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Schweizer Schokolade
„Und ich gehe doch!“
Die Suppenteller klirrten gefährlich, als Mama sie aufs Tablett knallte. Sie stemmte die Hände in die Seite, blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht und und blickte Papa kampflustig an.
Geli und ich zwinkerten uns zu und kicherten. Mamas Temperamentsaubrüche waren spannend wie ein Gewitter. Schade, denn eigentlich sollte jetzt der Gugelhupf angeschnitten werden. Damals, Anfang der fünfziger Jahre, roch unser Wohnzimmer jeden Samstagnachmittag nach Bohnerwachs und Bohnenkaffee, und im Radio dudelte das Lied 'Wir wünschen euch ein frohes Wochenende, Wochenende ...'
„Jawohl! Und ich nehme Brigitte mit, die kann ihnen dann was vorspielen.“
Ich spitzte die Ohren. Zwar hatte ich noch nicht verstanden, worum es ging, aber 'vorspielen' war für mich nichts Unangenehmes. Seit einem Jahr bekam ich Klavierstunden und hatte mit dem Stück 'Frühes Leid' beim ersten öffentlichen Vorspielabend schwer geglänzt. Ich war damals acht Jahre alt, ein zierliches Ding, das gerne Märchen über Königstöchter las und sehr konkrete Vorstellungen darüber besaß, wie es in einem Schloss zuginge.
„Sie werden bestimmt kein Interesse haben, mit ihrem ehemaligen Dienstmädchen gesellschaftlichen Umgang zu pflegen.“
„Ach was! 'Gesellschaftlichen Umgang'! Darum geht es doch gar nicht. Du nimmst ihnen halt immer noch übel, dass sie mich nach Luzern mitgenommen haben. Und? Haben wir vielleicht nicht geheiratet?“
„Aber erst vier Jahre später und nur, weil ich einberufen worden bin. Und überhaupt! Warum sind die wieder hier und geben sich als politisch Verfolgte aus, wo sie doch schon 1934 ihr gesamtes Vermögen in die Schweiz geschafft haben?“
„Mein Gott, da waren sie nicht die einzigen. Mich haben sie anständig behandelt, meistens jedenfalls.“
„Ja, unheimlich anständig. Säuseln dir jeden Tag vor, wie bezaubernd und einmalig sie deine Stimme finden. Und bringen es dann nicht fertig, dir ein paar Gesangsstunden zu spendieren. Ich sag dir mal was: Das wäre für sie ganz einfach gewesen, wenn sie gewollt hätten. Du hast ja immer erzählt, dass die Leute vom Theater ein- und ausgingen. Und dich haben sie nach dem Servieren vorsingen lassen. Als Dessert. Bezaubernd!
„Meine Güte, Walter! Das ist so lange her. Es hätte sowieso keinen Sinn gehabt. Zwei Kinder durch den Krieg zu bringen und auf einen vermissten Mann warten, wie hätte ich denn da Karriere machen können?“
„Ich sag nur, was Theo und Amélie auch finden. Und die müssen es wissen, die sind ja vom Fach. Wenn ich daran denke, dass ..."
Dieser Disput interessierte mich nicht mehr sonderlich, also verzog ich mich ins Mansardenzimmer. Hier war unser Mädchenreich. Es gab nur schräge Wände und ein winziges Gaubenfenster, von dem aus ich als Burgfräulein Ausschau halten konnte. Aber die Bodenfläche entsprach einem Tanzsaal, jedenfalls behauptete dies Angelika. Die war zwei Jahre älter und musste es wissen.. Sie hatte mit stibitzter weißer Farbe einen Strich quer durch den Raum gezogen, so dass jede ihre eigene Zone hatte. Das Betreten der jeweils anderen Zone war streng geregelt. Unsere Eltern ließen sich hier nur gelegentlich blicken, mein Vater, um kleine Reparaturen vorzunehmen, meine Mutter, um die Betten frisch zu beziehen oder in den heißen Sommernächten etwas Essigwasser auf die staubigen Dielen zu sprengen. Ich fand unsere Dachkammer großartig.
Mama ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Ich merkte es vor allem daran, dass sie mich – mehr als sonst – zum Üben ans Klavier schickte, meine Tischmanieren und Fingernägel kontrollierte und auf meinen Lieblingsrock eine Bordüre nähte.
Angelika kommentierte die Vorbereitung auf ihre gewohnte Weise:
„Ha, bin ich froh, dass ich nicht dabei sein muss. Dort ist es bestimmt total fad. Und dann auch noch vorspielen!“
„Du bist ja nur neidisch, weil ich besser spiele als du.“
„Ich? Neidisch? Ich doch nicht!“
Und dann schlug sie geschwind zwei Räder hintereinander oder lief auf den Händen durch die Dachkammer. Sie wusste, dass sie mir im Turnen haushoch überlegen war.
An einem Sonntag war es dann so weit. Zur Kaffeezeit fuhren wir mit der klapprigen Straßenbahn durch die Stadt in ein Viertel, das vom Krieg verschont geblieben war. Hier hatten die Straßen keine Löcher. Üppig belaubte alte Bäume säumten den Straßenrand. In den Vorgärten gab es Blumen in allen Farben und Formen. Ich staunte.
„Ja, das ist schon was anderes als bei uns. Die Leute hier mussten keine Bomben aushalten. Die Büsche heißen Rhododendron. Du müsstest sie mal sehen, wenn sie blühen. In Luzern hatten wir einen ganzen Park davon.“
„Mama, warum haben die Hauseingänge so bunte Glasfenster wie in der Kirche? Und solche Türmchen wie bei einem Schloss? Wohnen da auch Kinder?“
„Du lieber Himmel! Das sind Villen, und es wohnen reiche Familien hier. Sie haben meistens Kindermädchen und Dienstboten. Man nennt das 'Personal'. Die müssen einen Hintereingang benutzen, wie überhaupt alle, die nicht als Gäste angesehen werden.“
„Und haben sie auch Pferde und eine Kutsche?“
Mama lachte.
„Nein Brigitte, heute hat man in diesen Kreisen ein Auto und einen Chauffeur.
Na ja, manchmal benehmen sie sich schon so, als ob sie Schlossherren wären.“
Genau wie in einem Schloss! Ich war schwer beeindruckt und stellte mir schon vor, wie ich mit diesem Wissen bei Geli angeben konnte.
Vor solch einer Villa blieb Mama stehen. Sie beäugte mich von Kopf bis Fuß, spuckte auf ihr Taschentuch, wischte hastig durch mein Gesicht und zupfte noch einmal an meiner weißen Haarschleife.
„Du lernst jetzt meine ehemalige Herrschaft kennen. Der alte Herr heißt 'Herr Bircher'; die Dame ist seine Tochter und wird mit 'gnädiges Fräulein' angesprochen. Am besten wartest du, bis man etwas zu dir sagt. Und vergiss den Knicks nicht ... und, hörst du, bitte, blamier' uns ja nicht!“
Wir stiegen die Steintreppe zum Eingang hinauf. Mama zog an dem bronzenen Türklopfer und rückte den Hut zurecht. Es dauerte eine ganze Weile, bis eine junge Frau öffnete. Sie sah genau so aus, wie ich meine Mutter von einigen Fotos her kannte: ein schwarzes Kleid bis zu den Waden, darauf eine winzige, mit Spitzen gesäumte Schürze und eine merkwürdige, weiße Rüsche über der Stirn. Das Mädchen musterte uns, nickte hoheitsvoll, nachdem Mama unseren Namen gesagt hatte, und ließ uns eintreten. In der düsteren, weiträumigen Diele nahm sie uns die Mäntel ab, deutete einen Knicks an und sagte: „Die Herrschaften lassen bitten.“
Wir traten in ein Zimmer ein, das mir riesig groß und hoch erschien. Mittendrin stand ein aufgeschlagener Flügel. Ein älterer Herr erhob sich mühsam aus einem Ohrensessel und tappte mit ausgestreckten Händen uns einige Schritte entgegen.
„Meine liebe Schertrüde“, rief er mit zitternder Stimme, „meine liebe Gertrud! Wie schön, Sie wiederzusehen. Und das also ist Ihre kleine Tochter, wie reizend! Ganz die Mutter.“
„Brigitte ist das jüngere von meinen beiden Mädchen. Die ältere heißt Angelika. Brigitte spielt schon recht gut Klavier.“
In einem solchen Tonfall hatte ich Mama noch nie sprechen hören, so als ob sie ... ich wusste nicht, warum, aber es machte mich beklommen.
Aus dem Hintergrund löste sich eine vornehm gekleidete, ältliche Dame. Sie bedachte uns mit einem Kopfnicken, ohne uns die Hand zu geben. Energisch führte sie den alten Herrn zu seinem Sessel zurück.
„Papa, Sie haben mir doch ausdrücklich versprochen, sich nicht aufzuregen. Gertrud wird es sicher verstehen, dass Sie sich schonen müssen.“
„Gewiss doch, meine Liebe, gewiss doch, es ist nur die Erinnerung!“
Wir standen noch immer wie festgenagelt. Mama presste die Handtasche an sich. Nach dem zaghaften Versuch eines Knickses, den aber niemand beachtete, schaute ich verstohlen umher. Ich hatte einen üppig gedeckten Kaffeetisch erwartet mit Schwarzwälder Kirschtorte, Schüsseln mit Schlagsahne und Meringuen, eben mit allem, von dem ich glaubte, dass reiche Leute es sich zum Kaffee auftischen ließen. Nichts davon war zu sehen.
Auf einem runden Tischchen, das von drei mit Brokat bezogenen, hochlehnigen Stühlen eingerahmt war, standen einige zerbrechliche, langstielige Gläser, daneben eine Karaffe mit einer goldgelben Flüssigkeit. Eine Kristallschale, kunstvoll gefüllt mit Schokoladestückchen, stach mir ins Auge.
Das 'gnädige Fräulein' hüllte den gebrechlichen Vater in eine Decke und zog an einer Schnur mit einer Quaste daran. So ein Ding hatte ich schon mal in einem meiner Bilderbücher gesehen.
„Bringen Sie dem Kind eine Tasse Ovomaltine“, wies sie das Dienstmädchen an. „Es wird dir doch recht sein!“, fügte sie in meine Richtung hinzu.
Es war mir recht. Ovomaltine kannte ich als Mitbringsel aus der Schweiz, wenn wir den Zoo in Basel besuchten. Die Dame des Hauses winkte uns an das Tischchen und forderte uns auf, Platz zu nehmen. Ich saß recht unbequem, meine Beine baumelten hin und her, ich konnte es nicht verhindern. Also wartete ich darauf, zurechtgewiesen zu werden, und mir wurde immer unbehaglicher zumute. Aber Mama schaute gar nicht her.
Das Gespräch kam nur mühsam in Gang. Mama berichtete über ihre Heirat. Die Kriegszeit und die lange Zeit der Gefangenschaft Papas streifte sie nur flüchtig. Lebhaft wurde ihr Bericht erst, als sie von seiner Heimkehr sprach und von dem Glück, dass er sofort eine Anstellung als Lehrer bekommen hatte. Schließlich brachte der alte Herr das Thema auf Luzern. Nun fielen Namen, die mir völlig unbekannt waren.
„Den Urs haben Sie doch nicht vergessen, nicht wahr, der hat noch manches Mal nach Ihnen gefragt. Das war eine schöne Zeit, das müssen Sie schon zugeben, gell.“
„Sie wissen doch, Herr Bircher, warum ich nach Deutschland zurück wollte.“
„Meinen Sie nicht, dass Sie eher zurück mussten? Und was ist mit dem Franzosen, dem Bernard? Ein tüchtiger Handwerker. Der hätte Ihnen allerhand bieten können ... allerhand!“
„Ach, Herr Bircher ..."
„Ja, ja, geben Sie es nur zu! Der Bernhard hat Ihnen ganz gut gefallen, ganz gut. Streiten Sie es nur nicht ab."
Die Unterhaltung zwischen der ehemaligen Herrschaft und dem ehemaligen Dienstmädchen bekam allmählich neckische Untertöne, angereichert mit Anspielungen, deren Bedeutung mir erst viele Jahre später klar wurde. Ich spürte dieselbe temperamentvolle Färbung in der Stimme meiner Mutter, die sie im Freundeskreis so beliebt machte, meinen Vater aber und mich eher wütend. Wenn ich mit Geli darüber reden wollte, bekam ich immer die Antwort: „Klar, du verstehst das nicht, du bist eben dafür noch zu grün.“
Fräulein Bircher warf nur wenige Sätze dazwischen. Ich konnte ihr anmerken, dass sie den Gang der Unterhaltung nicht schätzte. Von Zeit zu Zeit nippte sie an ihrem Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die bei ihr überhaupt nicht abzunehmen schien. Mama dagegen war schon beim dritten Glas. Auch Herr Bircher hielt mit. Mich hatten alle vergessen. Eigentlich hätte ich gerne noch eine zweite Tasse Ovomaltine getrunken, aber ich traute mich nicht zu fragen. Also richtete ich mein Augenmerk auf die Kristallschale mit der Schokolade. Es war meine Lieblingssorte. Ich erkannte sie an dem eingeprägten Sternchen auf jeder Rippe. Diese Sorte hatte es auch in den ersten Jahren nach dem Krieg bei der Schulspeisung gegeben. Schon damals war sie in lila Papier eingewickelt.
Fräulein Bircher hatte mich offensichtlich beobachtet. Schwungvoll schob sie die Schale vor mich hin und sagte ziemlich laut:
„Nun, bedien dich, mein Kind!“
Das Gespräch verstummte, alle schauten mich an. Ich zögerte, studierte den kunstvoll arrangierten Turm und fasste das zweitoberste Stück an. Es schien mir kleiner zu sein als die anderen, und ich hatte die Ermahnungen meiner Mutter im Kopf: Man nimmt nicht das größte! Ich zog und zog. Die Rippe wollte kein Ende nehmen. Mit sicherem Griff hatte ich ein besonders langes Stück erwischt. Ich hörte Mama aufstöhnen, legte hastig das lange Teil wieder auf den Turm und griff nach dem nächsten. Diese Rippe war noch länger. Entgeistert hielt ich sie eine Weile in der Hand, warf sie dann zurück in die Schale und starrte auf meine verschmierte Hand. Fräulein Bircher lachte klirrend und reihte alle berührten Schokoladenstücke fein säuberlich vor mir auf. Da ich keinen Finger rührte, irgend etwas davon zu essen, nahm sie eine Serviette, wickelte alles sorgfältig ein und reichte das Paket wortlos meiner Mutter. Dies war ein deutlicher Wink.
Mama stand sofort auf, Fräulein Bircher war bereits auf dem Weg zur Tür. Es fielen nur noch zwei, drei höfliche Dankesworte. Herr Bircher richtete sich in seinem Sessel halb auf, hob kurz die Hand zum Abschied und murmelte etwas, das nach Bedauern klang.
Ich stolperte meiner fliehenden Mutter hinterher die Treppe hinunter und wappnete mich gegen das Donnerwetter, das jeden Augenblick über mich hereinbrechen musste. Sie schmetterte das schmiedeeiserne Vorgartentor hinter sich zu, drehte sich um und warf einen zornigen Blick auf die Villa. Dann nahm sie mich ins Visier. Ich duckte mich innerlich.
„Dieses Pack, dieses verdammte, eingebildete Pack“, brach es aus ihr heraus, „die sollen nur nicht so vornehm tun. Die müssen ihren Arsch genauso abwischen wie andere Leute!“
Und es folgte ein Flut schlimmster Schimpfworte, darunter auch solche, die ich noch gar nicht kannte.
Ich begriff. Mama war ja gar nicht böse auf mich, sie war wütend auf die Birchers, weil sie die Unerfahrenheit eines Kindes ausgenutzt hatten, um ihre gesellschaftliche Überlegenheit zu demonstrieren.
Natürlich dachte ich damals nicht mit diesen Worten, aber ich hatte die Situation ganz genau erfasst. Und der Kloß in meinem Hals löste sich auf in der Freude darüber, dass meine Mutter zu mir gehalten hatte.
Allmählich ging Mamas Wut in Lachen über. Beschwingt von ihren drei Gläsern Sherry erzählte sie mir auf dem ganzen langen Heimweg immer wieder neue lächerliche oder anrüchige Geschichten über die Birchers, besonders über das sauertöpfische Fräulein Bircher, das schon als junges Mädchen eine alte Jungfer war. Ich fand alles ungeheuer spannend, wenn ich auch nicht alles kapierte. Völlig ausgelassen, in bester Laune, kamen wir nach Hause. Am Abend saßen die Eltern bei einer Flasche Rotwein und schickten uns früher als sonst in die Mansarde. Die Schokolade schenkte ich meiner Schwester.
„Für mich, bist du sicher? Was muss ich dafür tun?“
„Gar nichts, Geli, mir schmeckt sie nicht so. Ich glaube, ich halt mich in der nächsten Zeit lieber an Marzipankugeln.“