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Seelenschatten
Seelenschattten
(Begegnung)
Rohja schrie. Sie schrie und schrie. Kein Schmerz, keine Angst in ihrem Kopf, nur der Schrei. Sie wusste, dass ihre Kehle das nicht mehr lange mitmachen würde. Vielleicht blieben ihr noch ein zwei Minuten, bis der Schatten nach ihren Gedanken greifen konnte. Erschöpft und völlig heiser sank Rohja auf die Knie. Sie spürte das weiche Waldmoos unter ihren Händen. Es war noch feucht vom morgendlichen Tau. Der Nebel lichtete sich wohl erst vor kurzem, vereinzelte Nebelbänke standen immer noch in den von Iris und Blutweiderich umringten Senken.
Rohja nahm wahr, wie der Schatten sich, schwarzer Tinte gleich, in ihren Gedanken ausbreitete. Langsam, aber stetig wurde die Umgebung dunkler, trister. Das zuvor gelb – grüne Moos verwandelte sich unter ihren Händen in eine graue Masse.
Doch Rohja wusste, dass es nicht so war. Auch die Baumstämme der Fichten waren nicht grau-schwarz, sondern braun in den unterschiedlichsten Mischtönen. Nur an Stellen, wo Harz ausgetreten und getrocknet war, waren die Fichtenstämme schwarz. Aber nicht von diesem durchscheinenden alles nichtig erscheinenden Schwarz, in das der Schatten Rohjas Gedankenwelt tauchte.
Noch war es nicht zu spät, noch spürte Rohja ihren freien Willen. Den Drang zum Überleben.
Rohja krallte ihre Hände in die Erde und machte sich kampfbereit. Sie konzentrierte sich auf ihr Inneres, schickte ihren Geist auf Reisen. Vorbei an glücklichen Kindheitserinnerungen und weniger glücklichen Jugendtagen. Immer tiefer sank sie in ihr Bewusstsein, bis sie das Unterbewusstsein erreichte. Hier musste sich der Schatten eingenistet haben. Für gewöhnlich scheuen Schatten die offene Auseinandersetzung, deshalb verkriechen sie sich im Unterbewusstsein ihrer Opfer. Von dort aus verseuchen sie den Verstand und den Geist mit ihrer schwarzen Seele. Als erstes verändert sich die Wahrnehmung des Opfers. Es nimmt die Welt nur noch in dunklen Schemen wahr. Dann vernichtet der Schatten alle Gefühle seines Opfers, dass macht es dem Schatten leichter, seinen Willen zu brechen. Ist das vollbracht, nistet sich der Schatten vollständig im Körper des Unglücklichen ein.
Schatten gehören einer gestaltlosen Spezies der Unterweltbewohner an. Um in der Oberwelt agieren zu können, müssen sie sich also einer lebenden Marionette bemächtigen. Natürlich kam es schon vor, dass ein Schatten totes Material übernahm. - Man denke nur an den Fall Pinocchio, aber das sind Ausnahmen.
Denn das Steuern toter Masse bedarf ungleich mehr Energie, so dass dem Schatten wesentlich weniger Zeit auf der Oberwelt bleibt. Wenn die Energie eines Schattens zur Neige geht, ist der gezwungen zur Unterwelt zurückzukehren, sonst verflüchtigt er sich bei der Berührung eines einzigen Sonnenstrahls wie ein normaler Schatten. Er hört auf zu existieren.
Das ist auch die einzige Chance, einen Schatten zu vernichten. Der Wirt muss den Kampf gegen den Schatten aufnehmen und ihn solange schwächen bis er aus dem Körper flieht. Natürlich sollte es möglichst Tag sein, damit der Schatten nicht in die Unterwelt fliehen kann, und, nachdem er sich mit verdammten Seelen gestärkt hat, wiederkehrt.
Rohja stellte den Schatten in einer der hintersten Ecken ihres Unterbewusstseins.
„ Komm raus aus dem Loch da und kämpfe!“ Ihre wütenden Gedanken hallten tausendfach potenziert durch den Raum.
Der Schatten versuchte noch weiter nach hinten, zu kriechen. Doch da gab` s kein weiterkommen mehr. Er quetschte sich an die Wand zwischen Unterbewusstsein und Bewusstsein. In dem Versuch, möglichst unsichtbar zu wirken, modellierte der Schatten seinen Schemen nach den Schwarztönen von Rohjas unterbewusstem Raum. Mit mäßigem Erfolg.
Rohja näherte sich langsamen Schrittes ihrem Peiniger. Sie trat fest auf ohne zu stampfen.
Diese Technik hatte ihr der Schamane aus ihrem Walddorf beigebracht.
“ Wenn du dich nicht allzu oft im eigenen Geist materialisierst, solltest du dir wohlweislich Zeit lassen dich zu akklimatisieren. Das fängt schon beim Gehen an, schließlich bist du auch nicht aus dem Bauch deiner Mama gehüpft und einen Marathon gelaufen, Hatschi!“
Rohja grinste beim Gedanken an den kauzigen Schamanen. Er hatte die Angewohnheit, nach jeder Belehrung zu niesen. Bald nannte ihn das ganze Dorf nur noch großer Hatschi.
Augenblicklich färbte sich Rohjas Unterbewusstsein gelb. Der Schatten zeichnete sich in scharfen Umrissen an der hinteren Wand ab. Das Schwarz des Schattens verwandelte sich in ein verwaschenes Grau.
„Wenn der Schatten ein Mensch wäre, könnte man meinen, er ist gerade blass vor Angst geworden.“, grübelte Rohja, während sie sich unaufhaltsam dem flimmernden Umriss näherte.
„ Gut, ein ängstlicher Schatten ist leichter zu besiegen als ein mutiger. Außerdem steht jetzt meine bewusste Verbindung zum Unterbewusstsein. Dann ist es mir möglich, jede Waffe, an die ich mich erinnere zu beschwören. So dürfte es kein Problem sein, den ungebetenen Gast zu vertreiben.“
Nur noch fünf Meter trennten Rohja von dem Schattenwesen. Sie konnte ein Gesicht erkennen. Es war von durchscheinendem Grau. Wäre es dem Schatten vergönnt, Farbe nachzuempfinden, hätte es wahrscheinlich einen leichten Hauch von grün.
Keine Frage, es musste ein Junge sein, wenn es unter Schatten einen Unterschied der Geschlechter überhaupt gab. Seine schmalen Züge und die großen Augenhöhlen, aus denen die blaue Energie aufgenommener Seelen schimmerte, ließen eine edle Schönheit erahnen. Doch das Entsetzten vor dem Gegenüber verwandelte sein Gesicht in eine starre Maske mit weit aufgerissenen Augenhöhlen und einem zu einem Strich zusammengepressten Mund. Der Mund war normalerweise auch nur als zwei noch schwärzere Striche zu erkennen. Aber dadurch, dass der Schattenjunge den Mund mit ganzer Kraft zupresste, wirkten die Striche wie eine kaum sichtbare Linie.
„Vielleicht versucht er gerade sich selbst zu fressen.“, witzelte Rohja in Gedanken und starrte den Schatten weiter an.
„ Bitte töte mich nicht! “, krächzte der Schatten.
Er brachte seine Lippen mit einiger Anstrengung gerade lange genug auseinander, um diese Wörter hervor zu bringen. Die sprunghafte Tonlage deutete darauf hin, dass der Schatten mitten in der Pubertät stecken musste.
Rohja schaute ihn verdutzt an.
„ Warum nicht? Du hast doch versucht, mich umzubringen!“
. Der Schatten trat verlegen auf der Stelle und nahm ein noch helleres Grau an.
„ Ist er gerade rot geworden?“ Rohja reckte ihr Kinn
„ Also gut, dann verschwinde!“ und deutete mit dem Finger in die Richtung von der sie vermutete, dass es dort aus ihrem Kopf ginge.
„ Aber dann sterbe ich. Es ist doch Tag! Darf ich hier nicht warten bis es Nacht ist?“
Rohja stöhnte innerlich. Der Raum, in dem sie sich befanden, atmete ebenfalls hörbar ein und aus. Das veranlasste den Schatten zu einem noch helleren Grau. Rohja kniff die Augen zusammen. Hinter der gelben Wand war der Schatten kaum noch sichtbar.
„ Bevor ich dir erlaube, in meinem Kopf auf die Nacht zu warten, musst du mir aber einige Fragen beantworten.“, Rohja spießte den Schatten mit ihrem Blick förmlich auf.
Wie aus dem Nichts erschien ein Stuhl. Er bestand aus grob gehauenen Kiefernbrettern. Die oberste Lehne zierten einige sternförmige Blüten der Anemone. Die Wappenblüte ihres Walddorfes.
„Setz dich." Rohja deutete mit einer ruhigen Bewegung auf den Stuhl.
Der Raum verdunkelte sich bis auf den Stuhl, von dem aus der Schatten zu Rohja aufblickte. Langsam nahm er eine dem Schwarz schon ähnlichere Farbe an. Rohja konzentrierte ihr ganzes Bewusstsein nun auf den Schatten, um den Wahrheitsgehalt der Antworten des Schattens zu überprüfen. Der Stuhl war auf metaphysischer Basis direkt mit der Außenwelt ihres Körpers verbunden. Wenn der Schatten log, würde er geradewegs ins gleißende Sonnenlicht katapultiert.
Rohja hatte den großen Hatschi des öfteren bei dieser Prozedur beobachtet. Das Problem mit den Schatten ist, dass nicht alle böse Absichten haben. Einige verirren sich aus Versehen an die Oberfläche oder finden einfach nicht vor Tagesanbruch den Weg in die Unterwelt. So passiert es schon mal, dass ein unbescholtener Wanderer von einem Schatten befallen wird. Erfahrene Schatten halten sich meist bis zur Nacht im Hintergrund und verschwinden genauso klammheimlich, wie sie gekommen sind. Wenn der Wanderer den Schatten aber entdeckt, kann es dann für beide zu einem sehr ungemütlichen Kampf kommen. Irgendwann hatte dann aber ein Schamane den Gestehe - oder - Gehe - Stuhl entwickelt.
Oberweltler und Schatten hatten sich dann geeinigt, diese Methode anzuwenden, um den Schatten ein friedliches Verweilen und Abziehen aus dem Wirtsgeist zu ermöglichen und dem Wirt einen auslaugenden Kampf zu ersparen.
Rohja ging einmal um den Stuhl herum, um ihren Denkapparat in Schwung zu bringen. Der Schatten versuchte ihr mit einer Kopfdrehung zu folgen. Was ziemlich komisch war, weil er so wie eine überdimensional große Eule wirkte.
„ Wie Heißt du?“ Rohja baute sich jetzt direkt vor dem Schatten auf.
„ Heißen?“ Sein Schwarz nahm eine leicht verschwommene Tönung an.
„ Hast du einen Namen?“
„ Ich weiß, was du meinst .“, der Strichmund des Schatten formte ein verhaltenes Grinsen
“ So etwas, wie wenn du Schatten zu mir sagst oder Gras zu dem grünen Zeug auf der Oberwelt!“
Rohja nickte ebenfalls grinsend,
„ja genau, mein Name ist zum Beispiel Rohja. Und wie ist deiner? “
„ Ich habe keinen. In der Unterwelt bekommen nur feste Dämonen Namen. Geister und junge Schatten sind zu flüchtig. Solange man durch einen Schatten durchsehen kann, hat er kein Recht einen Namen zu tragen.“, etwas in den Augenhöhlen des Schattens flackerte. Rohja ließ einen weiteren Stuhl erscheinen und setzte sich.
„ Das, das ist ... Das wusste ich nicht.“
Eine bleiernde Stille senkte sich über die Zwei. Das laute Klatschen von Rohjas Händen durchbrach die melancholische Stimmung.
Der Schatten zuckte leicht zusammen, aber Rohja lächelte ihn beruhigend an:„ Weißt du, irgendwie mag ich dich. Schließlich hast du meinen Verstand nicht gefressen. Deshalb gebe ich dir einen Namen. Ab jetzt bist du Lux!“
Der Schatten strahlte:" Lux finde ich schön. Aber ist das nicht die Bezeichnung für Licht? Ich bin ein Schatten, dunkel. Fast schon ganz schwarz.“
Der Schatten schielte an sich herunter. Durch seinen transparenten Körper schimmerte in gelblichem Braun die Sitzfläche und die dahinter befindliche Rückenlehne.
“ Der Name passt so gut, weil ohne ne Menge Lux wärst du niemand, ein nichts. .Doch durch das Licht bist du jemand geworden.“
„ Mmh, ja, du hast Recht. Wolltest du nur meinen Namen wissen, dann kann ich mich ja zurückziehen.“, mit einer linkischen Bewegung versuchten der Schatten vom Stuhl zu schlüpfen.
Aber Rohja reagierte blitzschnell und drückte Lux mit sanfter Gewalt zurück auf den Stuhl.
„ Nein, Lux. Ich will wissen wer dich geschickt hat.“
Lux nahm augenblicklich ein aschfahles Grau an.
„ Uh, oh. Ich mmh...“
Ein kurzer Blick in Rohjas Gesicht genügte, um Lux schwarze Strichlippen zu öffnen:“ Ich darf es nicht sagen, sonst bringt er meine Leute ins Licht. Wirklich!“
Rohja schaute durch Lux auf die Rückenlehne und betrachtete die Blumenmusterung. Sie zog die Linien der einzelnen Blütenblätter in Gedanken nach. Das half ihr beim Nachdenken.
„ Also gut, ich helfe dir und deinen Leuten. „
Lux riss seine Augenhöhlen auf, das ließ die blaue Energie darin noch heller leuchten.
„Wie, ehrlich?“
„ Ja, wenn ihr erpresst werdet, um bestimmte Leute anzufallen, dann muss etwas dagegen getan werden. Außerdem weiß ich jetzt endlich, warum die Häuptlinge der Waldvölker einer nach dem anderen verschwinden. Das ward ihr, stimmt`s?“
Lux sackte merklich zusammen:„Jah, die meisten haben die Älteren in den Wahnsinn getrieben. Der Befehl lautete, keine Spuren zu hinterlassen. So konnten wir sie nicht in Besitz nehmen. Das wäre zu auffällig.“
„ Also gut, ich schlage dir ein Geschäft vor. Du versteckst dich in mir. Man könnte glauben, du wärst bei deinem Auftrag gestorben. So sind deine Leute auch nicht in Gefahr. Dann führst du mich zu deinem Auftraggeber. Ich erledige ihn, deine Leute sind frei und die Häuptlinge von den Walddörfern gerettet.“
Lux rieb sich sein Kinn, blickte nach oben, dann in Rohjas Augen:
“Na gut, Hand drauf...“
Rohja öffnete die Augen. Sie kniete immer noch auf der Lichtung, ihre Handknöchel waren blutiggekratzt.
Aber etwas war anders.
Die Farben kehrten in den Wald zurück. Erst zaghaft in pastellenen Tönen, dann mit aller Kraft. Der Himmel über dem Nadeldach erstrahlte in einem grellen Blau, eine seichte Brise ließ eine Locke, die sich aus Rohjas kunstvoll geflochtenen Zopf löste, verspielt in der Luft tanzen.
„ Prinzessin Rohja, alles in Ordnung?“
Rohja drehte sich zu der Stimme hinter ihr um. Es war ihr ständiger Begleiter und Beschützer Dahn, der sie mit ernster Miene musterte. Dahn, ein plumper Hüne in traditionellem Lederhemd und Hose gekleidet, besaß schon immer die Fähigkeit, die richtigen Fragen im falschen Moment zu stellen.
Doch diesmal lächelte Rohja nur und steigerte sich nicht in ihren üblichen Wutanfall hinein.
„ Deine Hände.“
Rohja folgte Dahns vielsagendem Blick.
„ Oh das ist nichts, halb so wild.“
Rohja versuchte mit den Händen eine Geste zu vollführen, die abwehrend und ebenso gelassen wirkte. Doch die Schmerzen übertrugen sich auf Rohjas Mimik und teilten Dahn eine eindeutigere Botschaft mit, als Rohjas Worte. In einigen Sekunden hatte Dahn schon die Verbandsblätter zur Hand und verarztete Rohjas Hände minutenschnell.
„Was ist passiert?“
„ Ich bekam eine Erleuchtung von einem hellen Kerlchen. "
In ihren hintersten Gedanken hörte sie das leise Kichern von Lux.
„ Dahn, ich weiß wo der Übeltäter ist, der für die Zerstörung des Verstandes meines Vaters und der anderen Häuptlinge verantwortlich ist. Folge mir.“
Rohja schob das Langschwert unsicher in ihre Schneide. Der Blattverband behinderte sie doch um einiges mehr, als sie zugeben wollte. Sie ging mit langen Schritten in Richtung Nordosten von der Lichtung, immer auf die mal' tiefe, mal` quiekende Stimme hinter ihrer Stirn bedacht.
Dahn stampfte hinter Rohja her. So wie er es schon Jahre machte.
Nur eines war anders:
Seine kleine Rohja hatte plötzlich ein unbestimmtes blaues Leuchten hinter ihren braunen Augen.