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Schwere Treppe
Schwere Treppe
Plötzlich bin ich mir unsicher. Ich zögere. Nehme den Fuß wieder zurück. Ich schaue nach oben und die Angst beschleicht mich. Es fühlt sich jedesmal gleich an, als ob man den Virus sehen kann. Wie er langsam auf einen zukriecht. Er glaubt, ich sehe ihn nicht. Er glaubt, er ist zu klein dafür. Doch ich kann seinen Gesichtsausdruck erkennen. Er grinst. Hämisch. Schadenfroh. In stiller Vorfreude darauf, mich zu quälen. Er kommt immer näher und immer schneller. Plötzlich ist er da, gar nicht mehr so mikroskopisch klein, fast so groß wie ich. Und dann wird er noch größer, viel größer als ich selbst. Dann ist er fort. Doch er will nur, das ich das denke. Er hat sich unsichtbar gemacht und kriecht mein linkes Bein hinauf. Wenn es mich dann kribbelt, hält er inne. Er will mich glauben machen, er sei dies Kribbeln nicht gewesen. Natürlich ist es anstrengend; der weite Weg bis ganz nach oben. Denn in Wirklichkeit ist er nicht so groß, wie ich anfangs dachte. Eigentlich ist er nur ein Virus. Aber ist er erst mal kurz über meinem Gürtel, dann braucht er nicht mehr lang. Er frisst sich durch. Erst eine dünne Hautschicht. Schwieriger wird es drunter. Schichten und Schichten von Fett. Er gibt nicht auf. Er weiß, dass er belohnt wird. Am Ende stehe ich da und habe ein Loch im Bauch. Das Loch wächst schnell zu. Aber er ist in mir drin! Er ernährt sich von mir. Tag um Tag frisst er mich innerlich auf, wie das Geheimnis, das ich schon jahrelang mit mir herumtrage. Es wird immer schwerer. Ich weiß, dass er in mir wächst und mich verzehrt. Doch ich schaffe es einfach nicht, es abzulegen. Und weiter beschleicht mich die Angst. Ich weiß schon lange nicht mehr wovor. Ich merke nur noch wie es immer schwerer wird, von Tag zu Tag.
Und irgendwann muss ich es tun, einen Schritt vorwärts machen, es alles hinter mir lassen. Die Ängste, die Sorgen. Und ich sehe, er wird mich mir zurückgeben, wie ein unsichtbarer Nebel aus mir raus ziehen. Ich muss mich nur erst mal vorwärts bewegen, weg. Einfach nur vorwärts. Einfach nur vorwärts gehen und nicht zurückblicken. Oh, nein. Ja nicht zurückblicken. Wenn ich das mache, ist alles verloren. Es war ein schöner Ort. Ich sehe ihn noch ganz genau. Eine riesige Halle. Mittelalterliche Ornamente verzieren die halb gewölbte Kuppel über mir. Fünf mit Stuck verzierte Säulen verbinden Himmel und Erde. Viele Leute laufen hin und her. Doch keiner geht mit mir. Alle gehen anders rum lang. Links und rechts gehen Wege zwischen den Säulen ab. Überall strömen neue Menschen in die Halle. Doch alle gehen anders rum. Ich seh sie noch alle vor mir. Viele bekannte Gesichter. Sie fragen mich, was ich mache. Vorwurfsvolle Blicke zerbohren mich, wie heranfliegende Speere von allen Seiten. Doch ich weiß nicht mehr, was war und ich weiß nicht mehr, was ist. Ich weiß nur noch, was nicht sein wird. Also drehe ich mich nicht um. Ich schaue nicht noch ein letztes mal zurück. Ich verabschiede mich nicht. Alles zieht an mir vorbei. Und ich tue, was ich noch nie vorher getan habe. Ich mache einen Schritt. Nach vorn.
Langsam lege ich meine Hand auf das Geländer. Es stört mich nicht, dass ich mir dabei an einem alten kleinen maroden Holzkopf einen kleinen Holzsplitter in die Hand einziehe. Ich zucke nicht einmal. Wenn ich jetzt zucke, dann gehe ich nie. Also setze ich mein linkes Bein langsam auf die erste Stufe. Wie ein stiller Beobachter sehe ich meine Schuhe unter mir hervorlugen. Die rot-weißen Streifen verschmelzen gut mit dem Fußboden.
Und dann geht alles wie von allein. Die Treppe trägt mich nach oben. Ich schaue immer noch nicht zurück. Ich weiß, dass ich mittlerweile drei Stufen über den anderen bin. Ich gerate kurz ins Stocken. Also denke ich nicht mehr an das große Gewölbe hinter mir. Mit all seinem Stuck, all seinen Verzierungen, all der schönen Architektur, der ganzen Kunst, die die Augen aller auf sich lenkten. Immer nur darauf nur nie aufeinander. Hin und wieder schauen sie hinüber, auf die alte marode Treppe am Rande der Halle. Ich habe selbst mal jemanden hinaufgehen sehen. Ich fragte mich, wie das wohl ist, ob ich jemals nur die ersten paar Stufen betrete. Immer wieder hatte ich – zurückgeschaut. Doch mein Blick war nicht wie der der Anderen, voller Verachtung. Nein, mein Blick war Neugier und Bewunderung. Und während ich immer weiter ging, zog es mich doch mit unbändiger Gewalt zurück. Irgendwann hörte ich auf, die Säulen zu zählen, den Stuck zu bewundern, die ganze Kunst.
Eines Tages wachte ich auf und sah nicht mehr gerade aus. Und als ich mich das erste mal traute, mich umzudrehn, konnte ich sehen, wie hinter jedem Bild an der Wand ein grässlich entstelltes Gesicht mich mit wütenden Blicken anstarrte. Sie fragten viele Fragen auf die ich die Antwort nicht wusste. Es ist schwer mit blutendem Herzen zu sprechen. Ich bin der Geist den niemand weiß. Doch ich schwebe nicht. Immer schwerer werden meine Füße. Sind es nur ein paar Schritte noch. Ich traue mich nicht, aufzublicken. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen. Ich laufe einfach weiter. Ich sehe das Ende nicht. Ist es nah? Schritt für Schritt. Ich kenne den Anfang nicht mehr. Ich habe vergessen, was das Ziel ist. Wo liegt der Grund? Hinter mir oder doch noch fern? Ich steige die Treppe weiter hinauf. Es ist so schwer. So schwer, dass ich Angst habe zu fallen.
Ich schwebe nicht.