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Seduction Plus
Es war vierzehn Uhr an einem Donnerstag und Wolf stand in einer kurzen Schlange vor der Kasse der Douglas Parfümerie im Arkaden Einkaufszentrum. Vor ihm standen zwei junge Paare und sie stritten darüber, wo sie nach dem Einkauf essen gehen sollten. Die Frauen verbündeten sich miteinander und lobbyierten für Mellow’s, einen kleinen Laden am Südende der Arkaden, gerade breit genug, dass zwei Personen aneinander vorbeigehen konnten, der Suppen und orientalische Vorspeisen verkaufte. Die Männer argumentierten mit vollem Körpereinsatz gegen diesen Vorschlag. Dabei erinnerten sie an ein Tandem Fußballer, die mit der Entscheidung des Schiedsrichters unzufrieden waren. Die Argumentation der Männer gegen diesen Laden fußte primär auf der Angst, nicht satt zu werden.
Wolf stand auf der Seite der Männer. Er war bereits mehrfach in seiner Mittagspause dort essen gegangen und hatte sich jedes Mal anschließend einen Donut auf dem Weg zurück in die Filiale besorgt. Niemand leidete gerne Hunger, besonders kein Mann nach einem Nachmittag voller Chanel und Thierry Mugler.
Er hörte nicht mehr länger zu, sondern schaute gedankenverloren durch den Laden. Vor seiner Brust baumelte sein Seduction Plus Store Ausweis, der an einem dunklen Nylonband befestigt war.
Natascha hatte ihn gebeten, ein Parfüm für sie abzuholen. Sie waren nun seit fast zwei Jahren zusammen. Wolfs erste längere Beziehung in einer Ewigkeit. Vor zwei Wochen hatten sie beschlossen zusammenzuziehen. Natascha hatte ihre Wohnung bereits gekündigt. Wolf hingegen nicht. Jedes Mal wenn er sich darum kümmern wollte, fand er einen Grund es nicht zu tun. Jeden Abend im Bett bevor Natascha ihre Beißschiene einsetzte, befragte sie ihn danach. Wolf gab ihr jedes Mal einen Kuss auf die Stirn, die nach Creme roch und versprach ihr, es am nächsten Tag zu erledigen. Das ging für eine Weile gut, bis es begann an ihm zu nagen. Schließlich log er sie an. Dadurch fühlte er sich nicht besser, aber es verschaffte ihm Ruhe. Und oft war es diese Ruhe, nach der sich Wolf verzehrte.
Wolf konnte sich heute keine lange Mittagspause leisten, aber Natascha diese Bitte abzuschlagen, kam ebenso wenig in Frage. Und so stand er nun zwischen Männern, die weite Hemden trugen und weiße Tester hielten und Frauen in lockeren Stoffhosen, die ihren Teint mit den unterschiedlichen MakeUp Farben abglichen und wartete.
Die Seduction Plus Filiale zu leiten, war schon an normalen Tagen anspruchsvoll, aber an Sommertagen wie heute war der Ansturm immens. Sie waren unterbesetzt, weil sich Alicia, die für heute eingeteilt war, ihr Handgelenk gebrochen hatte, weil sie auf ihrem Longboard eine tote Taube übersehen hatte und geradewegs in die nächste Böschung gefahren war.
Die Schlange bewegte sich und die beiden Paaren verließen Arm in Arm und in Reihe und Glied den Laden. Scheinbar in Richtung Mellows. Wolf seufzte und ging an die Kasse, dabei roch er zwischen Armani und Chanel auch etwas Schweiß und fragte sich, ob es sein eigener war. Der Sommer machte ihm mehr zu schaffen, als ihm lieb war.
Es war bereits halb drei, als Wolf den Laden verließ. Er musste dringend in die Filiale zurück. Er hatte seinen besten Freund und einzigen männlichen Kollegen Jeremy gebeten, den Laden zu schmeißen. Wolf liebte Jeremy wie einen kleinen Bruder. Als Mitarbeiter war er jedoch kaum zu gebrauchen. Wolf hoffte, dass Jeremy es schaffte, in seiner Abwesenheit ausnahmsweise keinen Kündigungsgrund zu generieren.
Das Einkaufszentrum war zu dieser Uhrzeit bis zum Anschlag gefüllt. Eine bunte Masse drängelte sich zwischen künstlichen Palmen und gläsernen Schaukästen aneinander vorbei. Hier und da lief einem Kind ein bunt bestreuseltes Eis die Hand hinunter, während die Eltern im Hintergrund wild in ihrem Patagonia Rucksack nach Tüchern wühlten. Wolf stand an einer dunklen Metallreling im dritten Obergeschoss und schaute hinunter bis ins Erdgeschoss. Wenn man von hier herunter fiel, dann war es das, dachte er. Bevor er zurück konnte, musste er noch zu CopyCopyCopy, um ein paar Dokumente zu drucken. Die Dokumente waren auf einem kleinen USB-Stick, den er in seiner Hosentasche aufbewahrte. Die in Plastik gehüllte Platine fühlte sich an, wie ein altes Bleigewicht, das man von Apotheker Waagen kennt. Auf der Platine befanden sich zwei Kündigungsschreiben, eines für seine Wohnung und eins für seine Stelle als Verkaufsleiter von Seduction Plus, den einzigen Job, den er seit seinem abgebrochenen Jura-Studium länger behalten hatte.
Die Ladenfläche des Copyshops war nicht größer als drei bis vier handelsübliche Umkleiden, die man aus einem H&M kannte. Der Raum hatte sich durch die permanent ratternden grauen Druckkästen trocken aufgeheizt. Die einzige Mitarbeiterin war eine junge Frau in einem kurzen weißen Rock, weißem engen Top und weißen Turnschuhen. Sie sah aus, als käme sie direkt von einem Tennisplatz. Wolf ging zu einem der Drucker und spürte dabei ihre Blicke auf seinem Rücken.
Natürlich funktionierte der Drucker nicht und Wolf schaute auf das kleine weiße Ziffernblatt seiner Modeschmuck-Uhr. Alle Seduction Plus Mitarbeiter wurden angewiesen, soviel vom Sortiment zu tragen, wie es ihre Körper zuließen. Es waren weitere fünfzehn Minuten vergangen. Wolf klopfte dem Drucker zaghaft auf die Flanke, als wäre er ein Araber Hengst nach einem langem Ausritt, dann tippte er ein paar mal auf die feuchte Plastikfolie, die auf dem Display klebte. Es passierte nichts und er fühlte sich in die Zeit seines Studiums zurückversetzt. Langsam wuchs in ihm das Gefühl, einfach gehen zu wollen. Einer seiner ehemaligen Dozenten hatte ihn einmal in der Bibliothek getroffen und ihm gesagt, er sähe aus, als würde er permanent darüber nachdenken, die ganze Bibliothek abzufackeln. Dann fragte er ihn mit welchem Strafmaß er dabei rechnen musste. Wolf hatte keine Antwort auf diese Frage. Ein halbes Jahr später bewarb er sich bei Seduction Plus. Er stellte sich vor, den Drucker in Brand zu setzen.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als plötzlich die Tennis spielende Verkäuferin neben ihm stand und ihm Hilfe anbot. Sie roch frisch geduscht, was bei diesem Klima wirklich bemerkenswert war. Wolf machte einen Schritt zur Seite und die junge Frau übernahm. Sie tippte kurz auf dem Display herum, dann hatte sie das Problem identifiziert.
“Kein Papier mehr”, sagte sie, “Ich gehe was holen, dauert nicht lange, Momentchen.”
Ihre Stimme war farbenfroh und voller Leben. Sie tänzelte in den hinteren Teil des Ladens. Wolf schaute ihr hinterher. So jemand gehört nicht in einen Copyshop, dachte Wolf. Sie verschwand im hinteren Teil.
Wolf starrte auf das leuchtende Display. Er konnte auf der Plastikfolie Schlieren von den schwitzigen Fingern erkennen, die zeigten, welche Bewegung der letzte Benutzer gemacht hatte.
Ihre Finger mussten sehr schmal sein, schloss er aus den dünnen Furchen. Es war dieser kurze Moment, in dem er sich der jungen Frau sehr nahe fühlte. Im hinteren Teil des Raumes, hinter dem Tresen entdeckte er einen Rockzipfel hin und her wackeln. Sie suchte etwas auf dem Boden. Er schaute noch einmal auf die Uhr. Bald drei. Er zog den USB aus dem Drucker und verließ den Laden. Die Dokumente konnte er auch später noch drucken.
Seduction Plus war eines dieser Fashion-Franchises, das von einer Gruppe Mitzwanziger Marketer konsequent durchgestylt und präzise auf ihre Zielgruppe zugeschnitten wurde. Die Kunden wurden dort abgeholt, wo sie standen: Irgendwo und irgendwann zwischen dem nächsten unverbindlichen Date und dem letzten Brotback-Kurs. Unzählige Marketing-Awards in Form von vergoldeten Tieren dokumentierten den Erfolg. Zusätzlich verbreiteten sich die Filialen in der Welt des Einzelhandels wie ein multiresistentes Virus in einem Krankenhaus.
Einkaufszentren schossen in der Stadt bereits seit Jahren überall aus dem Boden, um die hässlichen architektonischen Altlasten, wie aus der Mode gekommene Innenstadt Hallenbäder mit dem neuen Versprechen von nachhaltigem Konsum zu überdecken. Seit zwei Jahren eröffnete jedoch keines dieser Zentren ohne mindestens eine dieser Filialen. Die Arkaden Filiale war brandneu, grober Betonboden, hohe Decken, hier und da einer Couch aus den 60er und an den Wänden Takashi Murakami Kunstdrucke.
Der Eingang in dieses Einkaufsparadies war eine breite Glaswand mit einer großen Doppeltür in der Mitte, die bei diesem Wetter permanent geöffnet war. Vom Eingang ging es links in die Male-Area und rechts in die Female-Area. Auf dunklen Kleiderstangen hing die aktuelle Sommermode. Im Gegensatz zu den Fashion-Discountern waren die Gänge breit. Zwei frisch verliebte Paare konnte ohne Probleme Arm in Arm aneinander vorbei schlendern. An den meisten Kleidungsstücken baumelten kleine grüne Etiketten, die jedem Kunden authentisch die nachhaltige Produktion vermitteln sollten.
Wolf machte drei Schritte in den Laden, da stand bereits Jule vor ihm. Ihr Store-Ausweis war vollkommen verdreht und hing auf ihrem Rücken.
“Wo warst du denn?”
“Musste was erledigen.”
“Das nächste Mal wenn du weg bist, überlässt du mir die Leitung und nicht diesem Neandertaler.”
Während Jule redete, fummelte sie wild ihren Ausweis zurecht. Als Wolf sie einstellte, war sie zurückhaltend und schüchtern und bekam kaum ein Wort heraus. Sie hatte damals ein kleines Stück Plastik auf ihrem Unterarm unter dem sich ihr erstes Tattoo verbarg. Mittlerweile ist ihr gesamter linker Arm voll mit Motiven. Sie hatte ihm mal erzählt, dass ihre Eltern Milchbauern seien. Mittlerweile passte das alles nicht mehr zusammen, fand Wolf.
“Ach und”, fügte Jule an, “Natascha hat angerufen. Ihr habt um Sechs eine Besichtigung. Die Adresse habe ich dir aufgeschrieben.”
Wolf holt sein Telefon aus der Hosentasche, das Display war schwarz, Akku leer.
“Danke”, sagte er und meinte es auch so.
“Und noch eine Sache, Natascha hat mir gesagt, dass sie erst nur Jeremy erreicht hat und der sie jedes Mal einfach weggedrückt hat. Nur dass du das weißt.”
Wolf meinte etwas Schadenfreude in Jules Augen zu erkennen, dann kehrte diese ihm den Rücken zu und machte sich wieder an ihre Arbeit. Wolf stand nur da. Aus den kleinen JBL Boxen, die in den Raumecken hingen, dröhnte BonezMC. Jeremy hatte auch die Playlist geändert. Es dauerte also nur wenige Minuten, bis Wolf bereute, seinem Freund die Verantwortung übergeben zu haben. Wolf suchte die Verkaufsfläche nach Jeremys Kopf ab, erfolglos. Er vermutete ihn im Pausenraum und machte sich auf den Weg.
Der Pausenraum war nicht mehr als eine freigeräumte Ecke des Lagerraums, in der die Kartons aufeinander gestapelt und zur Seite geschoben wurden, um Platz für einen kleinen improvisierten Tisch zu schaffen.
“Your best YOU” - dieser Schriftzug war in geschwungenen Lettern, sich wiederholend, wie eine CNN-Newsticker-Laufschrift in schwachem Rosa auf jeden Karton gedruckt. Der universale Appell, dem sich die Millenials so verpflichtet fühlten. Auf dem Tisch lagen Inventarlisten, zwei alte Kaffee-Becher in denen angetrocknete Kaffeereste bereits aufgeplatzt waren und eine bunte Mischung, mit unterschiedlichen Marken bedruckter Kugelschreiber. Dazwischen lag eine mit Wasabi und Sojasauce verschmierte Plastikschale, die einst Sushi enthalten haben musste. Neben der Plastikverpackung wippten Jeremys Sneaker rhythmisch zur Musik vor und zurück. Er war tief in sein Handy vertieft und schien Wolf nicht zu bemerken.
Wolf schob seine Füße vom Tisch und stellte ihn zur Rede. Dabei gab er sich Mühe wie sein Vorgesetzter zu reden und nicht wie sein Freund.
Es war egal wann man mit Jeremy redete, oder wo man auf ihn traf, er hatte immer etwas proletenhaftes an sich. Als sie erst kurz befreundet waren, hatte Wolf ihn einmal darauf angesprochen. Jeremy schob es jedes mal auf die Hip-Hop Magazine, die er als Kind gelesen hatte.
Er war sich wie immer keiner Schuld bewusst, sondern grinste nur. Ein Grinsen, das mehr verbarg als es zeigte.
“Willst du nicht auch meine Seite der Geschichte wissen?”, fragte Jeremy.
“Schieß los.”
“Es gibt keine Geschichte. Punkt. Ist nichts los gewesen, während du weg warst.”
“Das soll ich dir glauben?”
“Ich habe die Musik geändert, aber was solls? Morgen ist es halt wieder die Alte. So einfach ist das. Kein Stress.”
Bei diesen Worten streckte er seine Hände in die Luft. Jeremy war oft wie ein kleines Kind, wenn es bei etwas Verbotenem erwischt wurde. Wenn er wusste, dass er erwischt wurde, gab er eine Kleinigkeit zu, um von dem Rest abzulenken.
“Hat Natascha angerufen?”
Jeremy schüttelte den Kopf. Jeden Tag quälte er Wolf aufs Neue mit seiner Ignoranz. Jeremy hasste Natascha. Wolf vermutete, weil er der Meinung war, dass Natascha ihm den Spielgefährten stahl. Unrecht hatte er damit nicht. Früher waren sie fast jeden Abend gemeinsam unterwegs. Aber Natascha gefiel nicht wie er war, wenn er Zeit mit Jeremy verbrachte. Also verbrachte er immer weniger Zeit mit ihm. So war es nun mal. Wolf wünschte sich, dass Jeremy es langsam verstehen würde.
“Ich sollte dich endlich feuern”, sagte Wolf.
Jeremy lachte nur, denn er wusste, dass ihm nichts passieren würde.
“Was bleibt dir denn dann noch hier ohne mich?”
Wolf dachte für einen kurzen Moment darüber nach, besonders viel wollte ihm nicht einfallen.
“Bereit für eine Überraschung?”, fragte Jeremy.
Wolf nickte und Jeremy schob die Plastikschale etwas zu Seite. Auf dem schmierigen Tisch klebten zwei Tickets. Es waren Konzerttickets.
“Heute Abend im Bunker. Wir zwei, wie früher.”
Wolf machte einen Schritt zurück.
“Nein”, sagte er, “Natascha und ich schauen uns heute Abend eine Wohnung an.”
“Weißt du wie viel ich für die bezahlt habe?”
“Du hättest mich ja vorher fragen können.”
“Dann hättest du sofort nein gesagt. Komm schon Wolf, man. Du musst dich auch mal wieder um deine Freunde kümmern.”
Das letzte Mal war Wolf vor etwa einem Monat mit Jeremy unterwegs. An diesem Abend hatte er eine andere Frau geküsst. Es war kein kurzer Kuss, der von Reue begleitet wurde. Es war ein langer Zungenkuss, der ihn neugierig machte. Er dachte oft an diesen Kuss und dann schämte er sich.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als plötzlich Julia in den Pausenraum gestürmt kam. Ihr Kopf war hochrot, was nicht nur an dem Wetter lag. Sie richtete sich direkt an Wolf und ignorierte Jeremy vollständig.
“Ich muss mit dir reden. Sofort.”
Wolf bemerkte, dass sie versuchte leise zu reden. Es gelang ihr nicht.
“Nicht hier”, fügte sie hinzu. Wolf ließ den Kopf hängen. Er wusste, dass es um Jeremy ging. Dieser stand mit verschränkten Armen in der Ecke und zuckte mit den Schultern.
Wolf folgte Julia in die Küche, die sich zwischen Lager und der Verkaufsfläche befand. Die Küche war nicht mehr als ein schmaler gefliester Streifen mit einer Pantryküche, die nach kaltem Discounter Kaffee und Aloe Vera Seife roch. Julia stellte sicher, dass sie alleine waren und dann erzählte sie, was passiert war. Wolf hörte aufmerksam zu und spürte, wie langsam Wut in ihm aufstieg.
“Du weißt, dass ich mich nicht einfach bei einer Lappalie beschweren würde”, begann Julia. Julia stand in der Ecke des Raumes und lehnte an die Wand. Ihre dünnen, sehnigen Arme hatte sie vor ihrer Brust verschränkt. Sie schaute Wolf nicht in die Augen, sondern betrachtete abwechselnd die Spüle und den Boden.
“Ich habe heute die neuen Shirts eingeräumt, da stand plötzlich Jeremy hinter mir. Er wollte an mir vorbei und dann habe ich eine Hand einem meinem Arsch gespürt und…”
Wolf unterbrach sie. Er konnte sich denken, wie es weitergehen würde. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit.
“Du musst nicht weiter reden. Ich verstehe schon.”
“Ich will aber”, sagte Julia.
“Er hat sich ganz nah an mir vorbeigedrückt, mit seiner Hüfte, sodass ich seinen Penis spüren konnte.”
Die Wut in Wolf wuchs weiter. Wut und Ekel.
“Und dann hat er mich gefragt, ob ich Single bin.”
Wolf fehlten die Worte. Zu seiner Verwunderung überraschte es ihn nicht sonderlich. Er fühlte sich schuldig und verantwortlich. Julia schaute weiter auf den Boden. Er war der Grund, dass ihr sowas passierte, weil er Jeremy einfach alles durchgehen ließ.
“Es tut mir wirklich Leid Julia. Das ist meine Schuld.”
Julia schaute auf.
“Was wirst du tun?”
“Ich werfe ihn raus.”
“Willst du was trinken?”, fragte Wolf.
Julia schüttelte den Kopf.
“Du kannst Feierabend machen, wenn du möchtest. Und wenn du darüber hinaus noch Zeit brauchst, sags mir einfach.”
Wolf ging zurück in den Pausenraum. Die Sommerhitze wurde immer drückender, vielleicht würde es noch gewittern. Der Pausenraum war leer und Wolf fand Jeremy schließlich im Female-Bereich. Mit breitem Stand und verschränkten Armen stand er vor einer Kundin und plapperte vor sich hin. Es war eigentlich immer dasselbe mit Jeremy, entweder machte er Pause, oder verwickelte die weiblichen Besucher in ein Gespräch.
Wolf schnappte ihn sich, entschuldigte sich bei der Kundin und führte in aus dem Laden. Jeremy machte nur große Augen und lächelte unsicher. Er schien nicht zu ahnen, worum es ging. Direkt neben dem Laden führte eine kleine Tür in einen schmalen Raum für die Angestellten des Einkaufszentrums. Auf der anderen Seite des Raumes führte eine Tür hinaus.
Wolf schob Jeremy durch die Tür nach draußen. Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel und wärmte die Südseite bereits seit Stunden auf. Die Erde zwischen den Pflastersteinen war ausgetrocknet und das einst grüne Unkraut blass und braun. Jeremy zog eine Packung blaue Gauloises aus seiner Hosentasche und steckte sich eine Zigarette an. Er hielt Wolf die Packung hin. Wolf schüttelte den Kopf.
“Seit wann nicht mehr?”, fragte Jeremy.
“Halt die Klappe”, sagte Wolf und berichtete ihm von dem Gespräch mit Julia.
Jeremy stand nur da, zog an seiner Zigarette und schaute an Wolf vorbei.
“Sie lügt”, sagte er schließlich.
Wolf betrachtete seinen Freund ganz genau. Dabei fiel ihm auf, dass es so wie immer war, seitdem sie sich kennengelernt hatten. Er bekam nie beim ersten Versuch die Wahrheit von ihm. Er bekam jedes Mal erst die Version, die am besten für Jeremy war. Und irgendwann die nächstbeste.
“Ich werde dich rauswerfen”, sagte Wolf.
Jeremy warf die Zigarette auf den Boden und trat drauf.
“Du machst Witze.”
“Gib mir schon mal deinen Ausweis, du wirst den Rest der Zeit Urlaub machen. Den brauchst du dann nicht mehr.”
Wolf streckte die Hand aus. Jeremy packte seinen Ausweis und macht einen Schritt zurück.
“Das kannst du nicht machen! Du glaubst dieser Geschichte einfach? Einfach so?”
“Gib mir deinen Ausweis”, wiederholte Wolf.
“Was ist los mit dir?”
Wolf ging auf Jeremy zu.
“Schau mich an und sag mir, dass du die Wahrheit sagst.”
Jeremy zögerte, dann schaute er Wolf in die Augen. Seine Augen waren tiefgrün. Das Grinsen war verschwunden. Jeremy schien zu verstehen, wie ernst es war. Vielleicht das erste Mal in sehr langer Zeit. Das erste Mal hatte er das Gefühl, die Wahrheit zu bekommen.
“Der Job ist alles, was ich habe”, sagte Jeremy.
“Warum verhältst du dich dann immer wie ein riesen Arschloch?”
“Für euch ist das leicht zu sagen. Ich bemerke das gar nicht. Ich bin einfach, wie ich bin. Ich denke da gar nicht soviel drüber nach.”
“Vielleicht solltest du damit mal anfangen.”
“Ich wünschte du hättest niemals Natascha kennengelernt.”
“Sie hat damit nichts zu tun.”
“Früher warst du nicht so.”
“Ich war schon immer so.”
Jeremy schüttelte den Kopf.
“Ich glaube nicht, dass sie die Richtige für dich ist.”
Wolf spürte den USB-Stick in seiner Hosentasche, er schien zu glühen und sich langsam in seinen Oberschenkel zu brennen. Vielleicht war es aber auch nur die brennende, gelbe Kugel am Himmel, die es ihm langsam unwohl in seiner Kleidung machte.
Jeremy zog das Nylonband über seinen Kopf und überreichte Wolf den Ausweis.
“Ich weiß nicht, was mit mir los ist”, sagte er, “Ich will einfach nur Ich sein, aber scheinbar hassen mich die Leute.”
Wolf nahm den Ausweis, wickelte ihn in das Band ein und steckte ihn in seine Hosentasche.
“Die Leute hassen nicht wer du bist. Ihnen gefällt bloß nicht, was du tust.”
“Wo ist der Unterschied?”
Jeremy steckte sich eine weitere Zigarette an.
“Denke einfach mal nicht nur an dich.”
“Wie machst du es? Immer das Richtige zu tun?”, fragte Jeremy.
“Tue ich nicht.”
“Warum hast du Julia das angetan?”, fragte Wolf.
“Ich weiß nicht”, sagte er, “Es ist einfach passiert.”
Wolf wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
“Bleiben wir Freunde?”, fragte Jeremy schließlich.
Auch darauf hatte Wolf keine Antwort, also zuckte er nur mit den Schultern. Jeremy nickte abwesend und schaute gedankenverloren in den blauen Himmel.
Sie gingen gemeinsam zurück in die Filiale, Jeremy packte seine Sachen und verschwand. Julia war auch bereits weg. Es war besser, dass sie sich nicht mehr über den Weg liefen, dachte Wolf. Mittlerweile war es fünf und Wolf übergab die Store Leitung an Jule. Vor der Besichtigung mit Natascha, wollte er noch zum Copyshop, um die Dokumente zu drucken.
Der Laden war noch immer so leer wie am Nachmittag, aber mittlerweile etwas kühler. Die junge Angestellte stand noch immer hinterm Tresen und blätterte in einem Magazin. Sie erkannte Wolf und zeigte auf den Drucker in der Ecke.
“Jetzt wieder mit Papier.”
Wolf steckte den USB-Stick ein und navigierte sich durch das Menü. Er konnte seinen Stick nicht finden, also fragte er nach Hilfe. Sie huschte schnell zu ihm herüber.
“Warum sind die Dinger so kompliziert?”, fragte Wolf.
“Sind sie eigentlich gar nicht”, sagte sie und drückte zweimal auf dieselbe Taste.
“Wie viele Exemplare?”, fragte sie.
Wolf betrachtete sie. Sie erinnerte ihn an eine Schauspielerin, dessen Name ihm nicht mehr einfallen wollte. Er brauchte von beiden jeweils zwei Exemplare. Die Worte wollten ihm jedoch nicht über die Lippen gehen.
“Ich glaube ich habs mir anders überlegt”, sagte Wolf, “Ich kann das auch später drucken.”
Er zog den Stick wieder raus.
“Spielst du eigentlich Tennis?”, fragte er.
Sie lachte.
“Das ist neu. Nein und auch noch nie darüber nachgedacht.”
Komisch, dachte Wolf. Ihr fiel der Store-Ausweis auf.
“Du arbeitest oben in dem Klamottenladen, oder?”
Wolf nickte.
“Mir gefallen die Sachen. Ich habe auch einiges von euch.”
Wolf schaute auf die Uhr, halb sechs. Wenn er jetzt losgehen würde, würde er es noch pünktlich zur Besichtigung schaffen.
“Arbeitest du gerne dort?”, fragte sie.
“Sehr gerne”, sagte Wolf und fühlte, dass es die Wahrheit war. Er arbeitete gerne dort und er mochte seine Wohnung. Ihm gefiel sein Leben.
“Ich habe auch mal überlegt mich zu bewerben und zu wechseln, das hier ist… ”, sie schaute sich um, “…nur gut fürs Geld, aber noch nicht mal das, wirklich.”
“Wenn du willst gebe ich dir eine kleine private Führung. Nach Feierabend natürlich.”
Er dachte an Jeremy.
“Du hast Glück, wir haben eine freie Stelle.”
“Ich muss noch bis halb sieben. Passt es dir noch etwas zu warten?”, fragte sie.
“Ich habe heute nichts mehr vor”, sagte er, “Ich warte draußen und genieße noch etwas die Sonne.”
Mittlerweile war es draußen etwas kühler. Wolf suchte sich einen Platz auf einer Bank, die vor dem Eingang stand. Die Holzplanken waren warm. Der Akku seines Handys war noch immer leer und mittlerweile war es sechs. Er dachte an Natascha, dann an den Kuss aus der Bar, an die Verkäuferin aus dem Copyshop und an Jeremy. Er wusste genau so wenig wie jeder andere, was richtig, oder was falsch war. Aber war das schlimm? Musste man immer wissen, was richtig war? Darauf hatte er keine Antwort.
Es dauerte noch eine Weile bis das Mädchen aus dem Copyshop vor ihm stand. Er stand auf.
“Wie heißt du eigentlich?”, fragte Wolf.
“Lily”, antwortet sie.
Wolf lächelte.
“Freut mich, Lily”, sagte er, “Ich heiße Wolf.”
Dann gingen sie gemeinsamen zurück in das Einkaufszentrum, vorbei an einer großen Seduction Plus Reklame mit den Worten:
Your best You.