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Schwerelos

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24.08.2013
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Schwerelos

I

Die Entdeckung des Higgs-Bosons im CERN in Genf war als Sensation gefeiert worden, doch schon bald sollte der bloße Nachweis der Teilchen in den Schatten gestellt werden, sodass nicht mehr einfach die Existenz, sondern vor allem die praktische Anwendung zu reden gab.
Lina Gerber war eine begnadete Physikerin, obwohl sie erst vor zwei Jahren ihren Master of Science erworben hatte und trotz ihrer Begabung lieber eine Stelle als Maschinenbauingenieurin angenommen hatte, als eine Doktorarbeit zu schreiben und der Forschung zu dienen. Sie hatte ja schließlich ihren eigenen Willen und ließ sich durch gute Noten doch davon nicht abbringen.
Schon die ganze Studienzeit hindurch bastelte sie in ihrer Freizeit an irgendwelchen (zumeist sinnlosen) Maschinen im Keller herum und brachte damit nicht nur die Mitbewohnerinnen ihrer Wohngemeinschaft, sondern auch die ganze Nachbarschaft zur Weissglut. Manche Leute verstehen einfach nicht, wie es sich anfühlt, als wahrscheinlich erster Mensch ein (zugegebenermaßen etwas unhandliches) Gerät gebaut zu haben, das ganz alleine die kreisrunden Konfetti und die viereckigen eingedellten Gegenstücke trennen kann und fragen stattdessen nur nach dem Sinn dieser Erfindung. Doch Lina ließ sich davon natürlich nicht abhalten, weiterhin zu basteln und zu hoffen, dass sie damit irgendwann nicht nur einen Platz im Absurditätenkabinett erhielt, sondern eines Tages eine Maschine erfinden wird, die tatsächlich auch einen praktischen Nutzen hat. Dafür hielten sie aber alle für viel zu verspielt, weshalb schon bald keiner mehr auf die Ergebnisse ihrer Bastelarbeiten achtete.
Dabei hätte es eigentlich keinen besonders guten Beobachter gebraucht, um zu bemerken, dass mit Linas zunehmenden physikalischen Fähigkeiten auch die Maschinen anspruchsvoller wurden. So fiel zum Beispiel niemandem auf, dass ihre vollautomatische Bier-Pong-Maschine, bei der man sogar Höhe und Entfernung zum gegnerischen Bierglas stufenlos einstellen konnte, ein sehr gutes Verständnis der Bewegungslehre voraussetzt. Auch ihre Erweiterung der Maschine, die nun sogar auf dem Mond oder dem Mars funktioniert, blieb der Öffentlichkeit verborgen, obwohl sie doch der NASA eine E-Mail geschrieben hatte, in der sie ihre Maschine einem praktischen Test unterziehen wollte.
Doch ihre neueste Erfindung sollte sie nicht nur weltberühmt machen, sondern ihr auch noch einen Doktortitel der Physik Honoris Causa einbringen.

Wegen ihrer Arbeit als Maschinenbauingenieurin hatte sie nun auch Zugriff auf bessere Materialien als in der Universität. Man ließ ihr auch relativ viele Freiheiten, da gerade die einigermaßen günstige Produktion von Antimaterie anlief und man dadurch zahlreiche neue Produktionswege hatte, die alle erstmal erkundet werden mussten. Wer wäre dazu besser geeignet als eine verspielte junge Physikerin, die zudem auch noch verstand, was sie da machte. Lina brachte dem Unternehmen dementsprechend auch schnell sehr gute Ergebnisse und half ihm so zu einem wahren Höhenflug an der Börse. Niemand hatte Lina zugetraut, derart ernst bei der Arbeit zu sein und nicht wenige nahmen ihre zuvor gebildete Meinung über dieses Mädchen wieder zurück.
Was aber niemand wusste, ist, dass Lina neben ihren bezahlten Erfindungen auch im Büro weiterbastelte. Es fiel nicht sonderlich auf, dass sie viel mehr Werkstoffe verbrauchte, als sie dem Unternehmen Maschinen lieferte. So kam sie zufällig auf die Idee, eine Verbindung aus Eisen und Anti-Silizium herzustellen, was tatsächlich auch eine massive Kugel ergab. Nur eines war an dieser Kugel seltsam: Sie war viel leichter, als sie das eigentlich erwartet hatte. Aus Neugierde beschloss sie, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie baute deshalb eine hohle Kugel, in die sie eine Waage mit einem Kilo-Gewicht legte, dazu noch eine Kamera, um das Ganze zu beobachten. Als die Kugel geschlossen war, konnte sie ihren Augen kaum trauen, als sie die Anzeige auf der Waage sah.
Nichts.
0 kg.
Sie schüttelte die Kugel und es sah aus, als hätte sie eine Schneekugel geschüttelt.
Kein Zweifel: die Gegenstände in der Kugel waren schwerelos. Wie war das möglich? Sie beschloss, die Kugel mit nach Hause zu nehmen und mit Aaron Schürer, einem früheren Studienkollegen, darüber zu sprechen. Aaron war mit Lina immer im Kampf um die Bestnote des Jahrgangs gewesen, was sich aber schnell zu einer Freundschaft entwickelt hatte, bei der Aaron Lina immer wieder dazu zu überreden versuchte, doch wie er weiter zu forschen, weil sie beide doch so gut zusammenarbeiten können.
Er konnte so gut analysieren, dass ihm sicher auch jetzt eine Lösung zu ihrer Entdeckung einfallen würde.

„Die Gravitation scheint innerhalb der Kugel ihre Wirkung verloren zu haben. Die Gegenstände in der Kugel müssen wohl ihre Masse verloren haben. Anders ist das nicht zu erklären.“
Es brauchte wirklich viel, um Aaron aus der Fassung zu bringen.
„Aber wie ist das möglich, wenn sie doch vorher alle eine Masse hatten; sogar eine, die man genau bestimmen konnte?“
„Du weisst doch hoffentlich noch, warum alles überhaupt eine Masse hat, oder?“
„Natürlich“ antwortete sie und fing gleich an, sich das noch einmal selbst zu erklären. „Die 2012 bewiesenen Higgs-Bosonen umspannen wie ein Netz das gesamte Universum. Erst sie verleihen allen Dingen eine Masse. In einem Raum ohne Higgs-Teilchen wäre alles schwe...“
Sie kam sich vor wie eine Schülerin, die von ihrem Lehrmeister auf die richtige Antwort förmlich gestossen wurde.
„Richtig“ ergänzte er, „wenn es ein Material gibt, das die Higgs-Teilchen in gewisser Form aufsaugt oder das Netz durchbricht, sind alle Gegenstände, die von diesem Material umschlossen sind, schwerelos. Es scheint so, als hättest du dieses Material gefunden. Mach dir nichts vor, der Nobelpreis ist dir sicher.“

Doch Lina Gerber hatte wieder ein ihr nur allzu bekanntes Problem. Was sollte man mit einer solchen Entdeckung anfangen? Sie schickte der NASA einen Brief, in dem sie vorschlug, Tests in Schwerelosigkeit nun auch auf der Erde durchführen zu können.
Keine Antwort.
Sie ging zu Prof. Dr. Martin Grauschild, einem ihrer früheren Physik-Professoren, der sofort begeistert war und der NASA einen Brief schickte. Von dort an riss man sich um die – mittlerweile patentierte – Erfindung dieser jungen Ingenieurin.
Nicht nur Raumfahrtbehörden können Schwerelosigkeitskammern brauchen, auch medizinisch ließen sich die Behälter anwenden, denn der Preis für eine Kammer von Zimmergröße hielt sich im Rahmen. So konnten Depressionen durch das Gefühl des Fliegens behoben werden und Leute, die Angst vor dem Wasser hatten, konnten in den Räumen ihre ersten Schwimmübungen machen. Als die Produktion mit der Zeit immer billiger wurde, was teils an der erhöhten Nachfrage, teils an der billigeren Herstellung von Anti-Silizium lag, konnten die neuen GraFREEty-Rooms, wie sie nun genannt wurden, auch zunehmend von Privatleuten genutzt werden. Millionäre liessen sich die Kammern in den Garten stellen, Tauchschulen sahen darin ideale Trainingsbedingungen und auf Jahrmärkten konnten auch normale Menschen die Erfindung ausprobieren. Auch Artisten führten ihre Kunststücke in der neuen durchsichtigen Version der Behälter auf.
Lina war auf dem Zenit ihres Lebens. Sie hatte tatsächlich den Nobelpreis in Physik gewonnen – als erst dritte Frau überhaupt. Mit ihren erst 25 Jahren war sie zudem zusammen mit William Bragg die jüngste Nobelpreisträgerin in der Geschichte. Kurz: Sie wurde mit Ruhm überschüttet. Auch privat konnte sie sich keine bessere Situation wünschen. Aaron war so begeistert von ihrer Erfindung, dass er sofort bei ihr einzog. Als Paar starteten sie die Vermarktung der GraFREEty-Rooms, was erstaunlich gut funktionierte, auch wenn keiner von beiden auch nur den blassesten Schimmer von Marketing hatte. Die Produkte sprachen für sich selbst.
Die folgende Zeit ist nicht geeignet, um sie hier zu Papier zu bringen. Dafür ist sie einfach zu langweilig. Deshalb ist es nötig, einen Zeitsprung von etwa zwei Jahren zu machen. Es ist nichts passiert, außer dass alle Beteiligten glücklich waren und dass Lina trotz ständigem Drängen von Seiten Aarons immer noch keine Kinder haben wollte, weil sie fürchtete, bei all ihrer Genialität als Doktor der Physik (ja, den schon angesprochenen Ehrendoktortitel bekam sie in der Zwischenzeit) als Mutter jämmerlich zu versagen. Doch dann beginnt ein neuer Lebensabschnitt für Lina und Aaron, der hier durch ein neues Kapitel gekennzeichnet werden soll.

II

Anton Hinkel war überrascht über seinen Zustand. Er war es zwar gewohnt, morgens noch nicht ganz fit zu sein, weil er oft durch seine Arbeit erst sehr spät ins Bett kam, aber so schlimm wie heute erwischte es ihn selten. Er war Zirkusdirektor und Hinkel natürlich nicht sein richtiger Name. Seine Freunde hatten ihm den Spitznamen von Charlie Chaplins „Grossem Diktator“ gegeben, weil die Wutausbrüche der beiden so gut miteinander vergleichbar waren. Irgendwann fing er an, nur noch diesen Namen zu benutzen.
Doch zurück zu seinem Zustand. Er beschloss, nicht mehr darauf zu achten, was sich als schwierig herausstellte, fühlte er sich doch wirklich elend. Als seine Frau ihn sah, war sie sichtlich schockiert.
„Liebling, was ist denn mit dir los?“
„Nichts, es muss glaub’ ich nur eine Dampfwalze in der Nacht über mich gefahren sein.“
„Das glaub’ ich aber auch. Wieso sind denn deine Arme so ... so lang. Zeig’ mal her!“
Sie fasste ihn am linken Arm, um ihn näher zu untersuchen, zog ihn näher zu sich heran und hatte mit einem Mal den Arm in der Hand. Abgefallen. Einfach so. Anton blutete nicht einmal stark. Trotzdem nutzte Katja Hinkel die Gelegenheit, um in aller Stille in Ohnmacht zu fallen.

Durch ganz ruhiges Liegen konnte der Rest von Alfreds Körper zusammengehalten werden. Er erhielt eine Arm-Prothese und konnte bald wieder seinem Beruf nachgehen. Doch er war kein Einzelfall und andere waren wesentlich schlimmer betroffen als der Zirkusdirektor.
Schnell bemerkte man, dass nur Leute von dieser seltsamen Auflösungserscheinung betroffen waren, die in irgendeiner Weise häufig mit einem GraFREEty-Room zu tun hatten – Astronauten, Tauchlehrer, Psychotherapeuten, Jahrmarktsaussteller, Zirkusartisten und eben –Direktoren. Gerade bei diesen Berufsgruppen sank in der Folge Linas und Aarons Ansehen beträchtlich. Deshalb entschieden diese, die GraFREEty-Rooms vorerst aus dem Verkauf zu nehmen und die Anschuldigungen zu überprüfen.
Mäuse wurden in die Behälter gesperrt und tagelang beobachtet.
Nichts geschah.
Ein Biologe ging zur Kontrolle in den Raum. Es stank. Er stellte den Ventilator an. Die Mäuse wurden förmlich weggeblasen. Sie lösten sich einfach in Luft auf. Nun war es an Lina, ohnmächtig zu werden und an Aaron zu analysieren:
„Grrrrfgszzzz“ Er räusperte sich. „Oh! Aber... Das kann doch nicht... Wenn das so ist, dann... Verdammter Bockmist! Das ist ja wie bei Röntgenstrahlen. Nur ohne Strahlen. Oder wie jetzt?“

Es wäre aber nicht gerechtfertigt, die genialen Wissenschaftler Lina und Aaron mit der vorherigen Beschreibung im Regen stehen zu lassen. Beide erholten sich recht schnell wieder und begannen nun sachlich zu analysieren. Nach zwei Tagen waren sie bereit, die Ergebnisse auf einer Pressekonferenz zu veröffentlichen.
„Meine Partnerin, Dr. Lina Gerber, und ich bedauern es sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir den Verkauf der GraFREEty-Rooms endgültig einstellen müssen und alle bereits verkauften Exemplare zurückrufen müssen. Unsere Analysen haben ergeben, dass der längere Aufenthalt in einem GraFREEty-Room zu einem förmlichen Absaugen der Higgs-Bosonen im menschlichen Körper führt, was sich in spontanem Loslösen einzelner Gliedmaßen vom Körper äußern kann. Die Lebewesen auf der Erde sind es, salopp gesagt, einfach gewohnt, das „Netz“ der Higgs-Bosonen um sich herum zu haben. Eine Veränderung der natürlichen Gegebenheiten bewirkt das verrückte Verhalten des Gewebes. Wir bitten alle Personen, die sich in letzter Zeit längere Zeit in einem GraFREEty-Room aufgehalten haben, in der nächsten Woche ihre Glieder nicht zu überanstrengen, bis sich der Anteil an Higgs-Bosonen wieder regeneriert hat. Ferner bitten wir Sie, bis zum 3. Mai diesen Jahres alle 27.839 verkauften Exemplare zu einem Schrottplatz zu bringen, von wo aus wir überprüfen können, ob tatsächlich alle herausgegebenen GraFREEty-Rooms verschrottet wurden und keine Gefahr mehr darstellen können.
Ferner empfinden wir tiefes Mitgefühl für alle, die durch unsere GraFREEty-Rooms schon zu Schaden gekommen sind und wünschen ihnen und ihren Angehörigen alles Gute und Gute Besserung. Es liegt an uns, uns hiermit zu entschuldigen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“

Begabte Mathematiker zeichnen sich häufig durch eine große Begabung in Mathematik aus. Lina und Aaron konnten daher getrost als solche bezeichnet werden. Das bedeutet deshalb aber noch lange nicht ihre Unfehlbarkeit. Deshalb fiel es den beiden Helden dieser Geschichte auch nicht auf, dass sie bis zum 3. Mai nur 27.838 Meldungen – also eine zu wenig – über die Verschrottung eines GraFREEty-Rooms bekommen hatten.
Fest im Glauben über die endgültige Zerstörung ihres Lebenswerks saß das Paar also an diesem Abend im Wohnzimmer.
„Nun ist alles verloren. Wir haben kein Ansehen mehr in der Welt. Selbst der Ruhm von meinem Nobelpreis ist hin. Wir stehen da wie die Atomlobby nach Tschernobyl.“ Lina war nicht nur betrübt über ihr eigenes Scheitern, sondern auch über das Leid, das sie den Leuten indirekt zugeführt hatte.
„Kopf hoch, Liebling. Was passiert ist, war schrecklich, aber es war nicht das Ende. Überleg doch mal, die Wissenschaft hat den Menschen immer mehr genützt als geschadet. Wenn wir jetzt weiterforschen, dann können wir vielleicht etwas entdecken, was das ganze Leid, das wir hier geschaffen haben, überstrahlt. Ich weiss schon lange, dass du fähig bist, noch einmal eine so geniale Entdeckung zu machen. Zum Glück habe ich auch einen Bekanntenkreis, der uns das nötige Geld dazu geben kann.“ Er war diese Rede mehrmals im Kopf durchgegangen, bis er selbst zumindest ein bisschen davon überzeugt war. Auch bei Lina dauerte es natürlich einige Zeit, bis sich ihr Forschergeist durchsetzte und sie fest entschlossen war, weiterzumachen. Aber schließlich gingen die beiden wieder – diesmal gemeinsam – ans Basteln.

Natürlich zog es kleinere bis mittlere Wellen in der Öffentlichkeit, dass die beiden, die gerade noch einen Fehler von so kapitalem Ausmass gemacht hatten, nun bereits wieder an neuen Erfindungen arbeiteten. Nicht alle nahmen das positiv auf, vor allem die Boulevard-Presse schien ganz versessen darauf zu sein, Lina und Aaron keine zweite Chance zu geben und damit die Möglichkeit zu nehmen, ihren Fehler soweit es geht wiedergutzumachen. Glücklicherweise konnten die beiden aber mit der Kritik umgehen, denn sie hatten sich die gleichen Fragen doch selbst schon hundertmal gestellt.
Bei ihrer Begabung war es auch keine Überraschung, dass bald schon das erste Ergebnis ihrer Arbeit nach den GraFREEty-Rooms zu sehen war; ein vollautomatischer Tennisracket, der es immerhin auf das Niveau eines Hobbyspielers brachte, aber nur funktionierte, wenn im Tennisball eine kleine Metallscheibe eingebracht war. Bald gab es das Gerät auch in den Variationen Badminton und Tischtennis, wobei sich letzteres als Riesenflop auszeichnete, hatte doch dieser nur 2 Gramm schwere Tischtennisball mit Metalleinlagerung plötzlich völlig unbrauchbare Flugeigenschaften. Aber auch die beiden anderen Modelle blieben weitestgehend unbeachtet, da Hobbyspieler gerne nach einem Match mit ihrem Gegner noch etwas trinken gehen, wofür sich das automatische Racket einfach beim besten Willen nicht eignete.
In der Szene der Wissenschaftler rehabilitierten sich die beiden schneller wieder. Fachmagazine berichteten durchaus wohlwollend über die neue Arbeit der Ingenieurin und des Physikers und ließen es sich auch nicht nehmen, über die ruhmreiche Zeit vor den GraFREEty-Rooms zu berichten. Deshalb sah man schon bald zumindest in Linas Augen öfter mal wieder ein Lächeln, Aaron hingegen versuchte grundsätzlich immer, seine Gefühle zu verstecken. Bald wurden sie sogar vom italienischen Physiker Benzini Napaloni (von dem beide noch nie etwas gehört hatten) zu einem wissenschaftlichen Treffen in ein kleines Bergdorf in Norditalien eingeladen.
Fast schon beschwingt fuhren sie bald mit der Bahn nach Süden. Sie fühlten sich wie Kinder im Urlaub, da sie noch gut die Ferien mit den Eltern in Erinnerung hatten, die sich eigentlich nur mit den Worten Strand, Meer, Pizza, Pasta und Sonnencreme beschreiben liessen. Doch diesmal war der Zweck ihrer Reise ein anderer.

Katja konnte sich einfach nicht an den neuen Namen ihres Mannes gewöhnen. Dieser aber war sich sicher, dass er ihn wechseln musste. Nachdem er jahrelang als Hitler-Parodie Anton Hinkel Berühmtheit als Zirkusdirektor erlangte, konnte der gleiche Mensch nicht einfach so plötzlich Physiker sein. Das war er natürlich auch nicht wirklich, aber im Schauspielern war er schon immer gut. Und welcher Name passte besser zu ihm als die Mussolini-Persiflage aus demselben Chaplin-Film? Zum Glück hatte er noch Leidensgenossen in Italien, die seinen Plan schnell unterstützten.
Der Empfang der beiden Gäste aus Deutschland war zwar freundlich, aber nicht herzlich. Benzini kam schnell zur Sache. Es gehe um einen Auftrag für die Herrschaften. Sie nehmen doch hoffentlich auch Auftragsarbeiten an und können ihm doch dann sicher sozusagen eine maßgeschneiderte Erfindung bieten, bei entsprechender Entlohnung natürlich. Zur Besprechung müssten die Physiker in sein Büro kommen, wenn sie so freundlich wären?
„Bitte sehr, nach Ihnen.“
Diese an sich ganz normale Formel kostete ihn noch nie so viel Überwindung wie jetzt. Gleich nach dem Eintreten der beiden Physiker schloss Benzini die Kammer ab und schob noch den nächstbesten Schreibtisch davor. Dann stellte er den Ventilator in der Kammer ein.
Er konnte in den nächsten Tagen einfach nicht in die Kammer schauen. Natürlich, es war die gemeinsame Rache der Geschädigten, Amputierten, aber allein die Vorstellung der Situation bereitete ihm Kopfschmerzen. Linas Schrei hatte er noch gehört, als er die Kammer abschloss, aber wie oft hatte er sich schon die nachfolgende Verzweiflung vorgestellt; dann der Moment, an dem die ersten Gliedmaßen abfielen, wie die Gefangenen nicht mehr laufen konnten und sich schließlich selbst auflösten.
Wie konnte er nur plötzlich so kaltblütig werden nur wegen einer Armprothese? Wie konnte er nur Leute auf grausamste Weise töten, die eigentlich unschuldig waren? Auf zynische Weise bemerkte er, dass seine Spitznamen noch nie so gut zu ihm passten wie jetzt. Er konnte einfach nicht mehr.

Nach zwei Wochen war die Kammer leer. Sie musste nur gut gelüftet werden, weil überall wie ein feiner Dunst verteilt kleinste Fetzen von Gewebe herumflogen. Sie waren von Staub beim besten Willen nicht zu unterscheiden.
Am nächsten Morgen fand eine Wandergruppe des „Vereins der deutschen Dolomitenfreunde“ den Leichnam des berühmten Zirkusdirektors Anton Hinkel, der doch erst vor kurzem mit seinem Zirkus in Karlsruhe gewesen war, was die Dolomitenfreundin Heidrun Keller mit ihren Enkelkindern gesehen hatte. Er war eine Felswand heruntergestürzt. Wer mit so einem blöden Zirkuskostüm auf eine Bergwanderung geht, muss sich aber nun wirklich nicht wundern, dass es so endet.
Katja Hinkel starb kurze Zeit später an einer Überdosis an Schlafmitteln.

III

Maurizio Bellione, ein italienischer Psychotherapeut aus Bologna, fand die Reaktion seines „Bandenchefs“ Anton Hinkel übertrieben. Er war es schließlich gewesen, der die Bande zusammengetrommelt hatte und jetzt brachte er sich einfach so um. Dabei gab es nichts zu befürchten. Die Physiker Dr. Lina Gerber und Aaron Schürer galten als verschwunden und die örtliche Polizei nahm Ermittlungen auf.
Die Kollegen Physiker seien auf dem Treffen gewesen, bestätigte die verbliebene Truppe an falschen Wissenschaftlern, nach ihrer Abreise wollten sie sich wieder auf den Weg zurück nach Deutschland machen, man habe keine Ahnung über deren Verbleib.
Die lange und ausgiebige Suche blieb natürlich ergebnislos und das Verschwinden ging als einer der größten Mysterien in die Polizeigeschichte ein, denn der Aufwand, der betrieben wurde, um die beiden wiederzufinden, war gewaltig gewesen. Schließlich musste man sich ein Scheitern eingestehen.

Der Ermordungstrupp freute sich unterdessen ausgiebig über die gelungene Aktion. Alle fanden, dass sie jetzt doch mal wirklich das Recht hätten, ausgiebig zu feiern.
Als drei Tage später der Kater so halbwegs ausgeschlafen war, begannen sie sich dann aber doch Gedanken über die Zukunft zu machen. Große Streitfrage war, ob der letzte GraFREEty-Room als letztes Beweismittel zerstört werden oder gewissermaßen als Trophäe aufbehalten werden sollte. Beide Seiten konnten gute Argumente für sich finden, bis dem New Yorker Michael Howard, dem im Astronautentraining die linke Hand abgefallen war, eine Idee kam:
Durch seine Verbindungen zur Occupy-Bewegung, die sich mittlerweile offiziell aufgelöst hatte, wisse er, dass sich daraus eine etwas radikalere Gruppe namens Butterfly bildete, die wie die Gruppe der Geschädigten auch zur Selbstjustiz greife. Die Fehler der Banker und Manager seien noch viel größer als die der beiden, die sie unlängst töteten. Zumal „die da oben“ ja wirklich in böser Absicht handeln, was man von Gerber und Schürer ja nicht sagen konnte. So kam er zum Schluss, dass eine Rechtfertigung des begangenen Mordes nur mit weiteren Morden zu bewerkstelligen sei.
Dieser Vortrag löste zunächst einmal heftige Diskussionen aus. Doch in der Sache fühlte man sich sehr verbunden mit den Occupy-Demonstranten. So wurde nach langem hin und her also beschlossen, sich der Butterfly-Bewegung anzuschließen und ein paar Managern der ihrer Meinung nach gerechten Strafe zuzuführen. Eine Frage blieb dann aber doch noch:
„Warum dieser bescheuerte Name?“
„Soweit ich weiß, hat die Gruppe den Namen Butterfly gewählt, weil er sich auf Occupy zumindest halbwegs reimt und weil die Mitglieder sich im übertragenen Sinn als Schmetterlinge sehen. Wenn sie zur Selbstjustiz greifen, sind sie hässliche Raupen, Das ganze Töten ist schließlich nicht schön, aber notwendig, wie das dauernde Fressen der Raupen. Wenn sie aber ihr Ziel, eine bessere Welt, erreicht haben, dann sieht jeder, wie gut es war, die „Raupen“ fressen zu lassen und das Ergebnis – die Schmetterlinge stehen für die gerechte Welt – abzuwarten.“

Diese neue Methode der Selbstjustiz kam der Butterfly-Bewegung nur gelegen. Im Vergleich zu deren vorherigen Plänen, die Welt zum Umdenken zu bewegen, war dieser gerade einmal simpel. Alle anderen hatten sich früher oder später als utopisch herausgestellt. Doch nun liefen die Vorbereitungen mit größtmöglichem Eifer.
Zum Schein gründete die Gruppe die Firma Caterpillar Finances, die im Internet durch Hacker auch gleich eine fiktive Geschichte bekam, in der sie schon häufiger an Geldwäsche beteiligt war, was ihr aber nie nachgewiesen werden konnte. Die Schmetterlinge machten sich nun daran, der Geschichte Leben einzuhauchen. In zahlreichen Internet-Foren beschwerten sich Kleinanleger, von dieser Raupe betrogen worden zu sein. Ein Bürger behauptete sogar, die Polizei habe vor seiner Haustür gestanden, weil ihn Caterpillar Finances in irgendwelche krummen Geschäfte hereingezogen habe.
In den Blättern der Großanleger tauchten aber auch immer wieder Artikel auf, in denen die dubiose Firma hoch gelobt wurde.
Seine Investitionen in ein Bergwerk im Osten der Demokratischen Republik Kongo, die er durch Caterpillar gemacht hatte, haben sich gewaltig gelohnt, behauptete zum Beispiel ein Millionär aus Nevada, der lieber anonym bleiben möchte.
Die gierigen Finanzhaie gingen wie wild auf den Köder los. Wenn ein Manager anrief, wurde – natürlich unter größter Diskretion beiderseits – ein Treffen vereinbart, das stets in etwa so verlief wie das mit den beiden Physikern. Nur zeigten sich diesmal bei niemandem Skrupel.
So häuften sich die Vermisstenmeldungen der Superreichen, doch nie wusste jemand, welches Treffen er oder sie denn am fraglichen Tag besuchte. Stets gaben sich die späteren Opfer dazu sehr schweigsam. Außerdem war der GraFREEty-Room ja transportabel, die Treffen mussten also nicht immer am gleichen Ort stattfinden.
Die Ermittler gingen zwar von einer linksradikalen Gruppe aus, konnten aber keinerlei Verbindung zu einer der bekannten Gruppen finden. Die Polizei tappte sprichwörtlich im Dunkeln.
So legte sich nach und nach ein Schatten der Angst über alle Superreichen dieser Erde.

Zwei Jahre später ging eine Sensationsmeldung um die Welt: Zum ersten Mal wurden weltweit mehr Studienplätze in BWL angeboten als besetzt werden konnten. Die Strategie der Butterflies, den Leuten Angst einzujagen, hatte funktioniert. Unter Bankern sprach sich herum, dass immer nur korrupte Finanzriesen verschwanden, was langsam, aber stetig zu einem Umdenken führte. Wirtschaftsethik wurde plötzlich als notwendig betrachtet, man sah das Wort nicht mehr als Aneinanderreihung von Gegenteilen wie schwarz-weiss.
Bald kamen die ersten Textilunternehmen auf die Idee, ihren Näherinnen anständige Löhne zu zahlen, was zu einem Anstieg der Lebensqualität im fernen Osten in ungeahntem Ausmaß führte. Zuerst sah man es in der westlichen Welt kritisch, dass man nun plötzlich mehr für Textilien, Handys und Plastikspielzeug zahlen musste, aber bald sah man ein, dass so auch die Gefahr, dass der eigene Arbeitsplatz ins Ausland verlagert wird, praktisch auf null sank.
Die Lebensstandards auf der ganzen Welt näherten sich an, was natürlich auch dazu führte, dass endlich mal ernsthaft über den Klimaschutz verhandelt werden konnte. Tatsächlich wurde hier bald eine Lösung gefunden, die für alle erträglich war.
Kurz: Die Zukunft war ein wahres Paradies; der Schmetterling war aus seiner Verpuppung geschlüpft. Die Mitglieder der Butterfly-Bewegung versammelten sich noch ein letztes Mal.

Das Anti-Eisen war teuer, dafür kam man billig an Silizium.
Die Butterflies feierten ihren unglaublichen Erfolg und wollten heute ihre letzte Aufgabe erfüllen. Noch immer war Mord eine Straftat, weshalb man nicht mit dem Verschwinden der Manager in Verbindung gebracht werden wollte. Dafür mussten sie jetzt nur noch den GraFREEty-Room als einziges Beweismittel vernichten. Dann wollten sie die Gruppierung auflösen.
Sie warfen das Anti-Eisen und das Silizium in den Behälter. Wenn Materie auf die zugehörige Anti-Materie trifft, löschen die beiden Teilchen sich unter Freisetzung von Energie gegenseitig auf. So war mit einem kleinen Feuerwerk bald auch der letzte GraFREEty-Room Geschichte.
Die Butterflies feierten noch bis zum nächsten Morgen. Ihr Kater am nächsten Morgen war schrecklich.

 

Hallo Raureif!
Erst einmal Glückwunsch zu der lustigen Idee und dem Wortspielt "GraFREEty-Room"!
Allerdings - und um hier die Wortspielerei fortzusetzen - finde ich, dass Deine Geschichte ziellos im luftleeren Raum herumschwebt und Du Deinem Anspruch auf leichte Unterhaltung nicht gerecht wirst.
Wozu die lange Vorgeschichte mit Lina Gerber mit technischen Details, mit ihrem Aufstieg, Fall und erneutem Aufstieg, wenn sie doch getötet wird, dann Hinkel auftaucht und danach noch die Butterfly-Gruppe etabliert wird, die im überhasteten Schnellverfahren die Welt rettet?

Wenn ich die Grundidee richtig verstanden habe, dann geht es doch darum, dass eine besondere Maschine eingesetzt wird, um die Welt vom Übel des globalisierten Raubtierkapitalismus' zu befreien, indem man die bösen Manager spurlos beseitigt.
Wenn dem so sein sollte, dann finde ich, dass auch Dein Fokus einzig darauf liegen sollte. So könnte die Geschichte mehr Fahrt aufnehmen.

Eine Variante könnte vielleicht so aussehen:

1. Lina Gerber erfindet die GraFREEty-Room"-Maschine zufällig und wie bei all ihren vorigen Spielereien findet sie keinen offiziellen Abnehmer.
2. Dann kommt ein klischeemäßiger Großkonzernvertreter und bietet ihr einen unmoralischen Deal an (vielleicht indem er das Auflösungsrisiko billigend in Kauf nimmt oder das Gerät sogar als Hinrichtungsmaschine nutzen will o.ä.)
Der üble Typ wird zufällig zum ersten Opfer, dann sieht Lina nach einigem moralischem Hin und Her die Chance der Welt mit ihrer Erfindung durch gezielte Morde zu helfen.
3. Sie gründet die Butterfly-Gruppe und diese knöpft sich dann geldgeile ausbeuterische Manager vor (was man an ein oder zwei Beispielen exemplarisch vorführen könnte)
4. Letztlich ist die Welt dann ein besserer und geläuterter Ort

Dadurch gäb es eine rote Linie und wenn Du die Geschichte in dem von Dir geplanten leichten und humoristischen Plauderton erzählst, dann wäre das sicherlich eine amüsante Story.
Hoffe Dir damit ein wenig Anregung gegeben zu haben, denn die Grundidee finde ich nett und schön nutzbar!

Beste Grüße,
Powerpitt

 

Hallo Raureif!
Deine Ideen, die Du in der Geschichte eingebaut hast, gefallen mir gut. Aber ich denke, dass Du Deine Story erheblich kürzen musst, um zu einer wirklich guten Kurzgeschichte zu kommen. So wie es jetzt ist, bist Du quasi gezwungen im Eilverfahren und als allwissender Erzähler Ereignisse nur kurz zu beschreiben, um dann weiterzugehen. Ich hatte beim Lesen nie das Gefühl, wirklich in die Geschichte gezogen zu werden.
Mein Vorschlag: Überleg Dir doch nochmal, welche Aussage Deine Geschichte eigentlich haben soll und welche Informationen Deines Textes für den Leser wirklich erforderlich sind, um diese Aussage zu verstehen (z.B. könnte meiner Meinung nach die lange Einleitung um Lina Gerber weg).
Dann würde ich versuchen, die Geschichte mehr im Aktiv zu schreiben und weniger zu beschreiben. Der Leser sollte miterleben, was gerade geschieht und es nicht nur erzählt bekommen.
Eine Alternative zum Kürzen wäre hier aber vielleicht auch, alles detailliert auszuarbeiten und evtl. einen Roman daraus zu machen...
Ich hoffe, es war Dir nicht zu viel Kritik von mir. Aber Deine Idee gefällt mir gut und ich hoffe, dass ich Dir ein paar Ideen geben konnte, um Deine Geschichte zu verbessern.
Viele Grüße
Christian

 

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