Mitglied
- Beitritt
- 07.06.2015
- Beiträge
- 4
Seelenverwandte
Sie lebten unabhängig voneinander. Sie in Wien, er in Berlin, jeder beschäftigt mit seinem eigenen Leben, beide auf der Suche nach ihrem eigenen Glück.
Und sie dachten nicht aneinander. Denn es kann so leicht passieren, dass zwei dichte Wege auseinandergehen, bei so viel Platz auf der Welt.
Sie dachte nicht daran, wie sie sich in dem Café kennengelernt hatten, wenn sie in der Mittagspause in ihrem Kaffee rührte.
Er dachte nicht daran, wie er damals ständig ihre Hausaufgaben abgeschrieben hatte, wenn er im Büro saß und die Akten sortierte.
Sie dachte nicht an die Gespräche bis tief in die Nacht, draußen auf der Parkbank, wenn sie abends im Bett lag und nicht schlafen konnte.
Und er dachte nicht an den Klang ihrer Stimme, wenn er mit der überfüllten Straßenbahn nach Hause fuhr.
Bei so vielen Straßen, Städten und Alpen dazwischen ist es kein Wunder, dass sie sich nicht aneinander erinnerten.
Eines Tages fuhr sie zurück nach Hause. Es war August, es war schön auf dem Land, die Abende waren lang und rosa. Das Fenster des alten Cafés trug immer noch dieselben Gardinen, grün mit blauen Mustern, als er sich zu ihr setzte.
„Lang nicht gesehen.“
Sie erschreckte sich gar nicht, die Stimme war ihr vertraut, nur zu lange vergessen.
„Gut siehst du aus“, sagte sie, so gar nicht gewohnt, an ihm ein gebügeltes Hemd zu sehen, und dann noch der Haarschnitt! Kurz, streng und vor allem ordentlich…
Und dann schwiegen sie erstmal, suchten in den Augen des anderen nach etwas Vertrautem, nach einem Stück Vergangenheit, fingen plötzlich an zu lachen und konnten gar nicht mehr aufhören. Er bestellte sich einen Kakao, mit viel Sahne obendrauf, die sie weglöffelte, während sie über seinen Milchbart lachte und er alles über ihr Lachen vergaß. Die Menschen um sie herum kamen und gingen wieder, doch sie blieben sitzen, bis die Sonne hinter den Feldern verschwunden war, bis alle Tische wieder sauber und gedeckt waren, bis es Zeit wurde zu gehen. Aber wohin?
„Worauf hast du Lust?“, fragte er, und es erinnerte ihn ein bisschen an damals, an die Abende, an denen sie sich weggeschlichen hatten, um morgens wieder durchs Fenster ins Haus zu klettern.
„Kennst du noch unsere Bank im Park?“ Sie grinste. „Ich will dort mit dir sitzen und in den Himmel gucken und vom Regen überrascht werden. Und dann tanzen.“
Und seltsamerweise hörte sich das in seinen Ohren nicht verrückt an, als sie das sagte, denn er kannte die Bank im Park und er kannte den Himmel über ihr, und auch wenn im August keine Tropfen vom Himmel fielen, so konnte man doch trotzdem tanzen, denn es regnete Sternschnuppen in dieser Nacht.
„Was hast du dir gewünscht?“, fragte sie, seine Jacke auf ihren Schultern, den Kopf an ihn gelehnt. Es war schon viel zu spät und der Mond schien auf sie hinab, als wären sie die einzigen, für die er leuchtete, aber sie waren noch nicht müde. Es gab so viel zu erzählen, es war so viel passiert in den langen Jahren, doch seltsamerweise ließ sich nichts davon in Worte fassen, war unwichtig.
„Dass wir uns wiedersehen.“
Das wird nicht einfach werden, dachte sie, denn morgen Abend wäre sie wieder in Wien und er zurück in Berlin, und sie würden alles wieder vergessen.
Sie schaute ihn an, doch sein Gesicht lag im Schatten, und auf einmal erkannte sie in seinen Umrissen den Jungen mit den zerknitterten T-Shirts und löchrigen Jeans, sie erinnerte sich an die langen, zerzausten Haare, an die kaputten Turnschuhe…
Ihr fiel ein, dass sich Wünsche nicht erfüllten, wenn man sie aussprach, doch er lächelte nur. Sie wollte nach dem Mittagessen losfahren, und wenn er sich beeilte und den ersten Zug nahm, dann wäre er vielleicht noch vor ihr in Wien.