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Sehnsucht
Ich bin ein Hund.
Verwöhnt und faul. Männchen machen für ein Leckerli, Pfötchen geben für eine Streicheleinheit. Mit treuen Augen schaue ich zu meinem Herrchen auf, sein Wille ist mein Wille. Meine Reißzähne kauen Dosenfutter, meine scharfen Sinne werden verhöhnt.
Vorbei.
Ich bin ein Wolf. Meine Pfoten trommeln auf den Asphalt, die heiße Luft der Nacht peitscht durch mein Fell. Ich trinke den Atem der Nacht, mein Blut kocht.
Vorbei an erleuchteten Häusern, erfüllt vom silbernen Glanz des Mondes. Wie Wasser fließt sein eisiges Licht in mich hinein, erfüllt mich, wird zu mir. Mein Körper, meine Sinne, mein Wesen kennen nur ein Ziel: eins werden mit dieser Kraft.
Weiter, weiter, weiter!
Nichts hält mich mehr, ich werde immer schneller. Häuser, Autos, Laternen werden zu verschwommenen Lichtern.
Aus den Augenwinkeln nehme ich Familien in hell erleuchteten Wohnzimmern wahr, abgestumpft, blind für das magische Licht dieser Vollmondnacht.
Scheinwerfer kommen auf mich zu, ein lautes Hupen, Dunkelheit. Ich bin blind, werde weiter getrieben. Meine Augen gewöhnen sich wieder an das klare und feine Licht des Mondes.
Mein Herz donnert, meine Zunge hängt zwischen meinen Zähnen heraus. Ich höre nur noch das Rauschen des Windes in meinen Ohren und das Rauschen des Blutes in meinem Kopf. Ich kann nicht anhalten, will nicht anhalten.
Alles liegt hinter mir. Meine Herren, mein schläfriges Leben in wohl geheizten Zimmern, immer mit angenehm gefülltem Bauch. Auch die Stadt liegt jetzt hinter mir. Das Lärmen der Menschen wird langsam zum lauten Schweigen der Nacht. Grillen zirpen, ich höre einen anderen Hund bellen. Ob er auch auszubrechen vermag, auch diesem Licht folgen kann? Es ist egal. Ich bin auf meinem Weg.
Keine Häuser, keine Autos, keine Laternen mehr. Die ganze Welt ist silbern, die ganze Welt ist Licht, die ganze Welt ist Kraft. Ich sauge sie in mich auf, werde immer stärker, immer schneller.
Immer weiter auf meine Sehnsucht zu.
Die klare Nachtluft riecht jetzt nicht mehr nach Menschen. Sie riecht nach Bäumen, nach Gras, nach kleinen Tieren, die ängstlich vor mir ausweichen. Der Boden unter meinen Pfoten ist jetzt nicht mehr versiegelt und tot. Er verändert sich bei jedem Schritt, verwandelt sich während er unter mir hinwegfliegt. Es fühlt sich an, als sei auch er von diesem Licht erfüllt und lebendig geworden.
Tannenzweige schlagen mir ins Gesicht, auf die Schnauze, in die Augen. Ich spüre den Schmerz, genieße ihn. Intensiv, aufregend ist er. Ich lebe! Keine Abgestumpftheit mehr, keine betäubten Sinne!
Ich renne immer weiter auf den Mond zu, einen Berg hinauf. Ich fliege durch die silbern glänzende Dunkelheit, ein Schatten zwischen Schatten, ein Teil der Nacht.
Bald werden die Bäume seltener, mein Weg ist wieder frei. Ich kann die kalt glänzende Scheibe direkt vor mir sehen, sie ist größer als die ganze Welt, ist bald alles was ich sehe.
Höher, immer höher hinauf! Fast ist es geschafft! Ich spüre, wie die Kraft zunimmt, wie jede Faser meines Körpers das Licht in sich aufnimmt. Meine Sehnsucht ist so groß wie nie, ich werde immer noch schneller. Meine Muskeln brennen, der Atem sticht in meinen Lungen, doch in langen Sätzen jage ich auf den höchsten Punkt des Berges zu.
Dahinter ist der Mond, er schwebt zum Greifen nahe über dem Abgrund. Mein Körper spannt sich an, mit aller Kraft drücken sich meine Pfoten in den Boden, ich springe, strecke mich dem Mond entgegen.
Ich falle. Ich merke es nicht. Ich falle und falle. Ich rase auf die Erde zu. Ich merke es nicht.
Ich werde sterben.
Es ist mir egal.
Ich habe den Mond berührt. Ich bin mir ganz sicher.