Scotland Yard
Die Schlafzimmertür geht vorsichtig auf. Das Licht aus dem Flur wirft den Schatten eines hochgewachsenen, dürren Mannes, der im Türrahmen steht, an die gegenüberliegende Fensterwand.
Alice macht vorsichtig die Augen auf, um nicht geblendet zu werden.
„Wieso liegst du schon im Bett? Es ist doch nicht einmal 22 Uhr.“ fragt eine klare und tiefe, dennoch warme männliche Stimme.
„Mir ging es heute nicht so gut, also habe ich mich früher ins Bett gelegt.“ sag sie, das Gesicht immer noch zu den Fenstern gewandt. Sie sieht, wie die Regentropfen, einer nach dem anderen, auf die Fensterscheibe fallen. Alice schließt wieder die Augen, für sie ist das Gespräch beendet.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, betritt Benedict das Zimmer und schließt dabei vorsichtig die Tür.
„Ich bin früher gekommen, als ich gedacht habe.“ Sagt er behutsam. Doch er bekommt keine Antwort, Alice zuckt nicht einmal.
„Ich weiß, dass du nicht schläfst.“ Keine Antwort.
Er setzt sich auf die leere Bettkante, zur Seite der Tür, mit dem Rücken zu ihr und stützt seinen Kopf auf die schmalen Hände. Im Zimmer ist es dunkel. Ab und an fährt ein Auto oder Bus vorbei und wirft dabei ein wenig Licht durch die smaragdgrünen Vorhänge in den sonst dunklen Raum.
„Kann ich wenigstens ein Licht anmachen? Ich kann mich nicht im Dunkeln umziehen.“
„Mach, was du willst.“
Er lächelt.
„Danke.“ Zumindest ignoriert sie mich nicht komplett, denkt er.
Er knipst das Leselicht an seiner Bettseite an. Mit einem leisen klicken wird das Schlafzimmer in weißes Licht getaucht und es lassen sich die dunkelgrünen Tapeten mit Ornamenten und der hellgrüne Teppich auf dem dunklen Holzboden erkennen.
Benedict steht vorsichtig auf und geht zum großen Kleiderschrank aus Mahagoni, welcher auf der Wandseite der Tür steht. Bevor er die Schranktür aufmacht, sieht er sich noch kurz im Spiegel, welcher an der Schranktür befestigt ist, an. Das auch sonst schon schmale Gesicht ist jetzt noch tiefer eingesunken und die dunklen Ringe unter seinen Augen haben sich nun zu leeren dunklen Säcken verwandelt. Seine lockigen Haare sehen jetzt nur noch wüst und ungekämmt aus.
Benedict ist genau das Gegenteil des geltenden Schönheitsideals. Er ist sehr groß und dazu noch dürr, allerdings nicht knochig. Er hat ein sehr markantes und schmales Gesicht. Seine Wagenknochen sind so ausgeprägt, dass man meinen könnte, man könne sich bei deren Berührung schneiden. Mit seinen hellgrauen Augen und der kurzen Nase sah er auf den ersten Blick sehr ungewöhnlich aus. Doch sein Charakter, seine Manieren und seine Aura überzeugen Alice jedes Mal, wenn sie ihn ansieht.
Benedict legt den teuren, schwarzen Anzug ab und hängt Hose samt Jackett auf einen leeren Holzbügel und in den Schrank. Das weiße Hemd, was er immer bis auf den oberen Knopf zuknöpft, lässt er auf dem Boden liegen.
Nachdem er dich die dunkelblaue Schlafanzugshose und ein schlichtes weißes T-Shirt angezogen hat, geht er zurück zum Bett und macht das Licht aus.
Zugedeckt mit einer schweren Daunendecke starrt er an die Decke.
Durch ein geöffnetes Fenster strömt frische Regenluft in den Raum und spielt ein wenig mit dem Vorhang.
„Gute Nacht.“
Keine Antwort.
Er dreht sich fast geräuschlos auf die rechte Seite um und schaut auf ihren Hinterkopf. Ihre dunkelbraunen Haare hat Alice zu einem französischen Zopf geflochten. Das macht sie immer, damit sich die Haare beim Schlafen nicht verwirren.
Alice ist das komplette Gegenteil von Benedict. Sie ist klein und hat eine volle Figur. Ihre dunkelbraunen Augen strahlen im eher runden Gesicht. Im Gegensatz zu Benedict lächelt sie die meiste Zeit.
„Es tut mir leid, Alice.“ Sagt er sanft. Er weiß, dass diese Worte seine Taten nicht wieder gut machen, aber vielleicht würde sie wieder mit ihm reden.
Alice hält die Luft an, um nicht schluchzen zu müssen. Sie kann die Tränen nicht mehr zurückhalten und versucht wieder auszuatmen, ohne dass er es merkt.
„Ich habe es satt.“ Sagt sie leise.
„Wenn du nicht willst, dass jemand auf dich abends wartet, wenn du nicht willst, dass sich jemand Tag und Nacht Sorgen macht, wenn du nicht willst, dass jemand an deinem Leben teilhat, dann sag es einfach, wie ein normaler Mensch.“
Sie schafft es ruhig zu bleiben. So, dass ihre Stimme klar und deutlich bleibt. Sie will nicht schwach wirken, nicht dieses Mal. Dieser Satz geht ihr schon seit Tagen nicht aus dem Kopf. Manchmal vergisst sie ihn. Wenn sie in der Schule ihren Unterricht hält, wenn sie auf den Knien im Garten hockt und Unkraut jätet oder wenn sie im Hofladen frische Äpfel aussucht, dann vergisst sie Benedict.
„Das ist meine Arbeit.“
„Deine Arbeit ist es … Mein Gott, ich weiß nicht einmal, was genau deine Arbeit bei Scotland Yard ist. Aber deine Aufgabe ist es nicht, tagelang zu verschwinden, ohne ein Wort oder einer Nachricht. Du kommst nach Tagen, manchmal sogar Wochen nach Hause und für dich ist das das normalste der Welt. Du verstehst es nicht. Du verstehst es nicht, wenn man nach Hause kommt, kocht und vor einem gedeckten Tisch wartet, bis das Essen kalt wird. Doch du kommst nicht, nicht in der Nacht und nicht am Morgen. Du antwortest nicht, wenn man dich anruft oder Nachrichten schreibt. Kein Mensch weiß, wo du bist. Dein Bruder antwortet jedes Mal auf die gleiche Weise „Alice, mach die keine Sorgen, er kommt zurück.“ Ich rufe ihn nicht mal mehr an. Manchmal vergesse ich, dass es dich überhaupt gibt. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass ich dich mir nur ausgedacht habe. Du bist wie ein Phantom, welches mich manchmal heimsucht.“
Alles, was ihr schon seit Monaten durch den Kopf geht, hat sie nun endlich gesagt. Aber sie weiß, dass er es nie verstehen wird.
Die Intelligenz dieses Mannes scheint unergründlich. Er bemerkt Dinge, die sonst niemand sieht und zieht dadurch seine Schlussfolgerungen. Doch auf sein Mitgefühl und Verständnis zu hoffen, scheint sinnlos.
Manchmal, wenn sie ihn umarmt und ihren Kopf an seine Brust lehnt, meint sie, Kälte zu spüren. Aber sie ist sich sicher, dass sie sich das nur einbildet.
Benedict starrt ihr immer noch auf ihren Hinterkopf. Er hat nichts zu sagen. Er versteht, wie sie sich fühlt und hofft, dass sie sich zu ihm umdreht und ihn mit ihren dunklen Augen anschaut. Doch es geschieht nichts.
Er legt ihr seine linke Hand so sanft auf ihren Oberarm, als könnte er sie mit seinen langen Fingern verletzen. Sie hat abgenommen. Seine warme Hand streicht behutsam ihren kalten Oberarm bis zum Ellbogen herunter und wieder hoch.
Morgen früh wird alles wieder so sein wie vorher. Er wird die mit einer Tasse frisch gebrühtem schwarzem Tee mit Milch und einem sanften Kuss wecken. Dann werden sie gemeinsam Frühstücken und spazieren gehen, wie jeden Samstag. Alice wird ihn umarmen und küssen. Beim Spaziergang durch die Straßen Londons werden sie die Leute von der Seite ansehen, so wie jedes Mal. Er wird morgen früh in ihre strahlenden Augen sehen, wenn sie ihn wieder ansieht.
Seine Berührung tut ihr so gut. Die warmen Hände verursachen Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper und das spürt er.
Doch ihre Entscheidung steht fest.
„Ich komme morgen später.“
Benedicts Hand friert sofort auf ihrem Oberarm fest.