Schweinderl und Hund
Schweinderl und Hund
„Hast du schon gehört?“ fragte die Laubnerin, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen. Sie hatte flinke, geübte Hände und ein scharfes Messer. Kratsch-kratsch-kratsch schnitt sie das Kraut, schrobb-schrobb schob sie die geschnittenen Blätter in den Topf. Wie gewöhnlich rechnete sie nicht mit einer Antwort und sprach gleich weiter. „Der Suderer Sepp hat Schweinderl.“
„Wo hat er die denn her?“ wollte der Laubner wissen.
„Das weiss keiner.“
„Der Sepp wird’s wissen.“
„Der wird’s dir sagen“, meinte die Frau spöttisch.
Ihr Mann schaute sie nachdenklich an, er rieb sich das Kinn, ohne es zu merken, und nickte bedächtig.
„Ja“, sagte er, „ich denke, er wird’s mir sagen wenn ich ihn frage.“
„Na, dann viel Glück“, ätzte die Laubnerin. Meist war ihre Zunge noch schärfer als ihr Messer. „Vielleicht gibt er dir sogar ein Schweinderl ab, was meinst du?“
Der Mann sagte nichts. Er legte die Hände auf den Tisch und stemmte sich hoch. Seine Frau ignorierte den Blick, mit dem er aus dem Zimmer ging. Er tat, als hätte er ihr Grinsen nicht bemerkt. Sie waren seit über dreissig Jahren verheiratet und hatten beide gelernt, neben dem anderen zu bestehen. Ohne den anderen hätten sie beide nicht mehr leben können, obwohl sie ihre gegenseitigen Schwächen und Marotten nur zu gut kannten.
Freundlichkeit gehörte nicht zu den Stärken der Laubnerin und der Laubner wusste, dass er nicht gerade zu den klügsten gehörte. Seine Frau hatte meistens recht, wenn sie ihn verhöhnte. Wenn sie das sagte, würde der Suderer Sepp wirklich Schweinderl haben. Sie tratschte gern über alles und jeden, aber sie gehörte nicht zu denen, die Gerüchte verbreiteten, an denen nichts dran war. Sie musste sich nicht wichtig machen, in der Gegend um den Kogel war die Laubnerin wichtig, beinahe eine Institution. Nicht nur für den Laubner.
Der Mann ging vors Haus und schaute nach dem Himmel. Kaum Wolken, leichter Südwind. Ein warmer Tag. Am Wetter würde sich so schnell nichts ändern. Morgen, beschloss Laubner. Morgen wollte er zum Sepp gehen, schon ganz früh am Tag wollte er aufbrechen, dann konnte er vor der schlimmsten Mittagshitze dort sein. Der Sepp machte einen guten Most. Früher hatte er auch einen guten Speck gehabt. Das war schon lange her, aber der Laubner erinnerte sich daran. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, wenn er daran dachte.
Woher er wohl die Schweinderl hatte? Ausgerechnet der Suderer Sepp. Hätte ihm das jemand anders als die Frau erzählt, er hätte es nicht geglaubt. Rund um den Kogel gab es schon lange keine Schweinderl mehr, bloss noch ein paart altersschwache Kühe, die kaum noch Milch gaben. Ziegen, ja, und Schafe, und das eine oder andere Pferd…
Das Leben hatte sich geändert, seit er seine Frau geheiratet hatte. Damals waren sie noch jung, fast noch Kinder, aber die Welt drehte sich ständig, und jetzt waren sie alt, genau wie die Kühe und alles andere. Die ganze Welt war alt geworden.
Vielleicht war sie schon zu alt geworden, dachte der Laubner und machte sich daran, seine Pfeife zu stopfen. Das tat er sehr sorgfältig, nicht ein Krümel ging daneben. Der Tabak wuchs gut, besser als manches andere, trotzdem musste man sparsam damit umgehen. Verschwendung rächte sich immer, das hatte er schon früh gelernt. Die ganze Welt hatte das gelernt, aber erst sehr spät.
Er riss ein Zündholz an. Die machte er sich selbst. Die Flamme stank fürchterlich nach Schwefel und versprühte blaue und grünliche Funken. Laubner wartete zwei Sekunden, dann hielt er das brennende Holz an die Pfeife und paffte ein paar würzige Rauchwolken in die Luft. Im Haus hantierte die Frau mit den Töpfen. Dazu pfiff sie vor sich hin. Sie konnte gut pfeifen, sehr melodisch. Das hatte ihm immer an seiner Laubnerin gefallen. Vor allem, weil sie nicht gleichzeitig pfeifen und sprechen konnte.
Die Melodie war alt, aus einer anderen Zeit. Viele Lieder aus dieser Zeit waren verloren, aber diese Melodie hatte die Laubnerin bewahrt. Ob sie nach ihrem Tod noch gesungen, gesummt oder gepfiffen wurde? Laubner dachte darüber nach, wie viel in den letzten Jahren (Wie viele? Dreissig? Fünfzig?) vergessen und verloren gegangen war. Er hatte nicht gemerkt, dass schon damals viel verloren ging. Er seufzte, zog an seiner Pfeife. Er konnte nicht sagen, dass sie nichts gewusst hatten. Keiner hatte das sagen können. Ein letzter Zug, dann klopfte er die Pfeife sorgfältig aus, schraubte den Kopf ab und putzte das gute Stück mit seinem Pfeifentuch.
Die Laubnerin klapperte mit Töpfen und Schüsseln. Eine tüchtige Frau. Früher hatte sie herrlich gekocht, ihr Schweinsbraten war ein Gedicht, in der ganzen Gegend um den Kogel berühmt. Wie viel Zeit wohl seit ihrem letzten Schweinsbraten vergangen war? Er konnte es nicht sagen. So lange hatte sie schon nur noch Karotten und Kraut auf dem Herd, Erdäpfel, Fisolen, Paprika und Rüben. Im letzten Jahr war dem Hubentretscher die Kuh gestorben, und sie hatten ein Stück Fleisch bekommen. Es war zäh, aber in den Händen der Laubnerin geriet es zu einer zähen Köstlichkeit.
Laubner lächelte. Er hörte das Wasser auf die Herdplatte spritzen. Aus der Küche drang der Geruch von gekochtem Gemüse. Die Frau stellte bereits die Teller auf den Tisch. Der Laubner schraubte die Pfeife wieder zusammen und steckte sie ein. Beim Essen würde die Frau ihm erzählen, woher sie von den Schweinderl wusste. Wie viele waren es? Waren es Ferkel oder ausgewachsene Viecher? Sau und Eber vielleicht? Würde der Suderer Sepp dann als einziger weit und breit Schweinderl züchten?
Der alte Mann gestand sich den Neid ein, den der Gedanke in ihm weckte. Neid war nicht gut, aber in dieser Sache verständlich. Der Suderer Sepp war nicht sehr beliebt. Auch der Laubner mochte ihn nicht besonders, aber er kam mit dem Alten klar. Man durfte ihn nur nicht einbremsen, wenn er sich in Rage lamentierte. Der Sepp konnte ziemlich schnell ziemlich wütend und dann ausfallend werden. Früher wurde er sogar handgreiflich, wenn man seine Suderei abstellen wollte…
Die Frau rief ihn in die Stube. Die Teller waren bereits gefüllt, die Löffel lagen bereit, und für Laubner das kleine Salzfass. Sie setzten sich, neigten die Köpfe und schwiegen einen Moment. Das war ihre Art zu beten. Dazu reichten ein paar Sekunden, dann ein kurzer Blick und sie griffen zu den Löffeln.
Die Laubnerin schlürfte beim Essen. Früher hatte sie das nicht getan, aber warum sollte sie nicht schlürfen? Sowas wie Tischmanieren gab es schon lange nicht mehr. Laubner betrachtete seine Frau über den Löffel. Sie tat, als merkte sie das nicht. Sie wusste, dass er neugierig war, und das gefiel ihr. Er wusste, dass sie ihm vom Suderer Sepp und den Schweinderl erzählen wollte. Sie würde es tun, ehe die Teller leer waren.
„Gehst du zu ihm?“ fragte sie schliesslich.
„Weiss nicht.“
Die Laubnerin schnaufte. „Glaubst du mir etwa nicht?“
„Weiss nicht“, knurrte Laubner. „Hast du die Schweinderl gesehen?“ „Wie soll ich sie gesehen haben?“ Die Frau sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Die Marianne hat sie gesehen. Drei Schweinderl hat er auf seinem Karren gehabt.“
Laubner seufzte theatralisch und sagte: „Das Bausinger Mariandl. Die war noch nie ganz dicht.“
„Aber sie hat immer noch gute Augen“, konterte die Laubnerin. „Und sie weiss wie ein Schweinderl ausschaut.“
„Drei Schweinderl auf einem Karren“, überlegte Laubner laut.
„Na und? Drei Ferken kann der Alte wohl noch ziehen.“
Dagegen liess sich nichts sagen. Blieb die Frage, woher der Sepp die Ferken haben sollte. Davon hatte die Marianne nichts gesagt. Bestimmt hatte sie danach gefragt, aber der Sepp hatte es ihr nicht verraten. Laubner lachte über seinem Teller. Er konnte sich gut vorstellen, wie der Sepp die Alte stehen liess und seinen Karren weiter zog und das Mariandl hinter ihm her schimpfte…
„Wirst du hingehen?“ fragte die Frau wieder.
„Denke schon.“
„Dann solltest du früh losgehen, ehe es heiss wird“, stellte die Frau fest. „Ich richte dir eine Jause.“
„Vergiss den Most nicht.“
„Most ist nichts zum Wandern“, knurrte die Frau. „Dann kommst du erst auf’d Nacht beim Suderer an.“
„Ohne Most geh ich nicht los“, meinte Laubner und schob den leeren Teller von sich. „Gut war’s.“
„Ach was, gut.“
Die Laubnerin stand auf und räumte den Tisch ab. Dann brachte sie den Mostkrug und zwei Becher. Sie schenkte ein und setzte sich wieder. Laubner nickte ihr dankbar zu. Den Rest des Tages sprachen sie nicht mehr viel.
Laubner dachte an den bevorstehenden Weg, fast um den ganzen Kogel. So weit war er schon lange nicht mehr gegangen. Es würde anstrengend werden, aber er freute sich darauf. Vor allem freute er sich darauf die Schweinderl zu sehen. Beim Einschlafen dachte Laubner daran, ihnen Karotten mitzunehmen. Schweinderl mochten Karotten, daran konnte er sich gut erinnern.
Die alten Leute hatten einen guten Schlaf. Sie erwachten kurz vor Sonnenaufgang, wie immer. Ein Blick nach Osten zeigte ihnen, dass es ein schöner Tag wurde. Ein guter Tag, davon war Laubner überzeugt. Er ass etwas Brot und eine Handvoll Erdbeeren, die seine Frau aus dem Garten holte. Er verstaute zwei Honigbrote in seinem Beutel, dazu den gut verschlossenen Mostkrug, den die Laubnerin schon bereitgestellt hatte. Er versah sich mit einem kleinen Tabakvorrat, um auch Sepps Pfeife ein paar mal stopfen zu können, wenn sie beisammen sassen, dann schnürte er sich die festen Stiefel an die Füsse. Er band sich das Halstuch um und setzte den Hut auf. Er nahm den Stock, den er schon viele Jahre besass, und gab der Frau einen Kuss auf die Wange.
Sie stand vor der Tür, als er den grossen Schritt über den Bach machte. Sie winkte zurück, als er den Arm hob. Eine alte Frau, aber immer noch schön, wenigstens in seinen Augen. Es war gut hoffen zu dürfen, dass er zu ihr zurückkam. Es war nicht gut etwas anderes zu denken, nicht an diesem Morgen.
Laubner freute sich an den Vögeln, die er aufschreckte, an den Bienen, die über die Wiesen surrten. Er bewunderte die Bäume, Überreste eines Waldes, den die Grossväter gerodet hatten. Er genoss den Blütenduft in der Luft und den leichten, warmen Wind. Vor allem freute es ihn, dass er immer noch durch dieses schöne Land wandern konnte.
Der Kogel war ein kahler Felsen, Granitgestein, der aussah wie in die Landschaft gestellt. Früher hatte es viele Märchen und Legenden gegeben, die sich um den Kogel rankten, aber die hatte Laubner irgendwann vergessen. Für die Leute in der Gegend war der Kogel immer noch etwas besonderes, aber eigentlich wusste keiner mehr wieso das so war. Dem Felsen reichte es, einfach Fels zu sein.
Laubner kam gut voran, aber die Hitze machte ihm zu schaffen. Er musste sich eine Pause gönnen. Er wanderte weiter, bis zu den beiden alten Kiefern, die Zwillingsbäume genannt wurden. Die einzigen Kiefern weit und breit in diesem Land der Buchen und Birken. In ihrem Schatten ruhte sich Laubner aus.
Er packte die Honigbrote aus und biss in das erste. Er kaute bedächtig, auf den Geschmack konzentriert, er blickte zum Kogel und öffnete den Mostkrug. Nach dem ersten Schluck fluchte er, aber lächelnd. Die Laubnerin hatte ihm Wasser mitgegeben. Das sah ihr ähnlich, und er hatte nicht mal nachgesehen. Selbst Schuld, dachte er und trank noch mal. Vielleicht war Wasser wirklich besser. Most hätte ihn müde gemacht, und müde war er sowieso schon. Nicht erschöpft, aber durchaus in der Stimmung ein wenig zu dösen.
Er hatte es nicht eilig und tat es. Ein paar Bienen interessierten sich für das Honigbrot. Er packte es wieder ein. Dann döste er weiter. Er merkte nicht, dass er einschlief. Als er die Augen wieder aufschlug, hatte die Sonne den Zenit bereits überschritten. Der Hut war ihm vom Kopf gerutscht. Laubner gähnte und richtete sich auf. Es war Zeit weiter zu gehen, er kam schon viel später beim Suderer Sepp an, als er vorhatte.
Laubner fühlte sich stark, ausgeschlafen, beinahe jung. Er machte grosse Schritte, er lächelte, er freute sich auf den Besuch bei Sepp und er freute sich auf die Schweinderl. Er war gespannt darauf zu erfahren woher der Sepp sie hatte. Drei Schweinderl konnten rund um den Kogel vieles ändern. Eigentlich war schon alles anders, wenn es die Ferken wirklich gab. Und warum sollte es sie nicht geben? Die Laubnerin hatte recht: das Mariandl würde Schweinderl schon erkennen, wenn sie welche sah, erst recht drei Ferken auf dem Karren vom Sepp.
Während er geschlafen hatte waren im Osten Schleierwolken aufgetaucht. Erst hatte er sie kaum beachtet, dann merkte er, dass sie sich zusammenzogen und dunkeler wurden. Das war nicht gut. Er musste auf den Wind achten und aufpassen, ob es bald kühler wurde. Ein Wetterwechsel konnte um diese Jahreszeit extrem werden.
Wenn er sich recht erinnerte, war das früher anders. Es gab Gewitter, natürlich, es gab Stürme, es hatte auch im Sommer manchmal tagelang geregnet. Wie auch immer, jetzt gab es diese Wetterwechsel, und das konnte einer werden. Es war auf jeden Fall besser sich zu beeilen. Er lief schneller. Der Laubner war nicht mehr der Jüngste, aber er konnte sich bewegen. Falls da wirklich ein Wetterwechsel anstand würde er noch rechtzeitig ankommen, wenn er sich beeilte. Ob er sich dann wieder auf den Rückweg machen konnte stand auf einem anderen Blatt.
Vor ein paar Jahren war er in einen Wetterwechsel geraten, das würde er bestimmt nie vergessen. Erst die Schleierwolken, dann der Wind, und dann wurde es plötzlich kalt. Ein richtiger Eissturm. Damals wäre er beinahe draufgegangen, und die Stürme waren seitdem schlimmer geworden, viel schlimmer. Ein alter Mann wie er konnte dabei leicht draufgehen, aber daran wollte er nicht denken.
Der Laubner machte sich selten Sorgen. Die Dinge kamen immer wie sie kamen, das konnte keiner ändern, und er schon gar nicht. Er konnte nur versuchen damit zurecht zu kommen, wie er es immer getan hatte. Aber die Wolken zogen sich weiter zusammen und sie bewegten sich schnell, von Osten nach Westen, direkt auf ihn zu. Das war ohne Zweifel ein Wetterwechsel.
Die Zwillingsbäume lagen schon hinter ihm, aber bis zum Sepp musste er noch weit um den Kogel laufen. Das Gehen war anstrengend. Laubner dachte an seine Honigbrote, aber er sparte sich die auf. Vielleicht brauchte er sie noch, wenn er es nicht bis zum Suderer Sepp schaffte und irgendwo unterkriechen musste. Ausserdem wollte er nicht beim Laufen essen und er durfte keine Zeit verlieren. Jetzt nicht mehr.
Ein Krähenschwarm flog krächzend nach Süden. Kein gutes Zeichen. Laubner achtete auf alles: auf die Vögel und die Insekten, auf den Wind, die Wolken, die Temperatur, das Licht. Auch auf die Stille, die sich über das Land legte. Auf den Herzschlag, den er schon im Hals spüren konnte. Der alte Laubner war noch recht fix auf den Füssen, aber es strengte ihn an so schnell zu gehen.
Er dachte an seine Frau, sah sie vor dem Haus stehen und besorgt nach Osten blicken. Ihre Lippen bewegten sich, vielleicht betete sie. Laubner verdrängte das Bild, schaute wieder zum Kogel. Er kam eigentlich recht gut voran, in etwa einer Stunde musste er beim Suderer Sepp sein. Der Wind wurde schon stärker, aber er konnte es schaffen.
Seine Beine wurden langsam schwer. Die Füsse schmerzten. Das Herz war der Anstrengung kaum gewachsen, aber der alte Mann nahm keine Rücksicht auf die stechenden Schmerzen. Wenn die Pumpe schlapp machte, musste er wenigstens nicht in einem Eissturm erfrieren. Die Fetzen eines alten Gedichtes gingen ihm durch den Kopf, ein unvollständiger, aber rhythmischer Text aus der alten Zeit. Was er bedeutete konnte er nicht mehr genau sagen, aber es liess sich gut dazu gehen.
Nach einer Weile hatten die Worte jeden Sinn verloren, aber in seinem Kopf ging die Litanei weiter und die Beine bewegten sich im Takt der Worte. Die Wolken waren jetzt schon sehr dunkel und der Wind frischte zu wilden Böen auf. Meist kamen sie von hinten, aber manchmal musste er sich dagegen anstemmen, um sich auf den Beinen zu halten. Diesmal hatte er wirklich einen Grund zu fluchen. Die Westseite des Kogels war kaum noch zu sehen, der Wind wehte Staubwände gegen den Felsen, die hier zusammenfielen und ihm mit Wolken und Wirbeln die Sicht nahmen. Der Wind zerrte an seinen Kleidern und nahm ihm immer wieder den Atem. Ausserdem war der Wind kalt. Früher hatte es um diese Jahreszeit keine so kalten Winde gegeben. Früher hätte er nicht mit dem Wetter um sein Leben laufen müssen, oh nein, nicht mitten im Sommer.
Er brauchte noch eine ganze Weile bis zum Sepp. Er kannte den Weg, aber bei all dem Staub und dem Wind konnte er sich trotzdem verlaufen. Nicht richtig, bloss ein wenig, bloss so viel, dass er es nicht mehr rechtzeitig bis an Sepps Tür schaffte. Aber daran wollte er nicht denken. Er dachte lieber an die Schweinderl, die in Sepps Stall waren.
Das Gedicht, mit dem er sich angetrieben hatte, ging ihm in den Sturmböen verloren. Er marschierte trotzdem in seinem Takt weiter: Da-da-datt-da-datt-datt. Da-da-da-da-da-datt-da-datt. Laubner dachte an die Zeit, als man noch Bücher mit Gedichten kaufen konnte, eine Zeit, in der lesen und schreiben keine fast vergessene Kunst waren. Er dachte an Filme, die er früher gesehen hatte, manche im Kino, die meisten im Fernsehen. Filme, in denen alte Männer um ihr Leben laufen mussten, waren bestimmt auch dabei gewesen. Wetterwechselfilme hatte es aber nicht gegen, das konnte er mit Sicherheit sagen.
Nun gab es überhaupt keine Filme mehr, keine Kinos, kein Fernsehen. Auch keine Zeitungen, die von den Opfern eines Wetterwechsels berichten konnten. Wenn er in dem Sturm erfror würde man rund um den Kogel darüber sprechen, vielleicht sogar noch in ein paar Jahren, aber sonst würde niemand davon erfahren. Nun, wozu auch? Und Sepps Schweinderl waren bestimmt ein beliebteres Gesprächsthema…
Laubner riss sich zusammen. Er würde die Schweinderl sehen. Er würde sie riechen und anfassen. Vielleicht durfte er sie auch auf den Arm nehmen und seiner Frau davon erzählen. Auf jeden Fall würde er nicht aufgeben, so lange er sich noch bewegen konnte. Keine Stunde mehr bis zu Sepps Hof. Ein kleiner Hof für einen alten Mann, einsam gelegen. Der Suderer Sepp hatte keine Frau und keine Kinder, vielleicht hatte er nie Frau und Kinder gehabt, vielleicht hatte er sie irgendwann verloren. Das wusste keiner. In dieser Nacht sollte er Gesellschaft haben, und die Laubnerin würde allein in der Stube sitzen und sich sorgen.
Der Kogel hielt den ärgsten Wind eine Weile ab. Laubner konnte besser atmen und schneller laufen. Er konnte sich davon überzeugen, dass er ganz genau wusste wo er war. Dann wurde er wieder vom Wind erfasst. Eiskalter Wind. Die dunklen, feuchten, kalten Wolken türmten sich schon über den Felsen. Laubner kämpfte nicht nur gegen den Wind an, er kämpfte vor allem gegen die Zeit.
Für einen alten Mann hat Zeit eine eigene Bedeutung. In der Welt spielte sie keine besondere Rolle mehr. Das war früher anders, Laubner wusste das genau, er erinnerte sich daran, dass Zeit früher immer knapp und nie besonders wertvoll war. Vielleicht, weil er damals noch so jung war. Heute wusste er, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Tage, Monate, ein paar Jahre vielleicht, aber nicht mehr. Wären die Schweinderl nicht gewesen, hätte er vielleicht auf seine restliche Zeit verzichtet. Die Frau hätte das verstanden. Nein, daran sollte er besser nicht denken.
Ohne den Staub in der Luft hätte er vielleicht schon den Bach gesehen, der sich zu Sepps Hof durch die Wiesen schlängelte, Aber der Staub hing über dem Land, so weit er blicken konnte. Der Kogel selbst sah im Licht des heranrasenden Sturms gelb-braun aus, beinahe un-wirklich. Dann zerriss ein Blitz den Himmel, Donner krachte, der Kogel war gestochen scharf zu sehen und der Wind legte sich für einen Augenblick.
Der alte Mann stand da, als hätte er plötzlich vergessen wohin er eigentlich wollte. Der Wind frass sich in den feucht gewordenen Stoff seiner Kleidung, ins Fleisch und schon bald in die Knochen. Laubner zitterte bereits, aber er ging weiter. Er wollte die Schweinderl sehen. Danach konnte er sterben. Egal. Drei Schweinderl konnten rund um den Kogel alles ändern, das sagte er sich immer wieder, bis auch diese Worte ihre Bedeutung verloren hatten und nur noch Rhythmus für seine steifen Beine war: Da-da-datt-da-da-da-da-da-da-datt-da-datt-da-datt…
Ein Wetterwechsel verändert das Land in kurzer Zeit. Aus Wiesen können Sümpfe werden, Bäche werden zu Flüssen und dann ist alles weiss und gefroren. Ein paar Stunden Winter, ehe die Sonne zurückkehrt. Erfrorene Pflanzen und Tiere und manchmal auch Menschen. Ein Wetterwechsel konnte rasch wieder vorbei sein, aber er konnte auch zu einem ausgewachsenen Eissturm führen.
Ein alter Mann kann erstaunliche Leistungen vollbringen, weit über das hinaus, was er sich selbst zutrauen würde. Er kann vergessen wer er ist und wer er sein will, aber er kann an allem festhalten was ihm wichtig ist. Ein alter Mann kann den Tod verhöhnen und sich weigern zu sterben, wenn er weiss warum er leben will.
Das Land um den Kogel war mit mannshohen Schneewehen bedeckt, die der Ostwind vereist hatte. Als sich der Wind langsam legte glich es einer Polarlandschaft. Wie und breit war nichts lebendiges zu sehen. Durch den Schnee zog sich eine Spur, kaum zu erkennen, aber deutlich genug um ihre Richtung zu bestimmen. Sie führte zu dem kleinen Hof am Bach, bloss eine windschiefe Hütte mit einem Stall und einiger winzigen Scheune, kaum mehr als ein Schuppen. Ein Gemüsegarten, ein Tabakfeld, eine verwilderte Wiese, auf der vor einigen Jahren noch Kühe gegrast hatten. Die Fenster waren geschlossen, die Läden verriegelt. Aus dem Kamin quoll Rauch. In der Hütte war es warm, trotz der Eisblumen auf den Fensterscheiben.
Ein alter Mann stemmte die Tür so weit auf, dass er hinaustreten konnte. Um den Kogel nannte man ihn den Suderer Sepp. Eigentlich hatte er einen anderen Namen, aber an den hatte er selbst schon seit vielen Jahren nicht mehr gedacht. Er brauchte überhaupt keinen Namen. Der Alte zerkaute ein halbes Dutzend Flüche und kämpfte sich durch den Schnee zu dem Schuppen, wo sein Brennholz gestapelt war.
Er packte so viel er tragen konnte und stapfte zur Tür zurück. Seine Lippen bewegten sich ohne Pause, es gab viel, über das der alte Mann fluchen konnte. Das Wetter war ihm nicht genug, nicht mal bei einem Eissturm, die Welt und ihre Menschen reichten für seine Lästereien nicht aus. In der Hütte war jemand, den er ansprechen und beschimpfen konnte, und das wollte er tun, während er Holz ins Feuer legte.
Die Pritsche, die dem Hausherrn als Bett diente, war das grösste Möbelstück in dem Raum. Darin lag ein anderer Mann, ebenso alt, vielleicht älter als der Suderer Sepp. Er sah schweigend zu, wie die Tür zugeschlagen wurde und das Holz vor dem Kamin zu Boden fiel.
„Du bist ein alter Narr“, knurrte der Sepp während er in die Knie ging. „Wieso kommst du ausgerechnet zu mir? Ich lege keinen Wert auf Besuch, auch nicht von dir.“
„Du hast mir das Leben gerettet“, sagte Laubner.
Der Suderer Sepp knurrte etwas unverständliches. Eine Weile herrschte in der Stube Schweigen. Das Feuer bekam neue Nahrung.
„Danke“, sagte Laubner.
„Scheiss auf danke. Von mir aus hättest du verrecken können, Laubner. Was willst du hier?“
„Ich will die Schweinderl sehen.“
Der Sepp sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, den Kopf ein wenig schräg gelegt. Es war ein argwöhnischer Blick, dem Laubner mit einem Lächeln begegnete.
„Schweinderl.“
Der Sepp schüttelte den Kop, griff sich ein Scheit und legte es in Feuer. Er murmelte etwas von einer Welt voller verrückter, alter Knacker.
„Die Schweinderl“, sagte Laubner beharrlich. „Kann ich sie sehen. Woher hast du sie?“
„Vom Osterhasen.“
„Wie alt sind sie?“
„Wie alt bist du?“
„Sepp…“
„Wenn du mich fragst bist du senil.“
Der Suderer Sepp hängte seinen Kessel über das Feuer. Zum Kochen hatte er diesen Kessel und eine alte Pfanne, mehr brauchte er nicht. Er goss Wasser hinein. Laubner sah ihm zu und hörte den Sepp irgendwas von alten Säcken murmeln, die nicht mal merkten, wenn sie den Verstand verloren, während er zu seinem Vorratskasten schlurfte.
Den Laubner schien er vergessen zu haben, wenigstens für den Augenblick. Er knurrte etwas von Kaninchenfutter und Salzhändlern. Was er aus dem Kasten holte wurde in den Kessel geworfen. Der Suderer Sepp machte sich nicht die Mühe zu schälen und zu schneiden. Laubner überlegte, wie der Alte seine Schweinderl wohl fütterte.
„Wir könnten dir helfen, meine Frau und ich“, sagte er nachdenklich. „Du wirst eine Menge Futter brauchen.“
„Für was?“
„Für was schon? Für die Schweinderl.“
„Wenn ich Schweinderl hätte würde ich sie schlachten und nicht füttern.“
„Du darfst sie nicht schlachten“, widersprach Laubner entschieden. „Ich meine: du darfst sie noch nicht schlachten, und nicht alle.“
Der Sepp lachte. Es war ein hässliches Lachen, ohne Freude. Er ging zu dem Kasten zurück und holte das Salzsäckchen. Laubner wartete einen Moment. Er wollte mit dem Suderer Sepp vernünftig reden. Dazu brauchte man Geduld, das wusste er.
„Sepp, ist dir eigentlich klar was das bedeutet?“
„Überhaupt nicht“, lautete die Antwort. „Und weisst du was? Ich will’s nicht wissen.“
„Aber du musst wissen was du tun musst. So wie früher. Erst musst du züchten, dann kannst du schlachten. Wir werden dir alle helfen, Sepp, alle rund um den Kogel.“
Für einen Moment sah der Sepp nachdenklich aus, dann kam er wohl zu dem Schluss, dass Laubner entweder senil war oder im Sturm den Verstand verloren hatte. Sobald der Alte wieder auf den Beinen war, würde er ihn zurückschicken. Bis dahin sollte er faseln was er wollte. Tatsächlich hatte Laubner noch einiges zu sagen, das war ihm anzusehen.
Sepps Schweigen konnte er nicht einordnen, deshalb überlegte er sich sehr genau was er sagte. Er kannte den Suderer Sepp gut genug um zu wissen, dass ihm so ziemlich alles egal war, was mit anderen zu tun hatte. Die Vergangenheit war ihm ebenso gleichgültig wie die Zukunft, und mit der Gegenwart konnte er nichts anfangen.
Laubner hatte einen schlimmen Gedanken, den er nicht verwerfen konnte. Der Sepp hatte die Schweinderl bereits geschlachtet. Er war dabei das Fleisch zu selchen. Er kühlte es irgendwo, und wenn Laubner nicht so unerwartet und unter diesen Umständen aufgetaucht wäre, hätte sich der Sepp heute keine Suppe gekocht, sondern einen Braten auf den Spiess gesteckt. Dem Suderer Sepp war alles zuzutrauen. Der Laubner musste damit rechnen, dass der Sepp ihn rauswarf, wenn er ihm auf die Nerven ging.
„Sag doch mal was dazu“, wagte Laubner schliesslich zu bitten.
Der Sepp grunzte. „Deine Frau wird sich Sorgen machen.“
„Bestimmt. Aber sie weiss wohin ich gegangen bin.“
„Taucht sie auch noch hier auf?“
„Sie wird auf mich warten“, antwortete Laubner.
„Immerhin etwas. Was sagt sie zu deinem Gefasel?“
Darauf antwortete Laubner nicht. „Ich will die Schweinderl sehen“, sagte er wieder. „Deshalb hab’ ich überhaupt durchhalten können. Ich will die Schweinderl sehen. Was du damit machst ist eh deine Sache, da kann dir keiner dreinreden. Wir sollten darüber reden, finde ich, wenigstens wir beide. Vielleicht verrätst du mir woher du sie hast. Gibt es da noch mehr? Wird es wieder welche geben?“ Laubner schluckte und sah den Sepp an, als wären sie die besten Freunde. „Sepp, ich will die Schweinderl sehen. Deshalb bin ich hergekommen.“
Der Sepp wusste nicht, was er sagen sollte, und diesmal war das gut. Laubner versuchte zu erraten, was in dem Alten vorging. Wenigstens sah es so aus, als ob er Laubners Wunsch ernst nahm. Er nahm Laubner ernst, aber auf seine Weise.
„Ich bin froh, dass du’s geschafft hast.“ So freundlich hatte der Suderer Sepp noch nie geklungen. Und es klang ehrlich.
Laubner antwortete mit einem dankbaren Blick, dann sagte er: „Ich bin froh, dass du mich gerettet hast. Das werde ich dir nie vergessen.“
„Ich hab’ nur die Tür aufgemacht“, knurrte Sepp, „für den Rest kann ich nichts.“
Laubner lachte. Auch das klang ehrlich. Zwischen dem Suderer Sepp und dem Laubner hatte sich etwas verändert. Es sollte reichen um ganz offen über die Schweinderl zu sprechen. Laubner sprach davon, die Ställe rund um den Kogel mit Schweinderl zu bevölkern. Er malte ein Zukunftsbild, in dem der Suderer Sepp wie kein anderer glänzte.
Der hörte geduldig zu. Er sah Laubner wohlwollend an. Er seufzte, dann wurde sein Blick ernst. Er sah aus wie einer, der erst vor kurzem drei Schweinderl geschlachtet hatte, ehe Laubner sie sehen konnte. Er räusperte sich und sagte: „Laubner, es gibt keine Schweinderl. Nicht bei mir.“
Laubner nahm sich zusammen, um nicht von der Pritsche zu springen und sich auf den Sepp zu stürzen. Er nahm sich zusammen, um den Sepp nicht zusammen zu schlagen. Er nahm sich zusammen und schaute dem Sepp direkt in die Augen, als könnten sie wirklich jemals Freunde gewesen sein.
„Wo hast du sie hergeholt?“
Das war die beste Frage, die Laubner stellen konnte, und er schaffte es, sie ganz ohne jeden Anklang von Vorwurf auszusprechen.
„Es gibt keine Schweinderl.“
Das klang wie eine Beschwörung. Es klang wie eine Unschuldsbehauptung vor einem Richter.
„Es hat nie welche gegeben“, sagte der Sepp.
Laubner musste sich sehr zusammen nehmen.
„Laubner, woher soll ich denn Schweinderl haben? Wer hat dir denn sowas erzählt?“
„Meine Frau.“
„Und wie kommt die auf sowas?“
Das war die beste Frage, die Sepp stellen konnte, und er schaffte es, sie ganz ohne jeden Anklang von Vorwurf auszusprechen. Laubner seufzte, wie er selten in seinem Leben geseufzt hatte.
„Die Bausinger hat’s ihr gesagt.“
„Das Mariandl?“ Diesmal klang die Frage vorwurfsvoll und etwas un-gläubig.
„Sie hat ihr gesagt sie ist dir begegnet, mit drei Schweinderl auf dem Karren.“
„Karren? Laubner, ich habe keinen Karren. Ich ziehe keine Karren durch die Gegend, nie. Und Schweinderl hab’ ich nie gehabt. Als ich an den Kogel gekommen bin, hat es schon keine mehr gegeben.“
Das klang ehrlich. Laubner kam sich vor wie ein Trottel. Er sagte nichts. Er löste seinen Blick von Sepps Augen und schaute zu Boden. Den Suderer Sepp hielt er für glaubwürdiger als das Mariandl.
„Du bist ein Trottel“, sagte Sepp, „und ich bin wirklich froh, dass du nicht draufgegangen bist. Ich hätt`s deiner Frau sagen müssen. Vielleicht hätte ich sogar deinen Kadaver um den Kogel schleppen müssen. So muss ich dich nur aufpäppeln, und du bist ein zäher Hund.“
„Es gibt keine Hund mehr“, erinnerte Laubner grinsend, „jedenfalls nicht auf diesem Kontinent.“