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Seelische Wunden die sichtbar sind
Sie hatte ihn geliebt. Sie hatte ihm vertraut, wie sie noch nie einem Mann zuvor Vertrauen entgegengebracht hatte. Und sie wurde enttäuscht, wie sie es noch niemals zuvor erlebt hatte.
Er wusste das sie Angst vor ihrem Geburtstag hatte. Jedes Jahr aufs neue versuchte sie diesen Tag zu ignorieren. Doch es half nichts. Immer endete es mit einem negativen Erlebnis.
Entweder kurz vor oder danach ging eine Freundschaft oder Beziehung in die Brüche.
Und in diesem Jahr war es genau an ihrem Ehrentag.
Er warf sie aus seiner Wohnung und sagte ihr, sie solle sich nie wieder bei ihm blicken lassen.
Als sie zu Hause war, zündete sie eine Kerze an, öffnete eine Flasche Sekt und gratulierte sich selbst zu ihrem neuen Leben als Single.
Sie hatte nicht damit gerechnet das er sich entschuldigen würde und war irritiert über seine Hartnäckigkeit als er ihr versuchte klar zu machen, er möchte die Beziehung nicht beenden.
Nach einigen Monaten gab sie nach und ließ sich wieder auf ihn ein. Sie machte ihm klar, wenn er sie noch einmal so aggressiv aus seiner Wohnung schmeißen würde wäre es endgültig vorbei. Er versprach ihr, dass das nie wieder vorkommen würde.
Ein Jahr später, kurz nach ihrem Geburtstag, war er brutaler als jemals zuvor.
Als er die Tür hinter ihr zuschlug suchte sie noch den Fehler bei sich.
Am nächsten Morgen, als sie die blauen Flecken auf ihrem Körper entdeckte, wurde ihr klar, dass sie ihm diese zweite Chance nicht hätte geben dürfen.
Er hatte sie nicht nur seelisch verletzt sondern auch körperlich.
Alles in ihr war eine einzige große Leere. Wie eine Maschine stand sie morgens auf, ging zur Arbeit, kam nach Hause, legte sich schlafen und begann den nächsten Tag wie den letzten.
Erst Wochen später setzte sie sich mit ihrem Leben auseinander. Sie konnte es wieder zulassen nachzudenken.
All die Gefühle und Gedanken, die sie verzweifelt versucht hatte zu verdrängen, kamen hoch wie bittere Magensäure.
Wie ein Film sah sie ihr Leben vor sich ablaufen. Sie wurde wütend, enttäuscht und traurig zugleich.
Was hatte sie falsch gemacht, dass sich alles wiederholte?
Er war der einzige, dem sie jemals ihre Ängste, ihr gesamtes Leben, erzählt hatte. Er wusste mehr über sie als jeder andere.
Sie fragte sich, ob er anders reagiert hätte wenn er weniger über sie gewusst hätte.
Weshalb hatte er sie vergewaltigt obwohl er genau wusste, dass sie ähnliches schon mal durchgemacht hatte?
Wieso hatte er ihr versprochen, er würde sie an ihrem Geburtstag niemals so enttäuschen wie sie es so oft in ihrem Leben erlebt hatte?
Warum hatte er sie ein zweites mal aus seiner Wohnung geworfen, obwohl er gesagt hatte, das würde er nie wieder tun?
Sie wollte nicht mehr nachdenken. Es machte sie kaputt. Sie hatte keine Energie mehr sich den Kopf zu zerbrechen.
Alkohol. Das würde bestimmt helfen zu vergessen, abzuschalten, irgendwann einschlafen um nicht durchzudrehen.
Es war der falsche Weg. Das wusste sie genau. Und doch schüttete sie eine Flasche Bier nach der andern in sich hinein. Am liebsten hätte sie eine Flasche gegen die Wand geschmissen um ihren Aggressionen Luft zu machen. Ihr Ziel wäre das Bild gewesen welches er ihr geschenkt hatte. Er hatte diese Fotografie selbst gemacht und sie hatte immer gesagt wie sehr ihr dieses Bild gefällt. Für sie war es damals ein Beweis seiner Liebe als er ihr das Bild gab.
Sie war sich jedoch der Konsequenzen bewusst, wieviel Scherben entstehen würden durch die zerbrochene Flasche und das Glas des Bilderrahmens. So suchte sie nach einer anderen Möglichkeit um ihren seelischen Schmerz zu beenden. Ihr Blick fiel auf die Kronkorken der Bierflaschen.
Körperliche Schmerzen zufügen um die seelischen zu vergessen. Das wäre doch eine Möglichkeit.
Sie zog den Ärmel ihres Pullovers nach oben, nahm den Kronkorken und zog ihn, ohne viel nachzudenken, mit aller Kraft die sie hatte über ihren Arm. Der Schmerz war im ersten Augenblick so unerträglich, dass ihr die Tränen in die Augen schossen und sie den Kronkorken fallen ließ. Nach wenigen Minuten jedoch spürte sie nichts mehr. Wieder drohte sie an ihren Gedanken zu verzweifeln und fügte sich erneut Schmerzen zu bis ihr Arm blutüberströmt war. Erst als sie keine freie Stelle mehr fand, die nicht schon Striemen aufwies, hörte sie auf.
Er bemühte sich wieder um eine Beziehung mit ihr.
Sie konnte verstehen warum er nicht anders reagieren konnte, warum er so war wie er war. Genau deshalb konnte sie ihm auch immer wieder verzeihen.
Sie liebte ihn noch und doch wollte sie nie wieder mehr als eine Freundschaft. Er hatte sie zu sehr verletzt als das sie ihm noch mal vertrauen könnte.
Mit einer Freundschaft kam er jedoch auf Dauer nicht klar.
Unwissend verletzte er sie aufs neue. Vielleicht auch vollkommen berechnend. Es interessierte sie jedoch nicht mehr warum er irgendwas sagte oder tat was sie nicht nachvollziehen konnte. Sie hatte einen Weg gefunden mit Situationen klar zu kommen.
Alles was sie an ihn erinnerte warf sie in eine Kiste.
Ihre Gedanken konnte sie nicht darin verbannen. Doch jeder Tropfen Alkohol, jede Tablette die sie schluckte um zu vergessen, jede neue Wunde an ihrem Körper, verringerte den Schmerz wenigstens für einige Stunden.
Ihren nächsten Geburtstag würde sie alleine verbringen. Niemand würde sie enttäuschen, niemand würde sie verletzen.
Und vor allem würde endlich niemand mehr danach fragen wie die Narben auf ihrem Arm zustande kamen.