniert und angeekelt starrte ich auf ihre Vagina.
Dann zog sie die Hose wieder hoch, und schloss die Knöpfe.
"Ich bin verflucht, verstehst du das? Diese Wickel. Siehst du nicht, wie fest sie gebunden sind? Mein Kopf ist wie ein Lampenschirm!"
Dieses Röcheln, diese ununterbrochen wechselnde Tonlage. Das Lösen der Wickel.
Wie ... er ... größer ... wurde ... dieser Kopf!
"Siehst du? Siehst du? Welche Krankheit soll das denn bitte sein? Siehst du es? Wie ein Lampenschirm!"
In diesem Moment bin ich gelaufen. Gelaufen, gerannt und gesprintet. Bis ich nicht mehr konnte. Habe mich dann umgesehen, und bin weiter gelaufen.
Immer und immer weiter.
Ihre Eltern sind anschließend weggezogen. Ich habe sie nie wieder gesehen.
Jedoch frage ich mich bis heute aus irgendeinem unerfindlichen Grund, wie sie tatsächlich hieß.