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Security Popcorn
„Organ Replacement Center, Abteilung Lunge und Atemwege, Kundenservice, guten Tag! Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Tag, Berger, Lars Berger. Ich benötige eine Lunge.“
„Eigenbedarf?“
„Bitte?“
„Ist die Lunge für Sie selbst, ein Haustier oder …“
„Ach so, nein, sie ist für mich.“
„Also Krebs und keine Schussverletzung?“
„Woher wissen Sie -“
„Statistische Wahrscheinlichkeiten, nicht wahr. Lungenkrebs, hm, heißt Totalersatz. Das neue Gewebe wird in fünf Monaten zur Verfügung stehen. Haben Sie fünf Monate, Herr Berger?“
„Knapp. Der Arzt gibt mir ein halbes Jahr, bis dahin muss ich das Transplantat haben.“
„Kein Problem, dann haben Sie sich rechtzeitig gemeldet. Ich rufe Sie eben im Computer auf, Moment, Lars-Leander Berger, sind Sie das? Lars-Leander?“
„Ja, wobei Leander, äh, nur Lars bitte.“
„Lars ist der Rufname, das kann ich gut verstehen, Herr Berger, kann ich gut verstehen. Ist auch nicht so wichtig, wir brauchen das nur für den Textkram. Gut, Ihr vollständiger genetischer Datensatz ist bei der Blutbank verfügbar, sehr schön. Und Sie sind vor Ausbruch Ihrer Krankheit zu allen gesetzlichen Blutspendeterminen erschienen, vorbildlich! Mir liegt eine Kreditnummer vor, 97 67 8 125 – LLB58, hat die noch Gültigkeit?“
„97 67 8 125, ja, das stimmt. Sie buchen automatisch ab?“
„Selbstverständlich. Die Kosten für die Nachzucht einer Gesamtlunge belaufen sich auf ca. fünfundfünfzigtausend, plus fünfundzwanzigtausend für die Transplantation. Krankenhausaufenthalt und ein halbes Jahr Nachbeobachtung sind inklusive. Macht achtzigtausend Euro, plus/minus, je nachdem ob sich Komplikationen ergeben. Ihre Bank teilt mir glücklicherweise gerade mit, dass das für Sie finanzierbar sein wird, empfiehlt aber dringend eine Ratenzahlung.“
„Tja …“
„Üblicherweise vereinbaren wir mit Kunden wie Ihnen drei Raten im Abstand von je drei Monaten. Die erste Rate wird fällig zum Monatsersten nach erfolgter Transplantation. Durch den üblichen Zinssatz erhöht sich der Gesamtbetrag natürlich, Augenblick, meiner Rechnung nach werden Sie drei Raten zu je vierunddreißigtausend zahlen. Wenn Sie einverstanden sind, übersenden wir Ihnen jetzt den Transplantationsvertrag, den Sie bitte innerhalb der nächsten dreißig Minuten versehen mit Ihrem elektronischen Fingerabdruck an uns zurückschicken. Sie erhalten eine Auftragsbestätigung per E-Mail. Sollten Sie Ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen können, geht Ihr Körper post mortem in den Besitz von Organ Replacement über, einschließlich aller Rechte an Ihrer Genom-Sequenz. Stimmen Sie den Geschäftsbedingungen soweit zu, Herr Berger?“
„Hm. Ja.“
„Sehr schön, es freut uns, mit Ihnen Geschäfte zu machen. Der Transplantationsvertrag wurde soeben übertragen. Lehnen Sie sich entspannt zurück, wir informieren Sie, sobald wir den Operationstermin festgesetzt haben. Vielen Dank und einen schönen Tag wünscht Ihnen Ihr Organ Replacement Center.“
Ein Bürotelefon läutete im beherrschten Chaos. Prof. Dr. rer. nat. Tusiast verfolgte das Kabel zu einem Haufen Aktenordner und grub den Apparat in deren Mitte aus. Das Display zeigte einen Anruf von außerhalb an. Er nahm den Hörer ab.
„Tusiast, Organ Replacement, hallo?“
„Guten Morgen“, sagte eine heisere Stimme am anderen Ende der Leitung. „Lars Berger. Bin ich bei Ihnen richtig, Sie sind der Lungenverantwortliche?“
„Ja, in der Tat. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Es ist so, Sie bearbeiten einen Auftrag für mich, einen Lungenkomplettersatz. Ich wollte mich erkundigen, wie es läuft und ob die Transplantation vorverlegt werden könnte.“
Professor Tusiast wartete höflich, bis der rasselnde Husten geendet hatte. „Berger … Berger … ich suche gerade die Aufzeichnungen für Ihren Fall heraus. Also, Herr Berger, Leander –“
„Lars.“
„Lars, es sieht gut aus. Ihre Lunge ist zu der erforderlichen Größe herangewachsen und voll funktionstüchtig, sie trainiert noch, damit Atemvolumen und Atemzugfrequenz unter Belastung ein Optimum erreichen. Wir können die Transplantation nächste Woche vornehmen, wenn Sie wollen. Allerdings ist die Lunge dann noch nicht so sportlich, wenn Sie verstehen, hehe.“ Professor Tusiast lachte in sich hinein.
„Hören Sie, darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich brauche diese Lunge jetzt“, röchelte die Stimme.
„Ist gut, dann schlage ich vor, Sie kommen nächste Woche Donnerstag dran. Städtisches Krankenhaus Block D, melden Sie sich da am Mittwoch um neun.“
„Oh, Gott sei Dank!“
„Kein Problem. Ich wünsche Ihnen noch …“
„Warten Sie, noch etwas. Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?“
Professor Tusiast zögerte, aber nicht lange. „Natürlich, worum geht es denn?“, fragte er freundlich.
„Also. Folgendes. Ich bin Journalist, ich schreibe für den Sci-Xplorer …“ Wieder Husten, diesmal ein sehr langes.
„Ja? Für den Xplorer?“
„Genau, und der Redakteur möchte für die Herbstausgabe eine Reportage über Ihr Institut. Sie wissen schon, der revolutionäre Durchbruch von Organ Replacement, die Generation von menschlichen Ersatzteilen durch das ethisch saubere Mausmodell, so was in der Art. Und weil ich ja nun … sozusagen aus erster Hand … Jedenfalls, könnte ich morgen bei Ihnen vorbeikommen? Für ein Interview mit Ihnen und vielleicht eine Führung durch die Labore, wenn das geht.“ Diesmal kein Husten, aber dafür Atemzüge, die wie Schnarchen klangen.
„Ähm, Herr Berger? Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber sollten Sie im Moment wirklich arbeiten? Vielleicht verschieben Sie Ihre Reportage bis nach –“
„Nein, das geht nicht.“ Husten. „Ich brauche das Geld.“
„Verstehe. Morgen passt mir zeitlich überhaupt nicht. Freitag um zwei?“
„Das wäre prima.“
„Ich treffe Sie am Haupteingang, erschrecken Sie unseren Pförtner nicht, der ist bewaffnet, haha. Ich führe Sie gerne herum. Filmen ist im Gebäude nicht erlaubt, soweit ich weiß, aber ich werde mich bei der Institutsleitung erkundigen.“
„Vielen Dank, ich weiß zu schätzen, dass Sie sich die Zeit nehmen.“
„Nichts zu danken, wir sehen uns Freitag.“
Lars zupfte an seinem Sakko herum, während er vor dem Pförtnergebäude auf und ab schritt. Sarah sah ihm kopfschüttelnd dabei zu. Sie stand, die Hände in den Hosentaschen, an die Mauer neben dem Eingangstor gelehnt. Schräg über ihrer linken Schulter prangte das Schild: Organ Replacement – now we can grow it back for you! Lars zupfte immer noch, und Sarah fiel auf, wie schlabberig das Sakko und die Jeans an ihm hingen. Er musste an die zwanzig Kilo verloren haben, schätzte sie. Nur das Gesicht wirkte irgendwie aufgedunsen, kränklich weiß mit einem Schuss ins Mumien-Ockerfarbene, die Haare würden ja angeblich nachwachsen … ha, so sieht dein Mann mit neunzig auch wieder aus, gewöhn dich schon mal dran, Mädchen! Bei dem Gedanken musste sie gegen ihren Willen leise lachen. Lars hob den Kopf: „Was ist?“
„Nichts. Ich wollte dich auf keinen Fall in deiner Nervosität unterbrechen. Es ist ja nur dein ungefähr zweitausendstes Interview, da solltest du noch dringend ein paar Mal hin und hergehen. Und dabei leise murmeln. Das hilft immer.“
Lars blieb neben seiner Freundin stehen und lehnte sich ebenfalls gegen die Mauer. „Es geht weniger um das Interview als solches. Nur könnte es mein erstes Interview werden, bei dem ich mir Blut auf den Bauch spucke. Ich befürchte, das könnte unprofessionell wirken.“
„Na, dafür bin ich ja mit meinen professionellen dreilagigen Taschentüchern mitgekommen ... Aber meintest du nicht, heute wäre einer der besseren Tage? Geht es jetzt doch schlechter?“
Lars sah sie von der Seite an. Die Frage, ob es ihm schlecht ging, und wenn ja, wie schlecht, war eigentlich verbotenes Territorium zwischen ihnen. „Ich bin okay“, sagte er schließlich.
„Das hast du bei unserer ersten Verabredung schon behauptet. Gleich nachdem sie dich unter der Achterbahn hervorgezogen haben.“
Jetzt musste Lars auch grinsen. „Vergnügungsparks bei ersten Verabredungen sind auch was für Fortgeschrittene. Schlimme Selbstüberschätzung meinerseits, wie meistens.“
„Mach dich mal nicht noch mieser, als du bist“, erwiderte sie spöttisch. Sie lachten beide, als der Pförtner, ein unsicherer Mann mit hektischen Augen, das Tor öffnete. Da er Gelächter gewohnheitsmäßig auf die eigene Person bezog, legte sich seine Rechte unwillkürlich an den Griff seiner Dienstwaffe. „Professor Tusiast ist jetzt hier, um sie abzuholen.“
„… Und das ist meine Verlobte, Sarah Rosenthal. Sarah, das ist Professor Tusiast.“
„Oh, nennen Sie mich doch bitte Alexander.“
Die schlaksige Gestalt beugte sich weit nach vorn und nach unten, um erst Sarahs und dann Lars’ Hand zu schütteln. Nur wenige schwarz-weiße Haare umzingelten die Halbglatze, aber eine krause Mähne spross aus Kinn und Wangen.
Komisch, er trägt gar keinen weißen Kittel, dachte Lars, es hätte wunderbar zu ihm gepasst.
Professor Tusiast schob halbmondförmige Brillengläser auf einer langen Nase nach oben. „Na, dann wollen wir mal, was?“, trompetete er fröhlich, wirbelte herum und rannte den Korridor hinunter. Lars und Sarah tauschten ein Schulterzucken aus und folgten ihm.
„… das hier ist die Cell Culture, nicht so spektakulär jetzt für die Outsider, Zellrasen in Petrischalen und in Flaschen, Sie sehen die 37°C-Inkubatoren und die Sterile Benches dort drüben, da in der Ecke das große Mikroskop mit Joystick, das ist unser Microinjector, damit können wir DNA in einzelne Zellen injizieren, können Sie sich das vorstellen? Lars, Ihre Lunge hat an genau diesem Injector angefangen, falls es Sie interessiert …
… hier sind wir in der Tissue Culture, das Spannende ist, dass wir hier in die dritte Dimension gehen, das heißt die Zellen müssen in Layers, ich meine in Schichten, wachsen – sehen Sie das hier? Das ist eine biokompatible Matrix, auf der wir Knorpelgewebe züchten … hier machen wir Muskeln, sehen Sie diese Zug-Apparaturen? Sie stretchen die neugewachsenen Muskelfasern und trainieren sie – sehen Sie das hier? Das ist ein ganz raffinierter Fütterungsmechanismus, frisches Nährmedium wird hier hineingepumpt und das alte verbrauchte Medium fließt hier und hier und hier ab, ganz raffiniert, sage ich Ihnen, jedenfalls können wir das gezüchtete Gewebe so mit einem stetigen Fluss von Nährstoffen versorgen, genau wie es im menschlichen Organismus durch das Blut versorgt würde … Oh, sehen Sie das hier? Ein Verbund von Herzzellen, sozusagen. Es ist kein vollständiges Herz, aber es schlägt.“
Professor Tusiast hielt ihnen einen durchsichtigen Plastikcontainer entgegen, in dem ein heller Ring aus Fleisch schwamm. Der Ring zog sich zusammen und entspannte sich in einem immerwährenden Rhythmus, eine Kontraktion dauerte etwas weniger als eine Sekunde. „Faszinierend, nicht?“, fragte der Professor aufgeregt.
„Faszinierend“, bestätigte Sarah nach einer Weile, „ein Stück Herz in der Dose. Kann praktisch sein.“
„Wo ist der Unterschied zwischen dem Ding und einem Schließmuskel?“, fragte Lars skeptisch.
Sarah verdrehte die Augen, aber Tusiast deutete nur auf einen anderen Inkubator. „Gehen Sie vergleichen, Schließmuskel lagern wir alle da drin, von oben nach unten alles von Pupille bis Anus.“
„Und nun“, Professor Tusiast verstellte mit dem Rücken die Tür und strahlte Lars und Sarah an, „der bis jetzt größte Erfolg von Organ Replacement. Sehen Sie, wenn wir ein ganzes Organ basteln, haben wir immer das Problem, diesem Organ sein natürliches Environment bieten zu müssen. Inzwischen haben wir mit einzelnen physikalischen Stimuli, der Nährstoffversorgung und den Zell-Zell- beziehungsweise Zell-Matrix-Kontakten große Fortschritte erzielt - trotzdem, wenn wir eine Lunge züchten wollen, brauchen wir einen geeigneten Organismus als Gerüst. Willkommen im Mäusehaus!“
Er öffnete die schwere Feuerschutztür mit einer Zahlenkombination und ließ Lars und Sarah eintreten. Lars klappte der Mund auf.
„Wenn Sie bitte hier herüber kommen wollen, Lars, darf ich Ihnen vorstellen, das ist Ihre Lunge.“
„Hallo“, sagte das Wesen und warf seinen Oberkörper vor und zurück.
Lars stierte auf das Wesen in der Maschine. Er stierte auf Professor Tusiast. Er sah kurz zu Sarah, aber die war im Moment genauso überfordert wie er. Er wandte sich an den Professor.
„Entschuldigung, soll das ein Witz sein? Was ist das?“
„Ein Witz, oh nein, natürlich nicht“, sagte der Professor. „Das hier ist die Maus, die Ihre Lunge austrägt. Wir haben die Maus mit den genetischen Informationen ausgestattet, die sie benötigt, um mit einer menschlichen Lunge aufzuwachsen. Ihren genetischen Informationen, Ihrer Lunge. Jetzt ist der Reifungsprozess abgeschlossen, Lunge erntefertig, und es kann zur Transplantation kommen.“
Die letzten Worte raunte er Lars zu: „Aber jetzt kein Gerede mehr über die Transplantation, wir wollen hier niemanden beunruhigen.“
Tusiast zwinkerte Lars zu. Lars wurde übel. Er sah wieder das Wesen an. „Was ist das?“, fragte er noch einmal.
„Eine Maus“, antwortete Tusiast geduldig. „Erkennen Sie denn nicht –“
„Nein“, fiel Lars ihm scharf ins Wort, „Wie kann das eine Maus sein? Sehen Sie doch richtig hin!“
Das Wesen schaute neugierig abwechselnd Lars und den Professor an. Es war ein männlicher Humanoide, etwa einen Kopf kleiner als Lars, mit einem etwas zu breiten Brustkorb, etwas zu kurzen Beinen und einer auffälligen Flaumbehaarung am ganzen Körper. Lars verfing sich letztendlich am Gesicht des Wesens. Es war sein eigenes. Vielleicht war es insgesamt ein bisschen spitzer. Aber das Wesen hatte eindeutig Lars’ Gesicht. Vor allem hatte es seine Augen. Nachdem Lars’ Blick sich förmlich in den Augen des Wesens festgesaugt hatte, wurde es dem Wesen sichtlich unheimlich. Nach kurzem Überlegen streckte es die Hand aus: „Ich bin Leander“, sagte es.
„Nein, Lars“, korrigierte Lars automatisch. Dann, erschrocken: „Nein, ich meine, ich bin Lars. Hallo Leander.“ Und Lars ergriff die Hand.
„Das freut mich, freut mich sehr, dass Sie beide sich verstehen.“ Professor Tusiast wippte wie ein Schilfrohr, als Lars und Leander die Hände schüttelten. „Ist das erste Mal, dass ein Kunde bei uns vorbeikommt, allgemein interessieren sich die Leute wenig für den Herstellungsprozess ihrer Bestellungen. Wenn Sie sich unterhalten möchten, ich bespreche mich kurz mit meinen Assistenten nebenan im S2, bin gleich zurück.“
Entsetzt sah Lars den Professor mit weit schwingenden Armen davoneilen. „Äh …“, brachte er nur hervor.
„Sind Sie Freunde vom Professor?“, fragte Leander und sah dabei erwartungsvoll zu ihm und Sarah hoch. Insbesondere zu Sarah. Täuschte Lars sich oder wurde Leander tatsächlich rot unter dem dünnen Gesichtsplüsch? „Äh …“, machte Lars.
„Ja, sind wir“, sprang Sarah ein. „Wir sind zu Besuch hier und er führt uns ein bisschen herum. Du hast ein sehr interessantes Zuhause. Was machst du da eigentlich?“
Leander lachte. „Rudern nennt man das. Aber mittlerweile ist die Zeit dafür wohl um. Ich muss noch aufs Fahrrad, dann bin ich für heute ganz fertig.“
Umständlich kletterte er aus der Rudermaschine, bestieg stattdessen einen Heimtrainer und trat sofort mit einem Tempo in die Pedale, dass es Lars ganz schwindlig wurde.
„Trainierst du jeden Tag?“, fragte Sarah in einem sorgfältigen Plauderton.
„Oh ja, das ist die Aufgabe, die der Professor mir gegeben hat. Am Anfang ist es anstrengend, aber jetzt macht es richtig Spaß. Die meisten müssen sowas machen. Nur Timmy da drüben hat eine ganz komische Arbeit bekommen. Wir sind befreundet, Timmy und ich, aber er hat kaum Zeit, mit mir zu reden.“ Leander zeigte quer durch den Raum, in dem etwa zwei Dutzend seinesähnlichen mit Ausdauer- oder Krafttraining beschäftigt waren oder in Schlafkojen entlang der Wände lümmelten. Timmy war einer der wenigen Unbefellten, sein spiegelglatter Körper vermisste schmerzlich sowohl Augenbrauen als auch Haupt- und vermutlich Schamhaar. Einer rosigen Nacktschnecke gleich saß er an einem Tisch und verschlang unter der Aufsicht eines weißkitteligen Hilfswissenschaftlers riesige Portionen einer grünbreiigen Masse. Timmys enormer Bauch drapierte sich in so vielen Hautfalten um ihn herum, dass nicht zu erkennen war, ob er auf einem niedrigen Stuhl oder auf dem Boden saß. Sarah und Lars wandten sich verstört ab.
„Fettgewebe?“, flüsterte Sarah.
„Um fünf Millionen Lippen aufzuspritzen? Ach komm“, gab Lars zurück. Dann straffte er die Schultern und erinnerte sich daran, dass er Journalist war.
„Wie lange bist du schon hier?“, fragte er Leander.
Der dachte kurz nach. „Immer schon, ich war nie irgendwo anders.“
„Und weißt du, wozu … ich meine, nächste Woche, weißt du was mit dir –“
Sarah kniff ihn in den Arm, sehr fest. Aber er musste diese Frage stellen.
„Leander, weißt du, wo du nächste Woche hingehst? Hat der Professor etwas gesagt?“
Das verwirrte Leander endgültig. „Nein, hat er nicht. Und ich gehe hier nicht weg. Warum sollte ich?“
Just in diesem Augenblick kam Tusiast zurück. Überschwänglich schlug er Lars auf die Schulter und nickte anerkennend in Leanders Richtung, der immer noch auf dem Heimtrainer strampelte. „Ist Ihnen das aufgefallen? Atemgeräusch gleich Null, und das nach einem zehnstündigen Programm! Wirklich gut, Leander! Ich denke, du kannst da jetzt runterkommen.“
Leander sprang zufrieden vom Sattel und streckte sich. Der Professor stieß einen spitzen Ellenbogen verschwörerisch in Lars’ Rippen: „Sie sind dämmerungsaktiv, aber es ist uns gelungen, ihren Biorhythmus unseren Bedürfnissen anzupassen, damit sich die Trainingseinheiten leichter überwachen lassen. Was sagen Sie dazu?“
Lars sagte dazu lieber gar nichts.
Sarah wedelte mit einer flatternden Hand in Richtung Eingang: „Vorsicht, einer von denen ist gleich zur Tür raus.“
Tusiast drehte sich erstaunt um, dann warf er Sarah einen befremdeten Blick zu. „Nicht doch. Das ist Dr. Rehberg, er sieht nur ein wenig seltsam aus.“
„Ich brauche jetzt sofort eine Zigarette“, stöhnte Lars.
„Sie rauchen also tatsächlich selber, was?“, fragte der Professor, als sie wenig später in seinem Büro saßen und Lars mit zitternden Händen eine Zigarette anzündete. Lars hustete und entging so einer Antwort. Tusiast hatte die Füße auf dem Schreibtisch und die Hände hinter dem Kopf überkreuzt und verkrumpelte nachdenklich die hohe Stirn. „Wissen Sie, die meisten unserer Lungenkunden haben einfach jahrelang im Industriegebiet gewohnt, ohne einen vernünftigen Luftfilter zu installieren. Ich glaube, Sie sind der erste Aktivraucher, der mir in zehn Jahren begegnet ist.“
Lars blieb stumm.
„Ehrlich gesagt“, fing der Professor wieder an und musterte Lars dabei kritisch, „es fällt mir schwer zu begreifen, wie sich jemand in Ihrem Alter derart seine Lunge zerschießen konnte. Vielleicht hätte Sie jemand über Ihre Prädisposition für Lungenkrebs informieren müssen.“
„Ehrlich gesagt“, murmelte Lars, „das geht Sie überhaupt nichts an. Vielleicht ist es eine Manifestation unterbewusster Todessehnsucht und vielleicht beruhigt Rauchen mich einfach. Ist das Ihr Problem? Und davon abgesehen – bei dieser Nummer, die Sie hier fahren, steht Ihnen überhaupt kein Urteil über mich zu. Was bilden Sie sich ein?“
Sarah trommelte mit den Fingern auf der Stuhllehne herum und biss sich auf die Zunge. Tusiast zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Was ich mir einbilde? Wie meinen Sie das?“
„Diese … Ihre … Ihre Züchtungen hier. Das alles hier. Wie kommen Sie dazu, Leander meinen Namen zu geben?“
„Das hat nichts zu bedeuten. Alle Transplantatspender werden nach ihrem Eigentümer benannt, damit wir sie besser zuordnen können.“
„Hören Sie auf, sie so zu nennen! Transplantatspender! Mäuse! Das sind Menschen, geklonte Menschen, die Sie in Ihrem Gruselkabinett unter menschenunwürdigen Bedingungen halten, bevor Sie sie zum Schlachten schicken.“
Der Wissenschaftler antwortete sehr ernsthaft und sehr geduldig: „Das sind keine Menschen, das versichere ich Ihnen. Es sind wirklich Mäuse.“
Lars starrte ihn ungläubig an. „Sind Sie nicht ganz bei Trost? Sind Sie völlig blind?“
„Nein, im Gegenteil, meine Sicht der Dinge ist weniger oberflächlich als Ihre. Seit das Klonen von Menschen als moralisch fragwürdig gilt, hat Organ Replacement sich mit der Manipulation von Mäusen beschäftigt. Unsere Transplantatspender sind genetisch veränderte Mäuse. Leander war ein gewöhnlicher Mausembryo, dem wir im Einzellstadium ein wenig von Ihrer DNA beigefügt haben. Der Austausch einiger weniger Gene genügt.“
„Einiger weniger Gene, dass ich nicht lache! Fast das ganze Genom müssen Sie verändert haben. Da ist kaum noch Maus in Ihren sogenannten Mäusen, sie experimentieren hier mit Menschen herum. Anzeigen werde ich Sie.“
„Junger Mann“, sagte der Professor und stieß mit einem langen Finger nach Lars, „weniger als ein Prozent aller menschlichen Gene finden Sie nicht sowieso in der Maus wieder. Und umgekehrt.“
„Weniger als ein Prozent? Blödsinn.“
„Weniger als ein Prozent. Lassen Sie sich durch die Äußerlichkeiten nicht täuschen, die Unterschiede zwischen Menschen und Mäusen sind geringfügig. Bloß weil ich einer Maus einige menschliche Gene verleihe, erhebe ich damit die Maus zum Menschen? Wohl kaum, sie ist nur minimal ’mehr Mensch’ als sie vorher schon war, als Sie sich aber nicht weiter um diese Maus geschert hätten. Seit dem letzten Jahrtausend pflanzen wir menschliche Gene in Darmbakterien ein, um die Gene erforschen zu können. Macht das Ihrer Meinung nach die Bakterien menschlich?“
„Aber das …“ Lars fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Er fühlte, wie ihm dabei noch ein paar Haare ausgingen. „Mir ist egal, was Sie sagen. Nächste Woche soll jemand ermordet werden, damit ich seine Lunge bekomme. Das kann ich nicht verantworten.“
Professor Tusiast stand auf, trat zu Lars und legte diesem väterlich eine Hand auf die Schulter. „Das ist natürlich ganz Ihre Entscheidung, nach wie vor. Überlegen Sie sich bitte genau Ihre persönliche Definition von ‚jemand’, bevor Sie Ihre Wahl treffen.“
„Ich würde Leander gerne nochmal sehen, bevor wir gehen.“
Tusiast seufzte. „Halten Sie das für eine gute Idee?“
„Nein, aber ich will nochmal mit ihm reden.“
Als sie dieses Mal ins Mäusehaus kamen, lag Leander gemütlich in einer Hängematte und aß Popcorn. Auf seiner Brust schlummerte zusammengerollt eine kleine braune Maus. Leander grinste verlegen. „Meine Mutter“, erklärte er ihnen leise, „bitte weckt sie nicht auf, sie hatte einen langen Tag.“
Wieder einmal fiel Lars auf „Äh …“ zurück.
Wieder improvisierte Sarah, aber diesmal unglücklich: „Die Familienähnlichkeit ist deutlich.“
Nicht nur Lars war verdattert, auch Leander hatte Zweifel. „Ehrlich?“, fragte er. „Ich hab mich immer gewundert, dass ich so groß geworden bin. Ich nehme an, mein Vater war sehr groß.“
„Einen Meter achtundachtzig, ohne Schuhe“, sagte Lars ohne zu denken.
„Wie ist das Popcorn?“, fragte Sarah schnell.
„Heute ausnahmsweise ganz lecker. Ich hab mir angewöhnt, drauf rumzukauen, auch wenn es nicht so schmeckt. Die Knabberei soll beruhigend wirken. War Mamas Idee, die findet mich immer zu zappelig. Es funktioniert meistens ganz gut, das Beruhigtwerden, meine ich. Jetzt muss ich immer Popcorn dabei haben. Wollt ihr auch welches?“
Sarah nahm sich tapfer eine Handvoll, aber Lars stieß hier und jetzt an die Grenze. Er fühlte sich elend, wollte nur nach Hause und ins Bett. Zum ersten Mal seit Wochen keine Angst vor dem Einschlafen. Denn wenn er morgen nicht mehr aufwachen sollte, wäre das eigentlich ganz wunderbar.
„Du, Leander, wir müssen jetzt gehen. War nett, dich kennengelernt zu haben“, log Lars, unbewusst zerknautschte er dabei das Päckchen Zigaretten in seiner Hand. Leander wies mit dem Kinn darauf: „Schade, dass ihr weg müsst. Was ist das denn?“
Lars lächelte gequält: „Das ist mein Popcorn, die unfreundliche Variante davon, aber das muss ich auch immer dabei haben. Du wirst es mir nicht glauben, aber Leben hängen von diesen Dingern ab.“ Jetzt fühlte er sich sogar noch niederträchtiger. „Ich wollte dir keine Angst machen, tut mir leid. Dann also. Auf Wiedersehen.“ Er drehte sich abrupt um und stelzte mit steifen Beinen zur Tür. Die Zigaretten versuchte er mit der schweißglitschigen Hand in eine Jackentasche zu schieben. Das Päckchen fiel unbemerkt auf den Fußboden.
„Tschüß, Leander“, sagte Sarah traurig und strich einmal über den weichen Flaum auf Leanders Stirn. Er hätte wirklich Lars’ Bruder sein können. Beinahe.
„Schläfst du schon?“
„Ja. Deswegen werde ich deine dusslige Frage nicht beantworten“, nuschelte Lars ins Kissen.
Sarah drängelte sich neben ihn unter die Decke. „Ich möchte drüber reden. Ich muss drüber reden. Entweder das, oder ich kotze gleich.“
„Mach das im Badezimmer, ich kann den Geruch nicht leiden.“
„Lars!“
Er brummelte mürrisch vor sich hin, drehte sich aber halb zu ihr um.
„Worüber willst du denn reden? Ob wir Leander und seine Mutter mal zu Kaffee und Knabberstangen rüberholen? Warum Doktor Frankenstein seinen Schützlingen keine vier Meter großen Laufräder aufstellt?“
Sie sah ihn halb ärgerlich an. Ihre Augenbrauen hatten sich über der Nasenwurzel getroffen und hielten Kriegsrat.
„Ja, sowas in der Art. Ob Spinat in der grünen Pampe war, die Timmy gekriegt hat. Ob ich nach heute jemals wieder Spinat essen kann. Ob ich überhaupt nochmal was Grünes essen kann, Scheißgefühl für eine Vegetarierin, nebenbei gesagt. Und ob ich Leander einen Pullover stricken sollte oder wenigstens eine Hose.“
Lars setzte sich aufrecht und rieb sich die Schläfen. „Die einzige Maus, die legalerweise angezogen sein darf, ist Stuart Little.“
„Was ist mit Mickey?“
„Der ist nicht echt.“
„Minnie? Mighty Mouse?“
Er antwortete nicht gleich, das Gesicht verbarg er in den Händen. „Warum kann er überhaupt sprechen? Das muss ihm doch jemand beigebracht haben. Dabei ist er höchstens vier Monate alt. Es wäre besser, hätte er nicht mit mir reden können.“
Sarah faltete die Arme über der Brust und starrte an die Decke. „Nur damit ich definitiv diejenige verkommene Böse welche bin, die es zuerst laut ausspricht: Du solltest diese Transplantation machen lassen.“
„Und das kannst du einfach so beschließen, ja? Für dich ginge das in Ordnung?“
„Nicht einfach so … obwohl doch, einfach so. Was bleibt anderes übrig? Leander lebt nur wegen dir, nur für dich. Nur wegen dieser Transplantation. Wenn wir gewusst hätten, wie dieses perverse Mausmodell funktioniert, hättest du diese Lunge vielleicht nie in Auftrag gegeben, wärst mit all deiner moralischen Überlegenheit gestorben und ich wäre mit dem Geld für drei Jahre in den Skiurlaub gefahren. Drei Jahre am Stück, wohlgemerkt. Aber für solch weise Erkenntnis ist es jetzt einen Tick zu spät. Also spar dir deine Jammerei und nimm das Transplantat.“
Lars ließ die Hände sinken und verschränkte nun seinerseits trotzig die Arme. „Ganz ehrlich, ich bin mir nicht sicher, ob ich mit den Konsequenzen dieser Entscheidung leben will“, erklärte er der Schlafzimmerwand gegenüber.
Sarah legte ihm eine Hand sacht auf den Rücken. „Aber ich bin mir sicher, mit welcher der Konsequenzen ich leben werde. Und ich werde dich nicht gegen Leander eintauschen“, sagte sie, immer noch Richtung Zimmerdecke.
Lars schnaubte, allerdings war das manchmal gleichbedeutend mit einem Lachen. „Willst du mich eigentlich heiraten?“, fragte er über die Schulter.
Sarah runzelte die Stirn. „Das hast du mich zu Weihnachten schon gefragt, oder?“
„Ach ja, richtig. Hilf mir kurz auf die Sprünge, was hast du doch gleich geantwortet?“
„Ich glaube, ich sagte ‚Wenn’s denn sein muss’.“
„Hab ich ein Glück.“
„Und wie.“
Leander bückte sich nach der kleinen Pappschachtel, von der der Andere gesagt hatte, es wäre unfreundliches Popcorn. Die Schachtel ließ sich öffnen, aber die Sachen in der Schachtel drin stanken ganz giftig. Leander klappte den Deckel wieder zu und überlegte. Die Schachtel musste wichtig sein. Lebenswichtig, hatte der Andere gesagt. Und dass er die Schachtel immer dabeihaben müsse. Leander machte sich Sorgen um den Anderen, dem ging es offensichtlich gar nicht gut. Da war der Gestank von Angst und Schmerzen gewesen, richtig schlimmen Schmerzen, und von Sterben auch, aber das hatte Leander lieber nicht sagen wollen. Das hätte dem Anderen vielleicht noch mehr Angst gemacht, und das hätte Leander leid getan. Leander hatte den Anderen nämlich gleich richtig gern gehabt, so ähnlich wie mit Timmy, aber noch stärker: Der Andere hatte nach Familie gerochen. Leander beschloss deshalb, dass er ihm unbedingt helfen musste. Der Andere brauchte sein Popcorn zurück, jetzt gleich. Er sah sich kurz im Halbdunkel um, aber die anderen schliefen alle noch. Leise tappte er zur Tür. Weitergegangen war er hier noch nie, weil das ja eigentlich streng verboten war, aber er wusste, wie die Tür sich öffnen ließ. Er hatte den Professor ganz oft dabei beobachtet, wie der diese Tasten neben der Tür benutzte.
Leander gab den zwölfstelligen Code beim ersten Versuch fehlerfrei ein, öffnete die Tür und stand Sekunden später im Innenhof des Instituts. Er hob die Nase, schnupperte die Luft und nahm bald die Witterung auf, die er gesucht hatte. Zielstrebig wandte er sich in eine Richtung, die Zigarettenschachtel energisch umklammert.
„Halt! Wer da?“, schrie eine überschnappende Stimme, gleich darauf war überall grellweißes Scheinwerferlicht. Nervös fiel Leander ein, dass er vergessen hatte, sich etwas von seinem eigenen Popcorn mitzubringen.
Als das Telefon um fünf Uhr am Samstagmorgen klingelte, wusste Sarah sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Das Telefon stand auf Lars’ Seite des Bettes und er hatte gerade schlaftrunken den Hörer ans Ohr gehoben. Sarah machte einen Hechtsprung über ihn und aktivierte die Freisprechfunktion am Apparat.
„… habe ich ganz schlechte Neuigkeiten für Sie. Ihre Lunge ist erschossen worden. Die Schäden sind furchtbar. Es tut mir wirklich wirklich leid.“ Die Stimme des Professors brach. „Ich kann mir auch gar nicht erklären, wie das passiert sein soll … ich meine … das sollte so gar nicht möglich sein … es tut mir schrecklich leid …“
Die Worte drifteten hinaus und hinein in Sarahs Bewusstsein.
„Was?“, fragte Lars benommen, und nach einer Weile: „Was? Leander ist erschossen worden? Der Pförtner hat Leander erschossen?“
„Ja“, stöhnte Tusiast, „und mitten durch die Brust, dieser dämliche Idiot.“
„Also ist Leander tot?“
„Nein, aber Ihre Lunge ist praktisch wertlos. Falls wir Leander behandeln, wird es zwei Monate dauern, bis er sich vollständig erholt hat und wir die Transplantation einleiten können. Leider haben wir keine Mittel, um Sie noch solange am Leben zu erhalten. Am besten wäre es deshalb, Leander jetzt einzuschläfern, seine Verletzung verursacht ihm große Schmerzen.“
Sarah biss sich auf die Hand, bis die Haut aufplatzte. „Das heißt, es wird keine Operation geben und Lars stirbt in vierzehn Tagen an Krebs? Sehe ich das richtig so?“, fragte sie in die Stille.
„Sie hätten mich nicht extra am Samstag wecken müssen, um mir mein Todesurteil zu überreichen. Eine Glückwunschkarte mit der Post am Montag hätte völlig gereicht“, stellte Lars fest. „Merken Sie sich das bitte fürs nächste Mal … Hallo?“
Professor Tusiast blieb sprachlos, er schien über dem erlittenen Fehlschlag zu brüten. Zwei Minuten lauschten sie Tusiasts frustrierten Schnaufern aus dem Lautsprecher.
„Komm, lass uns auflegen“, schlug Sarah dann vor, „ich will den Krach nicht mehr bei uns im Schlafzimmer haben.“
Da meldete sich der Professor wieder. „Lars? Also, eine Möglichkeit gäbe es, bei der Sie nicht sofort sterben würden. Ich kann die verletzte Lunge isolieren und transplantieren, allerdings müsste das sofort sein, in den nächsten zwei Stunden, und ich warne Sie, ich kann Ihnen damit nur einen kleinen zeitlichen Aufschub verschaffen. Es wäre außerdem für Sie mit erheblichen Schmerzen verbunden und Sie müssen sich darauf vorbereiten, mit einer schwer geschädigten Lunge zu leben.“
„Mit einer schwer geschädigten Lunge?“, wiederholte Lars, hustete und spuckte sich Blut auf den Bauch. „Na, ob man mir das denn zumuten kann?“
„Mein kleiner zeitlicher Aufschub sind ziemlich genau sechs Monate, dann hat meine Ersatzlunge Ihr Haltbarkeitsdatum überschritten“, erklärte Lars seinem Redakteur auf der Weihnachtsfeier des Sci-Xplorer Magazins.
„Wie kann das sein? Organ Replacement gibt doch für gewöhnlich eine Garantie über dreißig Jahre aus?“
„Ja, wenn die Lunge vor der Verpflanzung entsprechend präpariert werden kann. Ich hab mir das so erklären lassen: Um eine transplantierbare Lunge in vier Monaten zu züchten, müssen Sie den Zellzyklus und damit die Entwicklung immens beschleunigen. Die biologische Uhr der Lunge tickt dann sozusagen in Zeitraffer und muss vor der Verpflanzung wieder gedrosselt werden. Dafür war bei meinem guten Stück hier“, Lars klopfte sich auf die Brust, „nicht mehr genug Zeit. Wir haben die OP gezwungenermaßen etwas überstürzt.“ Er hob die Stimme, als er Sarah auf sich zukommen sah: „Jetzt altert die Gute halt blitzschnell. Ich habe mir ausgerechnet, dass wir beide heute Abend noch gleich alt sind, aber ab morgen dann, tragisch … Oh, hallo Schatz, wir haben gerade über deinen rapiden körperlichen Verfall gesprochen.“
Sarah legte Lars den Arm um die Taille. „Danke, leider hab ich den ersten Teil deiner Story auch mitbekommen. Und meiner Rechnung nach hat deine Lunge dir heute schon anderthalb Jahre voraus. Ich hätte meinen Göttergatten gerne einen Moment für mich, wenn Ihnen das nichts ausmacht“, sagte sie, an den Redakteur gewandt. Der nickte und entfernte sich höflich.
„Komm mal mit, ich muss dir was zeigen.“ Sarah zog Lars auf den Baum zu.
„He, vorsichtig“, protestierte er, „Teile von mir waren neulich in einer Schießerei.“
„Und die anderen Teile werden bestimmt auch bald in eine verwickelt. Traue ich dir ohne Weiteres zu, obwohl du nur noch ein halbes Jahr Zeit hast, jemandem in die Kugel zu rennen.“
„Das nehme ich als Kompliment. Ich frage mich, ob mir mein paranoider Lieblingspförtner demnächst ein Interview geben könnte.“
„Habt ihr eigentlich jemals rausgefunden, wie Leander und der Pförtner zusammengestoßen sind?“
„Nein, nie.“
„Oh, Popcorngirlanden!“, rief Lars erfreut. „Wer hatte denn die geniale Idee, die mitzubringen? Mal nachdenken, war ich das?“ Er rupfte eine Girlande von der Tanne und begann, den aufgepufften Mais zu mampfen. „Ein nicht völlig unbefriedigender Ersatz für Tabak und ein vollwertiger Ersatz für Lametta, mit viel besserer Umweltverträglichkeit. Popcorn könnte die Welt retten“, verkündete er mit vollem Mund.
„Lass die Dekoration in Frieden, sonst wird der Weihnachtsmann ganz böse. Ich wollte dir doch jemanden zeigen.“ Sarah stupste ihn in Position. „Jetzt auf zwölf Uhr. Was machen die denn hier?“
Professor Tusiast hatte Lars schon gesehen und kam jetzt gewohnt beschwingt auf das Paar zu. In einigem Abstand schlurfte ein etwa fünfzehnjähriger Junge nach, dem es irgendwie gelang, konzentrierte Langeweile zu zeigen. Er erinnerte Lars an jemanden. Der Professor schüttelte Lars gerade begeistert beide Hände. Hände, Arme und Hals des Jungen waren dick verbunden. Unter dem Sweatshirt versteckten sich vermutlich noch mehr Bandagen.
„Nein, kein missglücktes Freddie-Krueger-Kostüm“, sagte der Junge auf Lars’ fragenden Blick, „echter Unfall, echte Verbrennungen. Und mein Gesicht ist ein Glückstreffer. Keine Spur mehr von Akne. Keine Spur mehr von Gesicht, eigentlich. Kommt super bei den Mädchen an. Zumindest bei denen, die rohes Mett mögen.“
Professor Tusiast schüttelte den Kopf. „Wie du immer redest, Tim. Entschuldigen Sie meinen Enkel. Sein Gesicht wird nicht für immer so entstellt sein, aber im Moment konzentrieren wir uns darauf, die Haut an seinem restlichen Körper zu ersetzen. Tim findet irgendeinen morbiden Gefallen daran, die Leute mit seinen Kommentaren vor den Kopf zu stoßen.“
„Kein Problem“, versicherte Lars und grinste Tim an, „ich habe ein unbestimmtes Gefühl, dass wir sehr gut miteinander auskommen werden.“
Tim grinste zurück. „Du bist der Todeskandidat mit dem zermatschten Lungenflügel? Leander oder so?“
„Lars“, verbesserten Sarah und Professor Tusiast gleichzeitig.
„Och“, machte Lars und zerbiss knackend ein Popcorn, „Leander ist schon okay.“