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Sea Orbiter
Ich blicke auf das mittlerweile leicht zerfledderte Pflichtenheft in meiner Hand.
Die Wartungsroutinen, die hier beschrieben sind, kenne ich auswendig.
Vor mir ein grün beleuchtetes Bedientableau. Funktionen, Abläufe im System und Routinen. Mir rinnt Schweiß von den Achseln an der Innenseite meines Arms herunter. Das Klima stimmt nicht; es ist zu warm. Ich informiere den Computer, warte auf Bestätigung und verlasse das Menü.
Die engen Röhren, in denen ich mich tagtäglich bewegen muss. sind überhaupt nichts für meine Knie, und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich dieses Stechen, zuerst links, spüre.
Ich ignoriere es und konzentriere mich weiter auf den Systemcheck.
Ich bewege mich durch die verschiedenen Ebenen bis hinunter in das tiefste Deck. Dort angekommen, kontrolliere ich die Schleusen und setze als letztes den Bestätigungsruf ab. Das war es dann erstmal.
Durch die gepanzerte Scheibe blicke ich auf ein Universum, von dem wir noch immer sehr wenig wissen. Ein leichtes Vibrieren lässt mich aufblicken. Die Steuerdüsen sind angesprungen und bringen uns wieder auf Kurs. Wir folgen dem Kanarenstrom, biegen hinter den Kapverdischen Inseln nach steuerbord in Richtung Nordäquatorialstrom und dann immer geradeaus. Mit der Strömung treiben wir durch den Atlantischen Ozean, immer auf der Suche nach Leben. Es ist der achte August 2106. Ich bin an Bord der Sea-Orbiter 7.
Ich lege das Pflichtenheft aus der Hand und wende mich meiner neuen Nebenbeschäftigung zu.
Schließlich hat unsereins viel Zeit hier unten; viel zu viel Zeit manchmal. Diese Stunden will ich sinnvoll ausfüllen - indem ich meine ganz eigene Menschheitschronik verfasse.
Zwischen den Deckeln eines zweiten Notizbuches, das im untersten Fach meines Schreibtisches verstaut ist, finden sich schon einige Kapitel, abgefasst in meiner ziemlich unleserlichen Handschrift. Graue, nüchtern wirkende Bleistiftlinien füllen bereits mehrere Seiten und spiegeln Ereingisse wider, die unsere Spezies fast ausgerottet hätten. Ich schlage das Buch auf und blättere die letzten Seiten zurück.
Wenn ich so lese, was ich da geschrieben habe, kommt es mir fast wie ein Frevel vor, diese vielleicht schlimmste Prüfung der Menschheit in so unbeteiligten, fast belanglosen Worten zu dokumentieren. Aber seit ich hier an Bord bin, habe ich das Gefühl, das mein Bewußtsein für die Vergangenheit und die großen Irrtümer derselben eindeutig stärker geworden ist.
»Die ersten beiden Sea-Orbiter-Modelle«, lese ich da, »wurden Anfang des letzten Jahrhunderts gebaut, jedoch mehr belächelt als ernst genommen. Jacques Rougerie, ein französischer Schiffs- und U-Boot Architekt, hatte die ersten Modelle entwickelt. Die Industrie zeigte sich gönnerhaft und finanzierte die ersten Stationen aus der Portokasse. Anfangs ließ man eine Station im Golfstrom treiben. Die zweite nutzte die NASA, um ihre Astronauten auf die Bedingungen im Weltraum vorzubereiten. Die Forschungsergebnisse der Sea-Orbiter fanden allerdings kaum Beachtung. Die Forscher hatten über einen verlangsamten Golfstrom berichten wollen und die damit verbundenen Folgen und Risiken. Die Menschheit war allerdings so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Zeichen und die Stimmen, die vor Veränderungen gewarnt hatten, nicht sonderlich ernst nahm: ein Fehler, wie sich später zeigen sollte. Als sich dann aber die Ereignisse um das Jahr 2020 überstürzten und innerhalb kürzester Zeit die alte Welt aus ihren Fugen brach, vergaß man die Stationen.
Es war so einfach vorherzusehen; auf jedem Klimagipfel, der abgehalten wurde, sperrten sich die großen Industrienationen gegen jegliche Veränderung ihrer Energiepolitik. Die volkswirtschaftlichen Schäden des Klimawandels stiegen da schon ins Unermessliche. Es gab keine Versicherung mehr, die gegen Elementarschäden versichern wollte.
Die Klimaveränderung ließ Krankheiten in Europa und in anderen Teilen der Welt gedeihen, auf die die Menschen nicht vorbereitet waren. Die Qualität der landwirtschaftlichen Produkte wurde immer schlechter. Immer mehr CO2 strömte in die Atmosphäre. Zusammen mit den knapper werdenden fossilen Brennstoffen, den politischen Veränderungen im Nahen Osten und in anderen Teilen der Welt sowie dem nicht mehr aufzuhaltenden Klimawandel kam es irgendwann zu dem großen Knall.
Die Welt erholte sich nur langsam von diesem Flächenbrand, der insgesamt fünfzehn Jahre wütete und mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung der Leben gekostet hat.
Am Ende hat sich wohl die Vernunft durchgesetzt, so will ich es wenigstens glauben. Auf jeden Fall haben wir heute eine Weltordnung, die sich von all dem befreit hat, das damals zu den Klimaveränderungen und in der Folge zu dem Krieg geführt hat.
Unsere Arbeit auf der Sea-Orbiter besteht im Wesentlichen daraus, das Meer und seine letzten Bewohner zu erforschen, festzustellen was übriggeblieben ist und was wir noch irgendwie verwerten können. Dazu arbeiten ein Team im Oberdeck und eins im Unterdeck. Das Unterdeck ist der Bereich, der dem Druck unter Wasser angepasst ist. So können wir problemlos das Schiff durch Schleusen verlassen und haben keinerlei Druckprobleme. Im Oberdeck arbeitet ein zweites Team. Es analysiert unsere Proben hält Kontakt zu den Satelliten und kümmert sich um die Energieversorgung.
Sobald sich das Schiff im Strom befindet, werden die Antriebsaggregate ausgeschaltet. Es gilt, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Das war von Anfang an der Grundgedanke des Architekten dieser wunderbaren Gefährte; mit den großen Strömen unterwegs zu sein und mit den Bewohner der Meere eine Form der Symbiose einzugehen. «
Ein Summen reißt mich aus meinen Gedanken. Der Zentralcomputer bittet um meine Aufmerksamkeit.
››Hallo, Dave‹‹ erklingt es aus der Sprechanlage.
Die Stimme hab ich übrigens selbst moduliert.
››Wirf doch bitte mal einen Blick auf die Ergebnisse der Temperaturmessungen‹‹.
››Okay, Flipper‹‹.
Nun, einer der Scherze, die man sich als Programmierer erlauben darf, ist der, seinem Computer einen Namen zu geben. Flipper fand ich irgendwie passend, oder? Schließlich war das ein so treues Tier, also damals, als es noch Delfine gab.
So, nun sollte ich vielleicht der Ordnung halber mich mal richtig vorstellen: David Gredinski, 35 Jahre alt, Chefprogrammierer, Wartungstechniker und Mädchen für alles.
Neben mir leben, arbeiten und leiden noch fünf weitere Menschen in den unteren Decks:
Drei Meeresbiologen, einer davon mit einer zusätzlichen medizinischen Ausbildung, ein Chemiker und ein Klimaforscher.
Neben der technischen Qualifikation verbindet uns aber auch die Hoffnung, mit unserer Arbeit etwas für den Fortbestand der menschlichen Rasse beisteuern zu können, denn unser vordringlichstes Problem ist die Ernährung und medizinische Versorgung der Menschen auf dem übrig gebliebenen Festland. Im Augenblick jedoch suchen wir nach bestimmten Algen und Muscheln, die vielleicht eines Tages ein Hauptnahrungsmittel werden können oder besser gesagt werden müssen, wenn wir noch einige Jahre auf unserem Planeten leben wollen.
Mit den ersten Sea-Orbitern hat unser Schiff nicht mehr viel gemeinsam. Unsere Decks reichen bis 80 Meter unter die Wasseroberfläche. Das Oberdeck ragt 10 Meter heraus. Es steht in ständigem Kontakt mit verschieden Wettersatelliten. Ansonsten treiben wir völlig autark durch den Ozean. Die meisten Prozesse, Analysen und Suchfunktionen erledigt Flipper mit seinen Sensoren, Fühlern und Sonden, die wie kleine U-Boote bis in die dunkelsten Tiefen vordringen können. Für alles andere gibt es dann die übrigen Crew-Mitglieder.
››Dave, hör dir das hier mal an‹‹.
Ein Geräusch war von Sensoren aufgenommen worden, und nachdem Flipper das Signal mit allen bekannten Geräuschen abgeglichen hatte, kam er zu dem Schluss, es mich hören zu lassen.
››Leg es auf die Monitore‹‹.
Jedes Mal, wenn ich die Klänge aus der Tiefe des Meeres höre, bekomme ich eine Gänsehaut. Es gibt noch Leben in den Meeren – dumm nur, dass es sich immer wegduckt, wenn wir gerade vorbeikommen.
Das Signal war sehr schwach, mit Störungen durchzogen, aber was da die Membran zum Schwingen brachte, war eindeutig der Gesang eines Wales.
››Kannst du die Position bestimmen?‹‹.
Wenn wir es schaffen, das Tier zu lokalisieren….
In diesem Augenblick kommen neue Signale, neue Rufe, Frage und Antwort, diesmal deutlicher lauter.
››Flipper, was zum Teufel ist da los?‹‹.
Die Erregung in meiner Stimme bemerkt auch der Computer.
››Dave, es scheint sich um ein Ganzes Rudel zu handeln‹‹.
Seine Stimme war noch eine Nuance ruhiger und wärmer geworden, als ich sie ohnehin schon programmiert hatte.
››Das hatten wir noch nie.‹‹
Ich sprach es laut aus. Für einen solchen Fall hatten wir genaue Verfahrensweisen festgelegt. Der Computer startete das entsprechende Programm. Der Teil der Crew in den Schlafkabinen wurde geweckt, die übrigen in den Tauchbooten wurden über ein Signal informiert. Jetzt bloß keinen unnötigen Lärm erzeugen.
Ich hatte dem Programm noch eine Dimm-Funktion hinzugefügt; bei Kontakt mit Meeresbewohnern wird die externe und interne Beleuchtung auf ein Mindestmaß zurückgefahren. Ich fand es nur angemessen.
Über die Außenkameras konnte ich einen Teil der Station überblicken. Es war sowieso sinnlos. Flipper würde als erstes Bilder bekommen. So blieb mir nichts anderes übrig, als durch das Glas nach draußen zu schauen, in der Hoffnung, etwas zu sehen, von dem wir glaubten, es gehöre der Vergangenheit an.
Im nächsten Augenblick stürzt eine Flut von Bildern über die Monitore auf mich herein. Eine Fluke erscheint auf dem Hauptbildschirm, dann ein Körper, massig, gewaltig. Während Flipper mir klarzumachen versucht, dass mein erhöhter Adrenalinhaushalt nicht gut für mich ist, erscheinen immer mehr Tiere vor den Kameras. Ich gehe näher an die Scheibe, presse mein Gesicht gegen das kalte Glas und versuche, irgendetwas mit meinen eigenen Augen zu erkennen. Etwas schiebt sich langsam von unten an das Glas heran, groß. Es reibt sich an der Außenhaut der Orbiter. Ich sehe vernarbte Haut und dann blicke ich in ein Auge.
Der Kopf eines Pottwals hat sich an die Scheibe gedrückt. Das Auge fixiert mich, hält mich gefangen, durchdringt mich. Ich taumele zurück, habe das Gefühl, mich in dem Auge zu verlieren. Mir wird schwindelig; noch während ich zu begreifen versuche, was ich da gerade gesehen und was mich da angeschaut hat.
Das Tier wendet sich von der Unterwasserstation ab und verschwindet in der Tiefe des Ozeans. Die übrigen Wale folgen ihm, und so schnell, wie die Show begann, ist sie auch wieder vorbei.
Nach der ersten Auswertung der Bilder durch den Computer konnten wir uns ganz sicher sein: Wir waren einer Herde Pottwale begegnet.
Abends lag ich auf meinem Bett und hörte Musik. Bach, die Goldberg Variationen, als Flipper sich zu Wort meldete.
››Dave‹‹
››Ja, Flipper?‹‹.
››Sie kommen wieder, ganz bestimmt‹‹.