- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Schwere Nächte
Während ich warte, bin ich bereits zu spät. Ich spreche nur fremde Sprachen, als wären es meine. Ich spreche die fremde Sprache, manchmal, als sei es meine, auf leises Papier.
Ich durchstreife die Nacht, das Land, deine Hände, Gegebenheiten um uns, die uns formen und Orte, die sich durch Mondlicht benennen lassen, das über unsere Haare flutet und sie zu Schatten macht. Nachts das schöpfen was tags aus meinem Herzen tropft, dort zum Schnee und Atem, Atem holen, und atmen, gebettet ins sanfte Auflodern des nächtlichen Himmels. Ich durchstreife Tage, Straßen, Worte, folge den durch fremde Sprachen gezogenen Spuren, Schritt für Schritt, Schritt, Wort für Wort, weit ins aufgespannte Dasein der Dinge, die du klar nennst. Versuche der Sprachlosigkeit zu entkommen. Durch entäußertes Gefühl bleib ich im Jetzt, fühle Momente, Rieseln, Mund und Blick.
Du sagtest, du habest viele Persönlichkeiten in dir, mindestens drei. Mir sprachst du zwei zu: Eine, die will und eine, die will nicht. Aber du hast dich getäuscht: Ich bestehe aus einer, die will alles und einer anderen, die will nichts.
Das Spinnennetz der Gedanken zieht dichte Schleifen. Ich sitze in einer Gruppe lachender, geselliger Menschen und bin schweigsam wie ein Brunnen, in den hinein ein schwerer Stein fällt, der meine Traurigkeit ist. Sterne fallen in meine Augen und bedecken die Traurigkeit. Sie werden weich wie Stein und hart wie Sand. Überall nichts sagende Graslandschaften: Blätter, Felder, Wiesen, die mit ihrer weiten Öde meine Augen überwuchern.
Es ist merkwürdig, wie Worte an Form und Gestalt verlieren, sobald sie versuchen, sich freizumachen. Ich wünschte, das Leben wäre ein Traum und die Wirklichkeit ein Schlaf. Das Leben wäre ein Traum. Du atmest grün. Dein Atem ist grün. Ich wünschte das Leben wäre ein Traum, ein sanfter, schwingender Traum. Er würde unsere wunden, vernarbten Herzen wiegen. Ich wünschte, es gäbe Engel. Sie schliefen im Grün deines Atmens, denn wenn du sprichst, entsteht eine Welt. Ich wache. Ich wache über meine Gedanken, wache über das Grün deines Atmens, sehe ihn hellblau werden, dann blass, dann durchsichtig, dann leer.
Ich suche die Oberfläche des Meeres.
Immer stärker wird der Wunsch, nichts wahrnehmen zu müssen. Die schreienden Lichter auszublenden wie einen schlechten Film, den Stimmen zu entgleiten, die fortschreiten wie bewaffnete Heere, den Körpern entkommen. Doch noch erzählt jede Kleinigkeit eine Geschichte und tätowiert Schmerz in das, was in mir schlägt und leiser wird, weil ich es zwinge.
Als ich geboren wurde, verliebte ich mich in den Mutterleib. Das war der erste Verlust von Geliebtem. Im Dunkeln, gänzlich ungesehen fühlte ich mich wohl. Hässlichkeit muss versteckt werden. Ich glaube Camus. Das Doppelgesicht. Der Fall.
Plötzlich sind sie alt, haben Falten, einige sind bereits gestorben. Andere haben selbst Kinder bekommen.
Ich lege mein Gesicht ans kalte Fenster, meine Hände an mein Gesicht, das Herz lehnt an meiner Brust. Ich lehne an der Welt. Sie lehnt an mir. Alles ist Lehnen und das Fenster bricht. Ich falle. Vielleicht lässt die Welt uns leiden, damit wir stark werden.
Weiche Flocken fallen auf die letzten Farbtropfen fast schon kahl stehender Bäume. Es rauscht der Straßenverkehr wie ein anschwellendes Flüstern. Dieses bunte Karussel aus Leben und Gesichtern. Leben, das einen hoch wirbelt und niederwirft wie Wind die Blätter.
In mich hinein fällt eine Stimmung die undefinierbar ist wie ein trüber Morgen, der sich in keine Jahreszeit einfügen lassen will und für sich steht wie ein Juwel aus Einsamkeit. Es ist eine schöne, erwartungsvolle Stille, die sich ans zusammengepresste Innere legt. Ab und zu fährt ein schwermütiger, humpelnder Wagen vorbei, aber der Straßenlärm ist noch ruhig wie ein leichtes Plätschern von Wellen, die an einen schlummernden Strand schlagen, der sich verschlafen die Augen reibt, aber schon in Erwartung ist der bald über ihn hinwegströmenden Füße. Abends liegen noch immer viele von ihnen auf den Straßen.
Gedanken und Menschen.
Ich trinke Kaffee, denn ich muss wach sein. Ich trinke ihn mit Milch, ohne Zucker. Ich denke dabei an dich, sehe das Bild vor mir, sehe dich: Du bist nun braun, du bist müde. Du führst die Tasse an deinen Mund. Du streichst mit deiner sicheren Hand dein Haar aus dem Gesicht. Deine Stimme ist tief. Du trinkst, ich trinke. Dann schlafe ich wieder ein.
Ich hätte es wissen müssen, als ich im Karussel saß und hinaus schauend das Treiben sah; selbst treibend.
Ich verabschiede dich, meine Beine sind leicht. Du bist schwer, du bist braun, dann weiß, du wechselst beständig deine Farbe.
Licht, wünsche ich und Farben. Vor allem Grün, in das hinein ich wurzeln kann, mich ausweitend, verästelnd ins Ferne, kurz aufblühen, unbekümmert wie die Bäume vorm Fenster. Manchmal liege ich wach wie eine offen gebliebene Frage, die alles bisher Erlebte umfasst und denke, eine Antwort müsste doch irgendwann kommen.
Worte klaube ich aus mir raus wie ein Kind, das im Garten spielt und nur die schönsten Blumen pflücken möchte, weil es der Mutter den schönsten Kranz schenken möchte.
Aus meiner Kehle habe ich Worte gewürgt. An Sonnenuntergängen meine Augen ausgeweidet. Sie brannten. Ich habe mich belehren lassen. Ich habe meine Augen an jeder kleinen Blüte gelassen, die Himmel seziert. Doch je mehr ich bemüht bin, die schönsten Halme zu pflücken, sehe ich deutlicher: Es sind nur Gräser, sie wachsen aus der Erde hervor. Dann möchte ich in die Erde hinein greifen, unter die grüne Fläche sinken und baden im Meer der Ursprünglichkeit.
Ich betrachte meine Gedanken: wie sie sich formen, zusammenschließen, ausdehnen, eine Sache umfassen, von ihr ablassen, andere Formen bilden, nachgeben, auseinanderklaffen oder wie Sand in viele Richtungen zerstreut werden. Unzählbar weit ist das Seufzerlied gespannt: Ciel! - - - Eine Lilie im Sommerabendblau wächst, hinüber, gebeugt zu den Steinen, um mit dem Licht zu weinen; im Schattentale voller Ratiominen, zerfetzten Vogelrufen und Lichtgeschrei. Unverdaute Hitze zieht schlafwärts, ins Lose und weiter bis ins Falterschwere. Bitterlich im Überzarten, wo Erinnerung sich mit Erinnerung verknüpft, träumte ich, so ein ums andre Male, dass ein Vogel hoch ins Lose schlüpft und aus vortrefflicher Höhe, wenn die Augen geschlossen verstummen, dahinfliegt durch alle Meere der Bedrängnis, über den Weizen, die endlosen Strecken, so viele Dinge durchkreuzend, Himmelskörper zählend, die erblühen und erblassen wie Ermordete, plötzlich, beim ersten, fahlen Tageslicht.
Jetzt schläft auch die Katze, ein Traum.
Ich träume.
Ich befasse mich dann nicht mit tatsächlichen Dingen, sondern mit Möglichkeiten offen fühlender Herzen. Als wäre uns das Leben noch nie erklärt worden, träume ich.
Das Gefühl ist weder an Gedanken, noch an Träume gebunden, sondern immer unmittelbar jetzt und immer gerade dabei, sich dem Gedanken zu entziehen, wohingegen der Traum nur das Echo des Fühlens ist.
Manchmal spüre ich ansatzweise, wer ich bin und denke: Das muss reichen. Hier zu sein auf diesen wenigen Zentimetern Boden unter den Sohlen.
Alles ist brüchig.
Auch mein Denken droht dann und wann wie ein ungenauer Wind zu kippen oder wechselt so schlagartig die Richtung, dass ich taumele. Nur manchmal gehen wir zusammen wie Gedanken an einem Punkt, der Übereinstimmung heißt, doch dies viel zu selten. Idealerweise stelle ich mir vor, dann nicht den Umweg über Worte gehen zu müssen, denn bald schon stoßen wir an die Grenze, die das Wort ist, da das Wort sich doch immer gerade dem Leben entzieht und wie wir also gerade über das Leben sprechen, nur schon im Gesagten leben und uns zu Figuren machen, die im Kryptischen verschwinden, nahezu unecht und verwaschen werden. Das Leben aber ist eine ganze Tatsächlichkeit leuchtender Lichtmomente und über uns hereinstürzender Nächte, sie jagen uns wahlweise Kummer durchs aufgescheuerte Herz oder lassen uns sanft atmen in ihrer schützenden Umarmung. Die Lichtmomente aber stellen uns dar wie Dinge, von denen man spricht. Wir sind der oder die, eine oder einer von vielen. So bleibe ich allein mit der Last, die ich bin. So betrachte ich, wenn ich an Menschen vorbeigehe, die zusammengeschlossen und vertraut beeinander sitzen, und um nicht vieles bekümmert zu sein scheinen, sehnsüchtig die Stimmung, die aus ihnen auragleich hervorgeht und spüre schweren Herzens, dass ich nicht Fuß fassen werde. Erinnerungen und Träume legen sich um mich, trennen mich von mir und ihnen, bilden jeden Moment, der mich bewegt und den ich bewege.
Irgendwann, denke ich, wird uns etwas im Leben gnädig sein.
Morgens sehe ich die immer selbe Schar schwarzer Raben sich krähend auf dem Feld tummeln, das unter meinem Fenster liegt und nicht mehr aufzuhören scheint. Das an irgendeinem Horizont in eben jenen übergeht als wäre alles ein einziger Teppich: um diese Jahreszeit, in der ein besonders ausführlicher Schneefall herrscht, weiß, und manchmal, wenn der Himmel klar ist und nicht so vom Nebel ins Milchweiß getaucht, grenzt sich das Feld lediglich durch die Veränderung der Farbe zum Himmel ab, der dann hellblau die Luft bedeckt. Keine Autos. Kein Lärm. Man könnte meinen: Kein Mensch, außer dem eigenen, aus sich rauspochenden Herzen.
Ein kalter Wind weht von außen ins Zimmer hinein, die Luft ist durchsichtig, als lägen in ihr die Gedanken entblößt und man selbst schutzlos in ihr. Da helfen nicht Mantel und Schal.
Ich weiß nicht, ob ich den Kern der Einsamkeit fassen will oder die Schale des Lebens.
Das sonderbar Andere meines Befindens an solchen Tagen ist, dass ich mich weder in einer tiefen, die Emotionen zermürbenden Krise befinde, noch in einem Hochgefühl, das mich durch Jubelkonzerte von Lichtstädten trägt - - - Es ist dieses dumpfe Schweigen, das mir von innen beständig mit seiner Faust an die Schläfen schlägt, so dass ich denke, mein Kopf sei ein Fremdkörper. Es ist der Mangel am Mensch, der mich verzweifeln lässt, doch wenn ich unter den Menschen bin, ist es der Mangel an Menschlichkeit, der mich noch mehr entsetzt. Es ist vermutlich dieser anspruchsvolle Balanceakt das Leben.
Ich versuche, mich zu konzentrieren.
Die letzte Nacht war Zigarettenrauch, ein ganzes Zimmer voll stickigen, nebligen Zigarettenrauchs. Die letzte Nacht war schwer, aber wer kennt sie nicht: Schwere Nächte.
Etwas reißt und zerrt auch diese, deine WELT, zerr. Hat deinen Mund krummge, etwas und dir verzerrte Silben ins Hirn gezerrt. (Dort wurden die Silben verzehrt und verzerrt zersetzt.) All das Gezeter! Dort poltern sie noch wie polternde Geister: salopp und tanzen Polonaizerr.
Nur zu fühlen reicht auch nicht. Nur zu fühlen: nur zu fühlen reicht auch nicht, reicht auch nicht. Heute sprichst du über andere Dinge, heute sprichst du über andere, heute sprichst… Du jonglierst mit Messern, das graue Haar erklärt das alles auch nicht: Regen und Blut. Das eine vom andern zu unterscheiden. (Du musst dem Mond einen Unterschlupf bauen in der dunklen Wölbung deiner Hände!)
Ich mache das Fenster auf, weil es nach Rauch stinkt. In mein Zimmer findet die Kälte Einzug, aus meinem Zimmer flieht die Kälte.
Es wohnen so viele leere Koffer in meinem Zimmer.
Die Sprache, jene Mangelhaftigkeit, versinkt in öden Augen. Das Feuer blüht zu schnell, der Wind weht zu heftig, die Nacht stürzt wie ein Schwamm. Katzenaugen, im schwarzen Feld des weiten Ödplatzes gegenüber im Fenster. Dem anrollenden Tag entblüht nur noch manchmal ein Vers.
Ich habe im Grunde genommen immer nur das selbe zu sagen, sage: Menschlichkeit, zünde mir eine weitere Zigarette an, asche in die Welt, bedecke den Globus mit Asche, die Berge, die Flüsse, die Wälder, das Glitzern. Asche wird auch meine Hinterlassenschaft sein.
Man darf nostalgisch werden, Paris mit seiner zum Eifelturm manifestierten Großartigkeit und laisser faire, alles lässig, bei Gott, ich kann das Leid wegpusten, mit dem Zigarettenrauch, zum geöffneten Fenster hinaus.
Geduld. Güte. Schlagworte, die durch meinen Schädel jagen wie Gesichter. In einem Moment erheben sie mich, im andern verhöhnen sie mich.
Ich weiß es ja, aber wem soll ich's sagen? Nun ist es genug des Denkens und Leidens. Wir müssen tatsächlich aus uns hervorgehen, nicht für immer theoretische Floskel bleiben, sondern die Kraft anpacken, die da in uns ist und noch gegen die Dinge und gegen uns selbst gerichtet, vor sich hinschlummert. Sie endlich für die Dinge annehmen. Ich weiß es ja!
Doch die schwere Nacht ist ein tosender Atem, der sich um mich legt. Ich kann ihr nichts entgegen halten. Sie zerreißt mich wie ein gewaltiger Sturm die zerbrechlichen Schneeflocken auseinander wirft, die stumm ans Fenster schlagen.
Der Morgen kam heller hervor, endlích auch: Schneeschmelze, strahlend blauer Himmel, die Nebeldecken waren davongezogen und ließen das Tal in seinen grünen und braunen Farben aufscheinen. Etwas wurde weicher in mir, unruhiger und nervöser.
Wenn wir uns tatsächlich Rettung sein könnten; einer dem andern: Was würden wir tun?
: flirrt Blick, trifft fast vorbei, Stirn. Trifft Aug in einem Winkel von Großstadmäander. Sitzt wer am Tisch, spaltet Stift, spaltet Herz, spaltet Zunge, Leben und sich. Hat auch Seele auf dem Gewissen, yummi, mit Prise Salz, zirpzirp. Außenflut mit Hirnziel, lächelt stets auch entgegen, denen. Ein strahlendes Haifischlächeln mit blitzblanken, blendenden Zähnen. Lächelt den Atem der Gerechten. Ist irgendwann Schnee, so Mitte Dezember, nur noch U-Bahnpoesie, alles rattata, wie die Ratten, rattata, viel Rotz in der Nase, könnte auch England sein oder Uppsala. Übelkeit im Rücken, durchflossen von dies und das, jenes und jenem Schwarz, und weiß hinausgepresst aus dem Beton. Spalte ich meine Zunge über dem Gottlos, bin ich die einzige nicht. Über Wahrhaftigkeit lachen, als wäre sie ein Hirngespinst einer anderen Zeit, loses Abtropfen längst schon übelriechender Masse Traum über die harte Kante (einer/der) Wirklichkeit(en). Welch Möwenkrähweiß, ahoi! Mein Ohnemichich geht, hisst Fahnen, folgt der Kalkspur ranziger Herzen, kräuselt Honig dornig ums Maul. Das Meer soll geduldiger sein! Ich habe noch nie gesehen, dass Wasser zerbrach.
Armeen von bewaffneten Tauben krächzen Straßenmelodien auf stählernen Balken, während die Ungeduld wartet. Eine Katze: Ausgestreckt am Boden, seitlich den Schrecken im Gesicht, die Glieder abgespreizt, als würde sie selbst jetzt, im Tod, noch schreien, den Dreck unter den Pfoten... Die Ewigkeit ist nicht sauber. Sie ist voller Schmutz, Leid und Tränen. Sie ist eine einzige offene Wunde, in die wir hineinmünden mit unserem Wunsch nach Erlösung. In ihr besteht nicht die leiseste Lüge. Vielleicht ist sie deshalb unsere größte Angst und Hoffnung.
Die Bäume schlummern vor verschlossenen Fenstern, in kleinen Aleen. Dann der Schweiß der Menschen, Fett im Haar und riesige, aufgedunsene Blicke. An manchen Plätzen schwelgen sie, schwelgen in Erinnerungen wie die Pinsel der Maler in Farben. Stadt - in dir sammeln sich Herzen. Dann fliegt eine Feder durchs Bild. Hände, die über ausgesperrte Augen fahren als wäre Wärme möglich. Von verschnörkelten Dächern tropft der Asphaltgestank, der Weltrauch aus Schornsteinmündern. Licht fällt in kleinem Winkel, warm und golden, bildet einen Glanz, der die Häuser und Straßen überflutet wie ein sanfter Teppich. Hinter der großen Säule ( Denkmal für verstorbene Soldaten ), hinter der reichverzierten Kuppel des Palais de Justice, über dem Marollenviertel der Unterstadt : Beginn eines Sonnenuntergangs, rötlich gestrichen wie mit einem breiten Pinsel ( ebenmäßig ) über die hellblaue, weite Hintergrundfläche. Der Markt: bunt, voller Fragen. An jedem Abend Sirenen. Ich sinke in ihre verstimmten Quarten hinein wie ein fallengelassenes Tuch, schlage auf den Straßen auf, die sie schon wieder verlassen. Alles verläuft sich, tritt, stinkt, spricht in Tumulten. Hinausgeschält aus mir begebe ich mich mitten in sie hinein. Allernorts wandelt es sich. Haut eines Chamäleons. Ich schwimme auf Oberflächen wie ein Tropfen Öl auf einer Wassermasse, die sich unruhig bewegt. Man lächelt, wenn man noch kann, zwischen dem Hupen eines Vorbeifahrenden und dem umschaltenden Licht einer Straßenampel. Durch die Menschenmassen des Marktes geht ein Behinderter auf allen Vieren, seine Gliedmaßen stehen unverhältnismäßig in alle Richtungen ab, schleifen den Körper über den Boden. Aber das ist einer, der singt. Der singt, sein Kästchen aus Pappe vor sich herschiebend, französische Lieder. Langsame Frauen ziehen breite Einkaufstaschen hinter sich her. Im Spiel der Stoffe erschöpft sich mein Farbvokabular. Dann schließen sich die Lichter, mit den Lichtern die Gesichter.
Ich stehe am Place Flagey und warte im Regen, spüre meine Hände nicht mehr, nur mein Herz, sehe all die Leute: die Traurige mit ihrem Minirock und den nackten Beinen, die Gruppe von Jugendlichen in schwarzen Lederjacken, die Kleine mit den verwuschelten, kurzgeschnittenen Haaren und einer Gitarre und einen anderen, der nichts hört. Die Lichter fahren vorbei und kümmern sich nicht. Regen tropft auf Schienen, bildet Pfützen auf den Straßen und neben mir sitzt einer, der so aussieht, als könnte er sich noch ertragen.
Träume wie das Davontuckern der Straßenmaschinen, die aneinander wie zueinander gestimmt vorbeifahren an der ewigen Baustelle Stadt, Baustelle Leben, vorbei auch am Palais de Justice, wo die richterlichen Roben aussteigen, einsteigen, vorbei. Pulsierend im Aderngeflecht.
Sich nicht in Trostlosigkeit verlieren, wenn die Dunkelheit der unterirdischen Tunnel sich wie ein adoptierbares Gemälde auf die Gesichter der Pendelnden legt. Nicht in Verzweiflung erstarren, wenn Blicke, hart wie Stein an der Oberfläche der Haut aufschlagen. Nicht gänzlich das Staunende tauschen gegen das Schmerzende, weil alles Sehen im Schmerz über das Gesehene mündet.
Ich zähle. 1, 2, 3, 4, fünfeinhalb. Eine Frau mit Kopftuch macht merkwürdige Geräusche, während ein jüngerer Mann stark nach Parfüm riecht. Ein Kind rennt, die Mutter ist genervt. Ein anderer zuckt schnell mit seinen Blicken hin und her, mal nach innen, mal nach außen. Bittet um ein paar Cent. Dann gehe ich zurück, um nichts bereichert, ärmer nur um eine Illusion. Im Gesicht des alten Ehepaares bilden sich so viele Falten, als wollte es fragen: warum? Ein kleines Mädchen verschlingt begeistert ein Shrimpsbaguette. In Zentren springt es, springt voran, das Jahrhundert jenseits der Sterne, das Jahrhundert aus Grauasphalt und Straßenbahnplänen. Ängste ringen sich empor, als wären sie Fische, Flugfische. Ich rausche wie eine ganze Fabrik. Schließlich bin ich eine Fabrik aus Körperzellen, Gefäßen, Organen, die irgendwie funktionieren. Funktionieren sollten. Ich wühle in mir wie in einem Stein, wenn mich Schritte nirgendwohin weisen, und schreibe Zeilen, die nichts beschreiben als das leblose Innere eines Steins, den man ins Leben geworfen hat, wo er nun Wellen schlägt, einer Stadt zu Füßen, mit Erinnerungen, die lückenhaft bleiben. Stimmen, die mich wie Sand durchrieseln, zerbröckelnd dann, ins Meer. ( Jene asphaltenen Abgründe, die sich so zart ins Hirn schmiegen. ) Vielleicht habe ich nicht ein mal einen eigenen Willen, bin willenlos zum Widerspruch programmiert, ein Produkt aus Nerven und Zellen.
Vincent L., schmieriger, schleimiger Typ mit aal- oder allglatter Stirn, die niemals bewegt genug gewesen zu sein schien, als dass sich auf ihr eine Falte hätte bilden können, sitzt mit meisterhaft angeeigneter Ignoranz an seinem Schreibtisch, wo er geschäftig, mit geradem Rücken und krausem Haar sein perfektes Französisch poliert. Lächelt mir bei schlechten Neuigkeiten entgegen wie ein schnatternder Vogel: (nicht laut, dafür blind), wohingegen sich seine Gesichtszüge, sobald er gute Neuigkeiten zu überbringen hat, um Wintermonate verfinstern. Die Schatten (fallende Schatten, sämtliche Schatten), welche alles andere eher weich wirken lassen und somit schön und anmutig, verhärten sich in seiner Nähe und bekommen Ecken und Kanten.
Das Relief, das sich in mir bildet, ist feingewebt, hat unsymmetrische Formen: ein sinnloses Muster aus Zufälligkeit. Zu irgendeinem Zeitpunkt lebten 6.809.021.812 Menschen auf unserem Planeten. Im Herbst diesen Jahres wurde der sieben milliardenste Mensch geboren.
Im Moment nach der Verzweiflung ist alles eine Wohltat, jeder Grauton der Stadt und jedes Neonleuchten Trost und die Menschen schön, alle Menschen so schön, denn sie sind Zeichen des Lebens. Manchmal spüre ich eine merkwürdige, mich im selben Moment beschämende Symphathie und zugleich eine große Abneigung gegenüber den Pennern und Bettlern auf den Straßen, die sich nicht dafür zu schade sind, jeden Fremden um ein Almosen anzubetteln. Was sind ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen? Was sind ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen gewesen? In manchen Nächten spüre ich die ganze Grausamkeit des Lebens als wäre sie eine Erinnerung. Tagsüber kann ich vergessen, aber nachts, wenn keine einzige Ablenkung vorhanden ist, erinnere ich mich sogar an die Erinnerung an die Erinnerung, erinnere mich, als wäre die Erinnerung ein endlos weit aufgefächerter Gang und durch jede Tür gelangte man wieder in diesen Gang, wieder zu einer Tür, wieder zum Gang, der stets derselbe ist, nur beschritten durch andere Türen.
Alles senkt und dämpft seinen bewegten Atem. Ambivalente Architekturen, neu und alt zusammengewürfelt, hässlich und schön nebeneinander. So gleite ich, träumend davon, irgendwo in der Tiefe erschüttert zu werden, um geheilt zu werden in der breiten und besänftigenden Auffächerung aller Emotionen. Aber die Fassaden sind aneinandergereihte Fragen ohne Antwort und die Menschen sind Meere: in sich selbst schwimmend, verschlossen; tief unter der glatten Oberfläche, an die jetzt nicht das leiseste Lüftchen weht.
Die nahende Flut der enttäuschenden Wahrheit ist in Sichtweite. Jetzt werden wir ernst, amen.
Erlöse mich, amen.
Morgens, will ich hoffen, hast du die Masse an Gebeten nicht umsonst gebetet. Diese Masse, die träge auf deiner verräterischen Zunge klebt und dich verleumderisches Sprechen lehrt. Aber da stammelst du bereits, alles ist Stammeln, selbst die Sterne stammeln.
Worte sind ertrunkene Schenkel, ein Vergluten von Horizonten. Gewitterhände umhüllen sie.
Worte wie Oxygen und Messer.
Wie gemütlich wir nun beisammen sitzen.
Mein blasser Kokon liegt auf der blauen Tischdecke neben dem roten Geschenkpapier, das du sorgfältig ausgewählt hast, in das du mit geduldiger Arbeit, ruhiger, blickloser Mine und endloser Trauer alle Liebe hineingelegt hast.
Dieser schwüle Stolz des Schweigens in dieser schweren Hitze, dieses schwüle Schweigen, klebriges Winternass auf der Haut –
Gebetet wird heute nicht.
Feuchte Materie tropft auf Wangen und Haar.
Schweres Wasser plätschert in lauten Akkorden. Ich bin eine Diebin mit leeren Taschen und schüchternen Händen, gebunden an die Geographie der Tage.
Ich wache im fiebrigen Schwarz, im Mittelpunkt der Pupillen unaufhörlicher Rhapsodie.
Der Mond gibt nichts frei.
Der Bauch des Sterns ist ein nahender Taucher, durchdrungen von Bläue, die niedersteigt, stiller und unvorbereiteter als ein Leichnam.
Die großen Bären stürzen, fellvoraus, aus dem Labyrinth.
Aufgefächert im ersten Sonnenstrahl am Fenster: unermesslich zerbrochen ist auch der Herzzschlag, jenes pochende Verhauchen des Dufts der rotesten Rose der Welt.
Gebündelte Knollen von Sonnenstrahlen ruhen auf einer weit geöffneten Hand.
Seide sind Gedanken, die verklingen.
Ein Sonnenstrahl springt schreiend aus der Hand.
Kreisförmige, eilige Lichtflecken bilden sich am Boden.
Die Hand ballt sich zusammen.
Jetzt sind auch die Sonnenstrahlen zerdrückt, erdrückt im schwarzen, schweigsam knurrenden Bauch der Faust.
Seit etwa zwei Tagen kriecht der Frühling tastend, vorsichtig hervor, als wäre auch er noch eingeschüchtert von der Schwere und dem Gewicht des Winters. Noch weiß ich ihn nicht zu spüren. Alles ist zu zaghaft, zu sehr Beginn. Ich fange hier an, um hier wieder anzukommen, steige hier ein, um wieder zurückzufahren und will doch gar nicht zurück. Aber das Leben ist ja vielleicht auch keine Linie und wir müssen uns nicht auf einer Geraden bewegen.
Ist nicht Angst irgendwann lächerlich, wenn man bedenkt, dass man im Leben sowieso nur verlieren kann, da uns mit der Geburt ein Geschenk in die Hand gegeben wurde mit der Aufschrift: Bitte zurückgeben? Mein Gebet lautet: gebet!
Meine Stimme gleicht heute dem Wasserfall, der fraglos nach unten rauscht und nicht an eine Umkehrung denkt.
Dein grüner Atem befindet sich in den Wolken. Hellblau ist nur noch mein Herz.