Sehnsucht
Schon lange fühlte sie sich einsam. Wie konnte sie auch anders? Alle um sie herum, die Menschen in ihrer Umgebung, liessen sie spüren, dass sie anders war. Eine Weile lang hatte sie dies betrübt, weil sie gedacht hatte dadurch nie ein normales Leben führen zu können. Doch dann, irgendwann, hatte sie die unabänderliche Tatsache akzeptier und sich nicht weiter um diese anderen Menschen geschert. Ein Schritt, der sie zwar ungezwungener, jedoch nicht glücklicher gemacht hatte.
Sanfter Wind spielte in ihren Haaren und das wohlig warme Licht der Abenddämmerung lag auf ihren gelassenen Zügen. Die Hände umfassten locker das Geländer der Bahnüberführungen, wo sie auf seine Ankunft wartete.
Eines Tages hatte sie all ihren Mut zusammen genommen und war aus ihrem trüben Alltag ausgebrochen. Und da hatte sie ihn getroffen.
Er war alles was sie sich hatte wünschen können und sie war ihm sofort mit all ihren Hoffnungen und Sehnsüchten verfallen. Nur ganz kurz hatte er sie berührt, aber diesen Augenblick der Glückseligkeit würde sie nie vergessen.
Doch leider war dies alles von kurzer Dauer gewesen. Nur ein Atemzug in der Zeitspanne eines Menschenlebens.
Beim Gedanken an ihn begann ihr sonst so unantastbares Herz schneller zu schlagen. Eine Träne floss über das von der Vergangenheit gezeichnete Gesicht. Sie bemerkte aus dem Augwinkel, wie sich ein Passant kurz nach ihr umdrehte, dann aber unbeteiligt weitereilte.
Sie hatte ihn nie wieder gesehen. Stets dachte sie an ihn. Wo sie auch war, was sie auch tat, der Gedanke an ihn begleitete sie beständig. Nicht selten hatte sie vor Verzweiflung aufgeschrien, als sie bemerkt hatte, dass es bloss wieder ein verspottender Traum gewesen war, der sie mit ihm zusammengeführt hatte.
Sie wusste, dass sie ihn um alles in ihrer kümmerlichen Welt wiedersehen musste.
Sie hatte arge Strapazen auf sich genommen, um an diesem Tag hier zu stehen. An dem Ort, an dem sie ihn bereits das erste Mal getroffen hatte, an dem er sie in die Arme geschlossen und liebkost hatte, als seien sie ein lange getrennt gewesenes Liebespaar. Er war so zärtlich gewesen, so achtsam.
In der Ferne läuteten Kirchenglocken. Sie schloss die Augen und atmete den öligen Duft ein, den die abendlichen Bahnsteige ausströmten. Nicht einmal dies konnte ihr die Empfindung nehmen, endlich am Ende der Suche angelangt zu sein.
Damals hatte sie sich vorgenommen mit niemandem über ihre Begegnung zu sprechen. Aber alle hatten bereits davon gewusst. So hatte sie immerhin ihre Gefühle und Verlangen für sich behalten wollen. Für jeden, den es interessiert hatte, hatte sie die Zufriedene gespielt. In ihrem Innern jedoch sah es aus wie eine Ansammlung von weggeworfenen Einwegartikeln, unter denen tief vergraben ihre Zuversicht lag.
Und dann kam er endlich. Sie hörte wie er nach ihr rief und öffnete die Augen. Er eilte auf sie zu, mit offenen Armen und dem lieblichsten Lächeln, das sie sich vorstellen konnte. Sie lachte kurz auf, dann ging sie ihm entgegen und sie wusste genau: Dieses Mal würde sie niemand mehr trennen können.
Der Herr im verknitterten Anzug stieg in den Zug, der wie immer Verspätung hatte und wie immer völlig überfüllt war. Er quetschte sich mit seinem Rollkoffer in das Abteil, welches nur noch Stehplätze zu bieten hatte und versuchte es sich auf irgendeine Weise bequem zu machen.
Noch bevor der Zug abfuhr, weilte er in Gedanken schon bei der Szene, die sich eine Stunde später abspielen würde: Seine junge Geliebte würde auf dem Perron auf ihn warten und er würde sie in die Arme schliessen und mit Küssen bedecken. Und dann, noch auf dem Bahnsteig, würde er ihr endlich die Frage stellen, die er ihr schon vor seiner Abreise hatte stellen wollen,. Damals hatte er dazu keinen Mut gefunden.
Seine Hand spielte mit der kleinen Schachtel in seiner Manteltasche als er eine herrenlose Zeitung erwischte. Ohne sich wirklich darauf zu konzentrieren las er den einleitenden Artikel:
„Die Patientin, welche am letzten Dienstag aus der psychiatrischen Anstalt verschwunden und als äusserst suizidgefährdet eingestuft worden war, hat sich gestern Abend am Hauptbahnhof von der Überführung gestürzt. Sie war sofort tot. Berichten zufolge war dies ihr zweiter Selbstmordversuch an ebendieser Stelle…“