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Sehnsucht

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03.01.2011
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Sehnsucht

Ich bin ein Hund.
Verwöhnt und faul. Männchen machen für ein Leckerli, Pfötchen geben für eine Streicheleinheit. Mit treuen Augen schaue ich zu meinem Herrchen auf, sein Wille ist mein Wille. Meine Reißzähne kauen Dosenfutter, meine scharfen Sinne werden verhöhnt.
Vorbei.
Ich bin ein Wolf. Meine Pfoten trommeln auf den Asphalt, die heiße Luft der Nacht peitscht durch mein Fell. Ich trinke den Atem der Nacht, mein Blut kocht.
Vorbei an erleuchteten Häusern, erfüllt vom silbernen Glanz des Mondes. Wie Wasser fließt sein eisiges Licht in mich hinein, erfüllt mich, wird zu mir. Mein Körper, meine Sinne, mein Wesen kennen nur ein Ziel: eins werden mit dieser Kraft.
Weiter, weiter, weiter!
Nichts hält mich mehr, ich werde immer schneller. Häuser, Autos, Laternen werden zu verschwommenen Lichtern.
Aus den Augenwinkeln nehme ich Familien in hell erleuchteten Wohnzimmern wahr, abgestumpft, blind für das magische Licht dieser Vollmondnacht.
Scheinwerfer kommen auf mich zu, ein lautes Hupen, Dunkelheit. Ich bin blind, werde weiter getrieben. Meine Augen gewöhnen sich wieder an das klare und feine Licht des Mondes.
Mein Herz donnert, meine Zunge hängt zwischen meinen Zähnen heraus. Ich höre nur noch das Rauschen des Windes in meinen Ohren und das Rauschen des Blutes in meinem Kopf. Ich kann nicht anhalten, will nicht anhalten.
Alles liegt hinter mir. Meine Herren, mein schläfriges Leben in wohl geheizten Zimmern, immer mit angenehm gefülltem Bauch. Auch die Stadt liegt jetzt hinter mir. Das Lärmen der Menschen wird langsam zum lauten Schweigen der Nacht. Grillen zirpen, ich höre einen anderen Hund bellen. Ob er auch auszubrechen vermag, auch diesem Licht folgen kann? Es ist egal. Ich bin auf meinem Weg.
Keine Häuser, keine Autos, keine Laternen mehr. Die ganze Welt ist silbern, die ganze Welt ist Licht, die ganze Welt ist Kraft. Ich sauge sie in mich auf, werde immer stärker, immer schneller.
Immer weiter auf meine Sehnsucht zu.
Die klare Nachtluft riecht jetzt nicht mehr nach Menschen. Sie riecht nach Bäumen, nach Gras, nach kleinen Tieren, die ängstlich vor mir ausweichen. Der Boden unter meinen Pfoten ist jetzt nicht mehr versiegelt und tot. Er verändert sich bei jedem Schritt, verwandelt sich während er unter mir hinwegfliegt. Es fühlt sich an, als sei auch er von diesem Licht erfüllt und lebendig geworden.
Tannenzweige schlagen mir ins Gesicht, auf die Schnauze, in die Augen. Ich spüre den Schmerz, genieße ihn. Intensiv, aufregend ist er. Ich lebe! Keine Abgestumpftheit mehr, keine betäubten Sinne!
Ich renne immer weiter auf den Mond zu, einen Berg hinauf. Ich fliege durch die silbern glänzende Dunkelheit, ein Schatten zwischen Schatten, ein Teil der Nacht.
Bald werden die Bäume seltener, mein Weg ist wieder frei. Ich kann die kalt glänzende Scheibe direkt vor mir sehen, sie ist größer als die ganze Welt, ist bald alles was ich sehe.
Höher, immer höher hinauf! Fast ist es geschafft! Ich spüre, wie die Kraft zunimmt, wie jede Faser meines Körpers das Licht in sich aufnimmt. Meine Sehnsucht ist so groß wie nie, ich werde immer noch schneller. Meine Muskeln brennen, der Atem sticht in meinen Lungen, doch in langen Sätzen jage ich auf den höchsten Punkt des Berges zu.
Dahinter ist der Mond, er schwebt zum Greifen nahe über dem Abgrund. Mein Körper spannt sich an, mit aller Kraft drücken sich meine Pfoten in den Boden, ich springe, strecke mich dem Mond entgegen.
Ich falle. Ich merke es nicht. Ich falle und falle. Ich rase auf die Erde zu. Ich merke es nicht.
Ich werde sterben.
Es ist mir egal.

Ich habe den Mond berührt. Ich bin mir ganz sicher.

 

Hallo schattenseite

Es hat schöne Passagen in diesem Fantasy-Stück, poetisch anklingend. Auch liest es sich weitgehend angenehm. Der Sinn und die Handlung sind für einen Hund zwar undenkbar, was Kynologen vielleicht mit gemischten Gefühlen wahrnehmen. Doch unter Fantasy scheint es mir nicht unpassend.

Die Idee, den Vollmond und das Mondlicht als tragendes Element einer Geschichte zu wählen, finde ich ansprechend.

An einigen Stellen treten für mein Empfinden aber unstimmige Formulierungen auf, auch wenn ich das Fantastische, welches dieser Rubrik zusteht, berücksichtige.

Mit treuen Augen schaue ich zu meinem Herrchen auf, sein Wille ist mein Wille.
In der Umgangssprache wird dem Begriff Wille ein gewisser Spielraum gewährt, kann verschieden verwendet werden. Doch scheint mir deine Aussage so nicht stimmig. Ein Lebewesen übernimmt nicht den Willen eines Anderen, sondern passt sich allenfalls diesem an oder unter. Etwa nach dem Motto: „Dein Wille geschehe …“

Wie Wasser fließt sein eisiges Licht in mich hinein, erfüllt mich, wird zu mir.
Für die Lichtwahrnehmung gelten die Eigenschaften kalt und warm, ausgehend von den Wellenlängen und ihr Farbspektrum. Kühl schiene mir hier anstelle von eisig die treffendere Form. Auch wäre das Satzende besser bedient mit: „wird eins mit mir.“

Alles liegt hinter mir. Meine Herren, mein schläfriges Leben in wohl geheizten Zimmern, immer mit angenehm gefülltem Bauch.
Hier musste ich dreimal lesen, bis ich verstand was ‚Meine Herren‘ aussagen will. Der arme Hund hatte verschiedene Herrchen.

Ein paar andere Formulierungen könnten sich m. E. auch noch treffender einbinden lassen. Doch ich will nicht zu stark in Deine Vorstellungen eingreifen.

Völlig unwahrscheinlich scheint mir, dass ein Hund oder ein Wolf wie ein Schaf in einen Abgrund springt, doch als eine Fantasy die eine lunare Anziehungskraft symbolisieren will, durchaus tragbar.

Ich habe den Mond berührt. Ich bin mir ganz sicher.
Diese letzte Zeile ist dann sehr schön und sinngebend, der Hund/Wolf hat eigenen Willen entwickelt und sein Ziel erreicht.

Gern gelesen.

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

zuerst einmal danke für deine umfangreiche Antwort! Da fühlt man sich doch geehrt, wenn sich jemand näher mit seinen Texten befasst.
Ich war allerdings überrascht von der „realistischen“ Herangehensweise, hatte ich den Schwerpunkt in der Geschichte doch eher auf die emotionale Ebene gelegt. Über Logik und „Kynologie“ (Das gibt es tatsächlich? Sachen gibt’s...) habe ich dabei nicht unbedingt lange nachgegrübelt. Ich werde den Text auf jeden Fall noch mal unter diesem Aspekt genauer durchlesen.
Zu den Formulierungen: Du hast Recht, „sein Wille ist mein Wille“ gefällt mir bei näherer Betrachtung auch noch nicht hundertprozentig. Andererseits wollte ich damit beschreiben, dass der faulverfressene, treudoofe Hund (ja, eigentlich mag ich Hunde nicht besonders) absolut keinen eigenen Willen hat. Er ordnet sich nicht nur unter, denn das würde einen gewissen eigenen unterdrückten Willen voraussetzen. Er folgt und gehorcht bis zu seinem Ausbruch vollkommen willenlos. Da muss ich mir noch was einfallen lassen.
Das eisige Mondlicht mag ich hingegen eigentlich sehr gerne. Auch da geht es nicht um Wellenlängen oder Lichtfarbe, sondern um Emotionen. Das Mondlicht als Gegensatz zur behaglichen Wärme der Heimat, als erfrischend wie ein eiskaltes Glas Wasser wenn man Durst hat. Andererseits kann eisig ja auch nicht besonders angenehm sein, genauso wie die Freiheit nun mal gewisse Unannehmlichkeiten beinhaltet. Kühl wäre in diesem Zusammenhang irgendwie zu „lasch“.
Interessant fand ich deine Interpretation zu den „Herren“. Ich bin eigentlich nur von einer Familie ausgegangen, der sich der Hund unterordnet. Insofern mehrere Herren. Aber du hast Recht, das ist schon missverständlich. Wobei ein gewisser Interpretationsspielraum schon noch gegeben sein sollte. Dein Bild vom Hund, der schon verschiedene Herrchen hatte, gefällt mir eigentlich auch, allerdings geht da ein wenig die verschlafene Geborgenheit in der Gefangenschaft verloren. Eigentlich soll der Hund aus einer perfekten, gemütlichen, schläfrigen Welt ausbrechen, nicht aus irgendetwas unangenehmen.
Wie du sagtest, ein in den Abgrund springender Hund ist nicht gerade realistisch, aber das mit einem Schaf zu vergleichen finde ich unpassend. Der Hund weiß genau, was er tut und was die Konsequenzen sein werden. Er fällt nicht aus schafiger Blödheit, sondern weil er den Sturz in Kauf nimmt, um ein höheres Ziel zu erreichen. Und im Abschluss wird das ja auch deutlich („es ist mir egal“), ist er sich doch sicher, dass er den Mond berührt hat. Ob er das nun getan hat oder nicht ist dabei auch nicht wichtig. In seinem Kopf hat er es getan und das zählt.
Schön, dass dir der Text gefallen hat („poetisch anklingend“... Wow!), ich werde noch daran feilen und natürlich die Kynologie nicht aus den Augen lassen ;-).
Danke fürs Lesen!

 

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