Seehund Ole und die Zaubermuschel
Ole, der kleine Seehund saß traurig am Ufer des großen Meeres.
"Was schaust Du so betrübt?" fragte der kleine Nordwind.
"Ach, lieber Wind." antwortete Ole, der Seehund. "Ich fühle mich so allein."
"Allein?" sprach der kleine Nordwind. "Du bist nicht allein. Sieh nur - die Sonne lässt ihre goldenen Strahlen auf dem Wasser tanzen, und die Wolken am Himmel bauen lustige Figuren nur für Dich. "
"Ja, ich weiß." sagte Ole. "Die Sonne und die Wolken sind fröhliche Gesellen und wunderschön anzusehen, aber sprechen kann ich mit ihnen nicht. Und spielen kann ich auch nicht mit ihnen, sie sind ja so weit weg. Ich hätte so gern einen Freund. Einen richtigen Freund, mit dem ich lustige Dinge erleben und mit dem ich mich über alles unterhalten kann!"
"Na so etwas!" brummelte der kleine Nordwind vor sich hin. "Einen richtigen Freund! Ich brauche niemanden zum Reden und Spielen - mir genügen das Meer, die Sonne und die Wolken!" Dann pustete er Ole noch einmal kräftig ins Gesicht und wehte weiter.
Der kleine Seehund schaute derweil auf das große Meer und träumte von einem kleinen Freund, mit dem er über die Dünen tollen konnte.
Und wie er da so saß und nachdenklich sein weiches graues Fell kratzte, wurde er müder und müder. Schließlich fielen ihm die Augen zu und er schlief ein.
"Hilfe! Hiiilfeeee!" drang auf einmal eine Stimme an sein Ohr. Was war das? Ole war mit einem Schlag hellwach. Er hob den Kopf und schaute sich um. Doch so sehr er auch den Hals reckte, er konnte niemanden entdecken. Da war es wieder! "Hiiilfeeee! So helft mir doch bitte!" Da! Hinter dem Stein!
Ole watschelte so schnell ihn seine kleinen Flossen trugen zu der Stelle, von wo die Stimme kam. Und was musste er da erblicken? Ein kleiner, silberner Fisch hatte sich in einem Algenknäuel verheddert und japste nach Luft. "Bitte hilf mir, ich kann mich nicht allein befreien!" flehte der kleine Fisch.
Ole machte sich mit seinen scharfen Zähnchen sofort an die Arbeit, und eins-zwei-drei hatte er das Algenknäuel durchgeknabbert und den kleinen Fisch befreit. Dieser hopste rasch ins Wasser. "Aaaah! Wunderbar!" rief er und sprang und tollte in den Wellen umher. Dann steckte er den Kopf aus dem Wasser und sagte höflich: "Oh, entschuldige bitte - ich habe ganz vergessen mich vorzustellen: Ich heiße Silberchen. Und mit wem habe ich das Vergnügen?"
"Ich bin Ole, der Seehund." antwortete Ole.
"Ein Seehund!" freute sich Silberchen, der Fisch. "Ich habe noch nie einen getroffen! Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, mein Freund!"
Ole strahlte. "Hast Du gesagt: mein Freund?" fragte er ungläubig.
"Natürlich!" antwortete der kleine Fisch. "Schließlich hast Du mir gerade das Leben gerettet. Also kann man wohl sagen, daß wir Freunde sind, oder?"
Ole, der Seehund hüpfte vor Freude auf seinen Flossen auf und ab, so daß sein weißer Schnurrbart tanzte. "Au ja, au ja!" rief er begeistert. "Lass uns Freunde sein!"
Silberchen lachte: "Du freust dich ja so. Du hast wohl nicht viele Freunde, hm?"
Gleich wurde Ole wieder ein bisschen trauriger. "Nein." sagte er leise und ließ den Kopf hängen. "Nicht einen einzigen. Hier ist ja niemand außer mir."
"Nun, wenn du dich allein fühlst, das kann ich ändern." sagte Silberchen. "Komm, setz dich auf meinen Rücken, dann zeige ich Dir meine Welt!"
Gesagt, getan! Ole schwang sich auf Silberchens Rückenflosse und schon begann die Reise. Ganz tief hinab tauchten sie, bis auf den Grund des Meeres, Unterwegs trafen sie riesige Schwärme von winzigen, bunt schillernden Fischlein, schwammen vorbei an prächtigen Korallenriffen und begegneten Delphinen und Seepferdchen. Sie alle winkten Silberchen, dem Fisch und Ole, dem Seehund zu und riefen fröhlich: "Hallo Silberchen, hallo kleiner Seehund! Gute Reise!"
Als sie auf dem Meeresgrund angekommen waren, wurden sie von vielen kleinen silbernen Fischen erwartet, die sich schon große Sorgen um Silberchen gemacht hatten. "Meine Familie!" stellte Silberchen die Fische vor. "Komm, lass' uns zusammen spielen." Und bis spät in den Abend hinein tollten sie alle gemeinsam zwischen Korallen und Seeigeln umher, bauten wunderschöne Sandburgen und spielten Fangen mit den Tintenfischen und Wasserschnecken.
Schließlich wurde es Zeit für Oles Heimkehr.
Silberchen nahm ihn auf seinen Rücken und hast-du-nicht-gesehen waren sie wieder an Oles Strand angekommen.
"Das war ein wundervoller Tag. Ich werde ihn nie vergessen!" sagte der glückliche Ole zu Silberchen, dem Fisch. "Aber..." fügte er leise hinzu. "Werden wir uns denn jemals wiedersehen?"
Silberchen lächelte. Dann holte er aus einer kleinen Tasche unter seiner Rückenflosse eine goldene Muschel hervor und gab sie Ole. "Dies ist für Dich." sagte Silberchen. "Eine Zaubermuschel. Öffne sie!"
Ole tat wie ihm geheißen. Und in der silbernen Perle, die in der Muschel lag, konnte er all' seine neuen Freunde sehen, die er heute kennengelernt hatte. Die Fische und Seepferdchen, die Schnecken und Seeigel, die Kranken und Delphine winkten ihm fröhlich zu und riefen "Komm bald wieder! Komm bald wieder!"
"Jedes Mal, wenn Du die Muschel öffnest, kannst Du uns alle sehen und mit uns sprechen." sagte Silberchen. "Und wenn du dich gar zu einsam und allein fühlst, rufst du mich. Dann werde ich sofort zu dir kommen und dich zum Spielen in unsere Wasserwelt holen!"
Ole klatschte vor Freude in die Hände. "Ich danke Dir, liebes Silberchen." sagte er strahlend.
Die beiden Freunde umarmten sich ein letztes Mal, dann sprang Silberchen ins Meer und verschwand in den Wellen.
Inzwischen war es Nacht geworden. Ole legte sich in sein Seehundhäuschen und presste die kleine goldene Zaubermuschel an sein Herz. Er war sehr glücklich, denn er wusste, daß er jetzt nicht mehr allein und einsam war. Er schloss die Augen, und bald war er fest eingeschlafen und träumte von Silberchen und all' seinen neuen Freunden.
Gute Nacht, kleiner Ole!