Sehnsucht
Nachdenklich steht Marina Körner am Wohnzimmerfenster ihrer kleinen Dachgeschosswohnung am Stadtrand von Stuttgart und schaut hinaus. Schneeflocken wirbeln durch die Luft, der Himmel ist bewölkt und grau. Es ist Anfang Januar und eisiger Wind fegt den Schnee in Böen vor sich her. Es sind ihre ersten Urlaubstage seit dem Sommer und die Ruhe tut ihr gut nach dem Streß der letzten Wochen und Monate.
Marina läßt den Blick über die Stadt schweifen, die wie in einem Kessel vor ihr liegt. Das Haus, in dem sie zur Miete wohnt, wurde erst vor einigen Jahren in den Hang gebaut und von ihrem Fenster aus hat sie einen uneingeschränkten Blick über die ganze Stadt.
Ihre Gedanken wandern zu Mark, mit dem sie seit drei Jahren mehr oder weniger ihr Leben teilt. In der Silvesternacht hat er ihr einen Heiratsantrag gemacht. So richtig nach alter Schule. Still lächelte Marina in sich hinein, als sie daran dachte, wie er vor ihr kniete, ihr tief in die Augen schaute und sie fragte, ‚willst du meine Frau werden?‘
Dem ersten Impuls folgend wollte sie ja sagen, wollte es laut hinausrufen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Sie sagte kein Wort, schaute ihn nur an und stotterte endlich, ‚lass mir etwas Bedenkzeit.‘
Das war vor fünf Tagen. Was es wirklich das, was sie wollte? Was sie sich für ihr Leben wünschte und vorstellte? Den Rest des Lebens mit Mark verbringen? Kinder bekommen, die er sich so sehr wünschte? All ihre Träume über Bord werfen?
Plötzlich wird ihr klar, dass sie genau dies nicht will.
Marina denkt an ihre Jugend zurück. Mit 18 hatte sie noch den Kopf voller Pläne, glaubte zu wissen, was sie später mit ihrem Leben anfangen wollte. Sie wollte leben, reisen, ein Buch schreiben. Doch irgendwie kam alles anders. Und jetzt war es plötzlich ‚später‘ und alles lief in festgefahrenen, vorgeschriebenen Bahnen. Sollte das alles gewesen sein. Sollte es immer so weiter gehen? Sie denkt an ihr erstes Auto. Ein Golf Cabrio. Marina spürte den Wind in ihrem offenen Haar fast körperlich und fühlt auch das Glücksgefühl, das sie überkam, als sie mit offenem Verdeck allein über die Landstraße brauste.
Eine unbeschreibliche Sehnsucht überkommt sie bei dem Gedanken und plötzlich weiß sie, was sie will.
Marina setzte sich an ihren Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und schrieb Mark ein paar Zeilen. ‚Ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber wenn du diese Zeilen liest, bin ich schon weit fort. Es ist nicht das, was ich mir für mein Leben erträumt habe, auch wenn ich dich dadurch verletzen muß und dein Traum zerstört wird. Aber es ist nun mal nur dein Traum und nicht meiner. Ab heute lebe ich meinen Traum. Ich werde dich nie vergessen.‘
Sie faltet den Brief, steckt ihn in ein Kuvert und läßt ihn auf dem Schreibtisch liegen. Gegen Abend wollte Mark kommen, er besitzt einen Schlüssel. Marina geht ins Schlafzimmer, packt einen Koffer und schaut sich noch einmal in der Wohnung um. Dann nimmt sie die Autoschlüssel und ihren Koffer und verläßt das Haus.
Als sie die Sachen im Auto verstaut, zögerte sie einen Moment, doch dann weiß sie, wohin die Fahrt gehen soll. Sie fährt immer Richtung Süden, der Sonne und Wärme entgegen und die Gedanken für ihren ersten Roman nehmen in ihrem Kopf Gestalt an.