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Schwellenangst
„Normal bleiben. Normal! Wie verhält man sich normal? Was ist normal? Hätte ich mir nicht vorher einmal Gedanken darüber machen können?“
Wirr, hektisch und ungeordnet rasten Gedankenfragmente durch ihren Kopf. Der Blutdruck war in die Höhe geschnellt. Der Puls schlug schon längst im dreistelligen Bereich. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Vor ihr die geschlossene Tür. Weiß, nicht steriles, emotionsloses Weiß. Nein, Angsteinflößendes Weiß, atemberaubendes Weiß. Dahinter die Schwelle, dahinter er.
„Nimm dich zusammen! Denk an was Anderes! Wie hättest du dich gestern verhalten?“
Sie wühlte in ihrer Tasche und nahm ein Taschentuch heraus und wischte sich über die Stirn. Das Problem war sie selbst, sie musste sich nur ablenken. Ja, angenehme Dinge waren die Lösung, Erinnerungen.
Die erste Begegnung. Er war von hinten an mich herangetreten, als ich während der Party zum Luftschnappen kurz nach draußen gegangen war. „Na, ist Ihnen auch zu warm? Zu laut?“ Kurze Pause. „Mir auch.“, sagte er, ohne meine Antwort abzuwarten.
„Ich liebe es nachts die Sterne zu betrachten, die Unendlichkeit, möglichst, wenn es drum herum dunkel ist und man noch den kleinsten der Sterne als Loch in einer durchlöcherten, mit Licht hinterlegten, schwarzen Samtdecke wahrnehmen kann. Ich konzentriere mich darauf, mir diesen einen kleinen Lichtpunkt als riesige Sonne, umkreist von einem Planeten wie unserem, vorzustellen. Mache mir mein Unvermögen bewusst, die Entfernung zu diesem Punkt zu empfinden. Ich denke an ein Alien, das genau in diesem Moment dort steht und hierher schaut, versucht sich ein Wesen vorzustellen, das Denken und Fühlen kann, und gerade auf seinen Planeten schaut.“ Während dieser Sätze hatte er nur nach oben geschaut, jetzt wand er langsam den Kopf zu mir und sah mich an, als erwarte er von mir eine Antwort auf eine Frage, die er nicht gestellt hatte. „Was ist das nur für ein Mensch, der einer wildfremden Frau im ersten Augenblick ihrer Begegnung, einen derart intimen Einblick in seine Gedankenwelt gewährt?“ ging mir durch den Kopf, aber ich antwortete nicht, sah nur nach oben in den Sternenhimmel und musste automatisch seinen Gedankengang nachvollziehen. Wortlos war er an mich heran getreten und legte seinen Arm um mich.
Ja, so war er.
Die Konzentration auf die Erinnerungen hatte sie wahrhaftig abgelenkt. Es funktionierte: Abstand durch Nähe. Ihr Blick richtete sich erneut auf die Tür, auf das atemberaubende Weiß. Gleich müsste sie hindurchtreten, über die Schwelle, fröhlich wirken, nichts ahnend. Sofort verblassten die Erinnerungen der ersten Begegnung und die Worte des Arztes dröhnten nachhallend durch den Kopf: „Wir haben ihn gleich wieder zugemacht. Da ist nichts mehr zu machen. Höchstens noch vier bis acht Wochen.“ Vier Wochen. Vier… Vier Schritte zur Tür. Lächeln. Unbeschwert sein.
Der Moment der Begrüßung entstand vor ihrem inneren Auge. Er, leichenblass, zugedeckt von einem weißen Laken, erinnernd an ein Totenhemd, müde, von den Strapazen der Operation gezeichnet, sehnsüchtig ihr zu gewand, endlich geschafft, im Bewusstsein nun befreit Jahre der Gemeinsamkeit erleben zu können. Dann kam sie ins Zimmer: frische Farben, lebensfroh, herzlich lächelnd, Verräterin, Lügnerin, Heuchlerin, gesund.
Nein, sie konnte es nicht. Sie wischte erneut die Schweißperlen von der Stirn. Vier Wochen noch, die schnell zu zwei und weniger würden. Zwei… Zwei Schritte zum Türgriff. Langsam schwenkte die Tür zur Seite, gab den Blick auf den Liebsten frei. Ein befristeter Anblick. Sterbende Liebe. Lächeln! Was hatte der Arzt gesagt? Positiv sein, ihm die letzten paar Tage angenehm gestalten! Er schaute sie erwartungsvoll an, hob leicht die Hand zur Begrüßung.
Sie trat über die Schwelle, sammelte ihren Speichel im Mund, strich sich mit der Zunge über die Lippen, lächelte ihm zu, verfluchte sich und sagte: „Hallo Schatz, jetzt wird alles gut.“