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Schwestern
Es gab eine Zeit, da habe ich sie beneidet. Eine Zeit, zu der ich meine eigene Lebenslage nicht zu schätzen wusste. Ihre Familie hatte nie Geldprobleme – im Gegenteil! Sie wohnten im größten und luxuriösesten Haus im ganzen Bezirk. Vier Töchter und jede hatte ihr eigenes Zimmer, das mindestens zwanzig Quadratmeter groß war. Außerdem lernten sie alle Klavier, Akkordeon, Geige oder Gitarre. Sie hatten eine Haushälterin Schrägstrich Kindermädchen, die so nett und herzlich war, dass jeder sie gerne als Oma haben wollte. Dann kam der Hundewelpe. Ich weiß noch ganz genau wie der Beagle mit dem merkwürdigsten Namen der Welt – Quantus – ganz klein und unerzogen war. Das genügte den Standards natürlich nicht, also musste Quantus zur besten Hundeschule der Stadt und war flugs stubenrein. Die perfekte Familie. Das perfekte Leben. Dachte ich damals …
Lilianne und ich waren gut befreundet und richteten zusammen allerlei Schabernack an. Sie hatte zum Beispiel einen Chemiebaukasten, mit dem wir mutig experimentierten. Zeitweise dachten wir wirklich, dass wir damit etwas in die Luft sprengen könnten. Wir nannten uns gegenseitig Alberta und Albertine Einstein. Ich war oft bei Lilianne zu Besuch – mich besuchte sie nur selten, wenn überhaupt. Aber schließlich wohnte sie in dem großen Haus und Bernadette, die Haushälterin, zauberte immer so leckere Snacks.
Liliannes nur anderthalb Jahre jüngere Schwester Janina, oder wie ich sie irgendwann nur noch nannte das Stinktier, war solange ich sie kannte zutiefst eifersüchtig auf ihre große Schwester. Lange Zeit äußerte sich dies nur, wenn wir sie zufällig im Esszimmer oder in der Küche trafen und sie Lilianne ankeifte. Einmal gab es beim Mittagessen ein lautstarkes Argument darüber, wie Janina ihre erstgeborene Tochter einmal nennen möchte. Dazu ist zu sagen, dass es in der Familie Tradition war die erstgeborene Tochter „Lilianne“ zu nennen und diese nannte ihre Erstgeborene dann wieder „Lilianne“ und so zog es sich durch die Generationen. Natürlich war es für Lilianne selbst keine Frage, dass sie diese Tradition weiterführen möchte. Aber Janina war so neidisch, dass sie nicht das erstgeborene Wunderkind war, dass sie ihrer Schwester den Kampf ansagte: „Ich bekomme einfach vor dir ein Kind und selbst wenn nicht, nenne ich meine Tochter einfach auch Lilianne, du blöder Pickel an meinem Arsch!“ Es folgten zwanzig Minuten Schreien und Zicken, gefolgt von minutenlangem an den Haaren ziehen. Bernadette war in solchen Momenten irgendwo im Haus unterwegs. Es war in diesem Riesenpalast nicht schwer, den Problemen aus dem Weg zu gehen.
Immer wenn Lilianne und ich ihr Zimmer betraten, machten wir zunächst den Kleiderschrank auf, schauten unter das Bett und hinter die Kommode, denn meistens fanden wir irgendwo eine ihrer Schwestern – in der Regel das Stinktier selbst. Dann wurde die Schwester von Lilianne aus dem Zimmer geprügelt. Meistens verlief das nicht ganz ohne Tränen, aber wir wollten unsere Ruhe haben und nicht belauscht werden. An manchen Tagen schickte uns das Stinktier Terror-SMS mit Folter- und Morddrohungen, nachdem wir es aus dem Zimmer verbannt hatten:
ICH ERSTICKE DICH IM SCHLAF, DU KUH! oder FASS MICH NOCH EINMAL AN UND ICH BRECH DIR DAS KNIE!
Wir haben diese Nachrichten natürlich nicht ernst genommen. Lilianne hielt ihrer Schwester lediglich einen Vortrag darüber, dass SMS Geld kosten und sie ihr Guthaben verschwenden würde.
Auch wenn wir damals die Nachrichten oder die gesamte Situation nicht ernst genommen haben, so ging ich doch immer nachdenklich am Abend nach Hause. Sobald ich das Tor zu Liliannes Palast hinter mir schloss, bemerkte ich umgehend die Ruhe. Keine Diskussion – keine Argumente – kein Schreien. Ich lief ca. zwanzig Minuten zu unserem Haus und mein noch junges Gehirn arbeitete und versuchte alles zu verarbeiten. Es dauerte jedoch eine Weile …
Ich weiß nicht genau wann, aber eines Tages dachte ich einfach nur: Gott sei Dank habe ich keine Schwestern! Und ich war froh, dass ich nicht Liliannes Leben führte.
Noch heute ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich an diese Erinnerungen zurückdenke und feststellen muss, dass sie mich geprägt haben. Meine Brüder und ich haben uns angeschrien, missverstanden, ignoriert und einmal wurde ich sogar gebissen und doch, habe ich niemals – nicht einmal, nicht für eine Sekunde – an der unendlichen und bedingungslosen Liebe, die wir füreinander empfinden gezweifelt.