Sehnsucht
Ich habe nachgedacht. Über das Leben. Über die Liebe, das Leid, die Wünsche und Träume.
Ich stehe auf einer Klippe und tief unter mir schäumt das weite Meer an die Felsen.
Ich habe einen Stein hinunter geworfen und das knisternde Rollen hat den Stein bis unten hin verfolgt. Das Platschen des Wassers, was dann folgen sollte, habe ich nicht mehr gehört.
Mein Blick schweift in die Ferne. Weit hinüber über das Meer. Vor meinem Auge erscheinen
Bilder, die ich zuvor nie gesehen habe. Das Wasser scheint verschwunden zu sein und vor meinem inneren Auge erscheinen fremde Länder und Menschen.
Ein Wort schwebt ungeschrieben, wie ein Hauch in der Luft, gemischt mit einem aus tiefster Seele kommenden Seufzer...
Sehnsucht!
Die Sehnsucht nach irgend etwas, was ich noch nicht deuten kann. Es gibt so viele Sehnsüchte. Ist es Fernweh? Ich habe schon viel über Heimweh gehört und es selbst erlebt, aber das Gefühl, das ich nun verspüre schmerzt genauso.
Wieder entschlüpft mir ein Seufzer und eine Träne wandert einsam hinunter zum Kinn.
Die Bilder meiner Umgebung werden wieder deutlicher und meine Augen erblicken ein Schiff in der Ferne. Es ist nur ein schaukelnder Punkt auf dem Wasser. Wie die Matrosen sich wohl fühlen?
Der frische Wind zerrt mir an den Haaren und schmiegt den Rock eng an meine Beine. Die Träne hat er längst getrocknet. Ich schließe für einen Moment die Augen und atme die klare Luft tief ein. Ich spüre die ganze Herrlichkeit des Lebens, die in mir mit einer gewaltigen Macht groß und größer wird.
Obwohl ich mir wünsche, dass dieser Augenblick nie vorübergeht, öffne ich die Augen und erblicke wieder das schaukelnde Schiff auf den Wellen. Es ist bestimmt weit fort von zu Hause. Was für Menschen sind das? Wartet jemand auf sie? Irgendwo?
Ein anderes Bild drängt sich nun vor den schaukelnden Punkt.
Es ist das lächelnde Gesicht eines Mannes. Meines Mannes.
Ein Lächeln erscheint auch auf meinen Lippen, um gleich darauf wieder zu verlöschen.
Da ist diese nie enden wollende Sehnsucht. Nach was genau? Ich weiß es immer noch nicht.
Das Schiff ist nun schon fast ganz am Horizont verschwunden. Ich kann meine Gedanken nicht ordnen. Ich beginne zu träumen...
Das Rauschen des Meeres dringt an meine Ohren und die Möwen über mir kreischen. Ich konzentriere mich für einen Augenblick auf das Tosen der Wellen.
Ja, ich kann es genau hören...
Träume! Träume! Träume! Träume!
Und ich träume wirklich.
Zwischen all den Bildern, die sich nun in meiner Gedankenwelt bilden, sehe ich wieder und wieder das lächelnde Gesicht meines Mannes. Angst kommt in mir hoch. Wenn er nun niemals wiederkehrt!
Ob die Mannschaft auf dem Schiff, das ich sah, auch gesund zu ihren Liebsten zurückkehren würde? Oder war der Tod ein heimlicher Passagier?
Ich friere.
Das Meer glitzert, angestrahlt von der sengenden Sonne. Ist es nicht wunderschön!?
Plötzlich ist mir als greife eine eiskalte Hand nach meinem Herzen. Ich bin unruhig. Ein Gefühl als habe ich nun keine Zeit mehr, um länger hier zu stehen. Hastig drehe ich mich um. Ganz langsam gehe ich zurück zum Haus. Ein Gefühl. Es ist nur ein Gefühl!
Da erblicke ich das Auto und beginne zu laufen. So schnell, dass die Beine schmerzen und fast meinem Herzen nicht folgen können. Ein kleiner, erstickter Schrei entringt sich meiner zugeschnürten Kehle als zwei starke Arme sich um mich legen. Meine Augen sind voll Tränen. Ich kann kaum etwas sehen. Dennoch weiß ich, dass er es ist!
Er ist wieder bei mir! Daheim!