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Sechs im Wolf
Es endete mit einer offenen Haustüre, umgestoßenen Möbeln und einer zerbrochenen Waschschüssel. Außerdem heulte irgendwer in der Wanduhr. Oder, so endete es wenigstens beinahe …
Sechs Augenpaare gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Sie ist anders als bekannte Dunkelheiten, verfügt aber über eine hohe Luftfeuchtigkeit und riecht nach Kohl.
Es bleibt noch eine Weile still, weil sich alle erst vom Schock erholen müssen, aber dann meckert plötzlich eine Stimme: „Ich kann nicht glauben, dass der doofe Wolf uns gefressen hat.“
„Ja, genau,“ schließt sich ein entrüstetes Blöken an. „Wir hatten schließlich so gute Verstecke!“
„Es ist einfach nicht fair!“ jammert jemand anderes.
„Man darf doch nicht einfach im Kleiderschrank nachgucken. Nie guckt jemand im Kleiderschrank nach!“ grollt der Nächste.
Ein kollektives Seufzen echot im Magen des Wolfes.
„Ich hätte mich hinter der Gardine verstecken sollen. Da hätte er mich sicher nicht gefunden!“
Eine zeitlang hängt jeder seinen eigenen Gedanken nach. Dann stellt jemand die Frage: „Sind wir eigentlich vollzählig, Brüder? Lasst uns mal durchzählen.“
„Eins.“ ruft Nummer Eins.
„Zwei.“ ruft Nummer Zwei.
„Drei.“ ruft Nummer Drei.
„Mäh.“ ruft Nummer Vier.
„Fün…“ will Nummer Fünf rufen, hält aber skeptisch inne. „Äh, Nummer Vier?“
„Ja?“
„Du bist gar kein Geisslein, oder? Du bist ein Schaf.“
Nummer Vier, der eigentlich ein Schaf ist, scharrt verlegen mit den Hufen. „Hätte ja klappen können.“
„Vier.“ ruft Nummer Vier (der Echte).
„Fünf.“ ruft Nummer Fünf.
„Sechs.“ ruft Nummer Sechs.
Dann hört man nichts mehr, abgesehen von den Schritten des Schafes, das sich rasch entfernt.
„Nummer Sieben, du müsstest jetzt eigentlich sieben sagen.“ erklärt Nummer Eins sachdienlich, aber es folgt keine Antwort.
„Ich glaube Nummer Sieben fehlt.“ entfährt es Nummer Sechs panisch, worauf alle entsetzt blöken, denn Geisslein sind Herdentiere.
Sie rufen alle gleichzeitig: „Nummer Sieben, wo bist du?“
Ein Husten antwortet von irgendwoher, und nach einer erwartungsvollen Pause kommt ein alter Mann mit schäbiger Jacke aus der Finsternis geschlurft.
„Ich kenne keinen Nummer Sieben.“ sagt er, fügt aber noch traurig hinzu: „Aber habt ihr vielleicht einen kleinen Jungen gesehen? Er ist aus Holz.“
Als die Geisslein ihn entgeistert anstarren, schüttelt er hoffnungslos den Kopf und geht weiter.
„Wer war'n das?“ fragt eins der Geisslein argwöhnisch, während sie dem Alten hinterhersehen.
Die Brüder konzentrieren sich wieder auf ihre eigene Misere.
„Tja. Das war's wohl.“ bemerkt Nummer Zwei mit Würde.
„Wir werden alle sterben!“ kreischt Nummer Drei hysterisch.
„Nein!“ sagt Nummer Eins mit fester Entschlossenheit. „Wir sterben nicht. Weil Nummer Sieben fehlt.“
Bevor der Wolf einschlief, hatte er das Gefühl irgendeinen grundlegenden Fehler begangen zu haben. Außerdem tat ihm der Bauch weh.
Die anderen fünf richten ihre Blicke auf Nummer Eins.
„Etwas ist nicht richtig.“
„Dass es hier nach Kohl riecht, stimmt's?“ sagt Nummer Fünf wissend.
Nummer Eins würdigt diese Aussage keines Kommentars. „Es hängt mit der Zahl zusammen. Sechs ist falsch. Sieben ist richtig!“
Die anderen schauen sich verständnislos an und murmeln aufgeregt.
„Überlegt doch nur. Sieben Berge!“ triumphiert Numer Eins.
Keine Reaktion.
„Dahinter wohnen die sieben Zwerge!“ Was natürlich gar nichts erklärt. „Ist doch vollkommen logisch!“
„Da ist was dran!“ pflichtet Nummer Sechs bei, und die übrigen nicken, wenngleich noch ziemlich unsicher.
„Und dann haben wir da noch die Siebenmeilenstiefel. Vergesst mir die sieben Raben nicht. Sie-ben auf einen Streich. Das ist wichtig.“
„Hört, hört!“ ruft Nummer Vier gewichtig.
„Ein altes Volkslied sagt irgendwas über sieben Brücken. Mann soll drüber gehen, oder so.“
„Also ich weiß nicht, ob das zählt.“ überlegt Nummer Fünf, aber die anderen überschreien seine Bedenken.
„Genau! Genau!“
„Und das waren erst die äußeren Indizien!“ ereifert sich Nummer Eins. „Jetzt wenden wir uns den Zeichen hier drinnen zu. Seht da!“ Er deutet auf einige abgenagte Kolben, die vor ihm auf dem Boden liegen. „Die sieben Maislein!“
Eins der Geisslein hustet.
„Die sind tot, weil es sieben waren. Für uns sieht die Sache anders aus. Oder da!“
Sieben ausgelöffelte Fruchtbecher lehnen an der fernen Magenwand. Neben ihnen ausgebleichte Zipfelmützen.
„Die sieben Fruchtzwerge!“
Eins der Geisslein rollt mit den Augen.
„Sie sind alle da! Erdbeer. Banane. Himbeer. Birne. Der Geschmack, den ich nicht erkennen kann. Brombeer. Und sogar Vanille-Kirsch! Tot.“
„Nicht Vanille-Kirsch!“ schluchzt Nummer Drei und schlägt die Hufe vors Gesicht.
„Ja, schrecklich, ich weiß. Und da drüben!“ Widerwillig folgen die anderen seiner Geste.
„Skelette in Cowboykleidung? Lass mich raten, die Glorreichen Sieben?“ sagt Nummer Zwei lahm.
„Jawohl. Und natürlich das hier! Siebenbürgen!“ Nummer Eins zeigt auf etwas Undefinierbares.
„Also langsam wird’s albern.“ ruft Nummer Sechs.
„Ja, nicht wahr!“ entgegegnet Nummer Eins geheimnisvoll. „Womit meine Theorie bewiesen wäre!“
Die Geisslein brummen überzeugt. Dann sagt Nummer Fünf endlich das, was alle denken: „Äh - was willst du uns eigentlich mitteilen?“
Nummer Eins guckt ungläubig. „Was ich euch mitteilen will? Nichts hört mit sechs auf. Es endet mit sieben!“
„Oh, na dann.“
„Nicht Vanille-Kirsch.“ schnieft Nummer Drei.
Nummer Vier setzt zu einer empörten Widerlegung an: „Das ist doch lächerlich! Das ist ... wo kommt plötzlich das Licht her?“
Die Muttergeiss staunte nicht schlecht als sie den Wolf aufschnitt. Neben den sechs Geisslein kletterten ebenfalls ein alter Mann mit schäbiger Jacke und ein Schaf aus der geöffneten Bauchhöhle. Da sie aber wusste, dass entsprechender Unfug nun einmal ein wesentliches Stilmittel von Märchen darstellt , zuckte sie nur altersmilde mit den Achseln und begann damit, dem schlafenden Wolf Wackersteine in den Magen zu füllen.
Es endete damit, dass sie sorgfältig darauf achtete, dass es sieben waren.