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Schwein gehabt
Psychiatrie Waldsaum, 28.April 2020, kurz nach Mitternacht. Holzi blickt vom Aufenthaltsraum der Pflege auf die gegenüberliegende Glastür, die Tür ist abgeschlossen. Gelbes Neonlicht bestrahlt das Schild mit der Aufschrift Station 6 neben der Tür an der Wand. Die Tür ist geschmückt mit Plakaten mit maskierten Smileys sowie der Aufschrift Wir schenken Ihnen ein Lächeln. Holzi zückt sein Handy und kontrolliert die Uhrzeit. Im Gruppenchat Der Coup blinken mehrere Kleeblätter auf. Zeit für den Rundgang, Zeit für den Coup. Schweiß glänzt auf in seinem roten Bart und auf dem pinken Schwein auf seinem Stiernacken. Er tippt sich, wie ein Gläubiger, der um einen Segen bittet, auf das Tattoo. Eine kleine Blondine mit großen grünen Augen schließt die Tür auf und betritt den Aufenthaltsraum. Sie hat eine Fluppe in der Hand, das Feuerzeug von minderer Qualität in der anderen. Eine Woge aus erkaltetem Rauch sowie dem typischen Flurgeruch, Desinfektionsmittel gemischt mit ungeschwaschenem Mensch, schlägt ihm entgegen.
„Holzi, ist es okay für dich, wenn du den Rundgang machst? Ich würde gerne mit Anne eine rauchen und dann den zweiten Rundgang übernehmen.“
„Ja klar, das wollte ich auch vorschlagen. Ich mache lieber den ersten Rundgang und chille danach.“ Nervös fährt er sich über den Hinterkopf und späht auf den Ironman-Rucksack unter dem Schreibtisch. Das hat sich von alleine geregelt.
„Ja super.“ Die Blondine lächelt, dreht sich um und läuft Richtung Raucherbalkon.
Er steht auf, schluckt, sodass sich sein Adamsapfel bewegt und beginnt seinen Rundgang in dem halbdunklen Gang. Er geht von Patiententür zu Patiententür, öffnet diese, späht hinein. Auf einem Klemmbrett hakt er ab, ob die Leute schlafen, wach sind oder gar nicht im Bett liegen. Auf dem Flur hört er das Getuschel von Anne und Sabine.
„Mal wieder einen Horrorfilm während der Nachtschicht schauen? Damit der Puls richtig hoch geht?“
„Au ja. Mir wurde Saw empfohlen.“
Holzi grinst melancholisch. Mein Puls ist bereits erhöht, dafür benötige ich keinen Horrorfilm. Lediglich eine Pandemie, leer gekaufte Desinfektionsmittel und eine Asthmakranke Mutter. Er denkt an die Kleeblätter im Gruppenchat. Eins ist von Mutti.
Er arbeitet sich durch die Zimmer. Noch ein Patientenzimmer, dann kommt der Raum. Schnell, bevor die beiden fertig sind mit Rauchen und mich erwischen. Das nächste Zimmer. Tür auf, Blick hineinwerfen, Patienten abharken und die Tür wieder leise schließen. Ein paar Schritte weiter und er steht vor einem Schild einer schmucklosen weißen Tür. Holzi wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht - ein feuchter Film bleibt zurück. Er blickt sich hastig um, kein Patient auf Wanderschaft und viel wichtiger, kein Kollege in der Nähe. Er greift in die Hosentasche, holt den Schlüssel hervor und steckt ihn ins Schloss. Er dreht und der Schlüssel klemmt. Holzi dröhnt das Lachen vom Raucherbalkon in den Ohren. Mit Kraft zerrt er am Schloss, er rotiert den ganzen Arm aus der Schulter heraus. Mit einem Ruck gibt das Schloss nach und er stolpert in den Raum und beginnt wieder zu atmen. In Regalen sind Schachteln, Kisten und Kanister in unterschiedlicher Farbe und Größe gelagert. Zielstrebig geht Holzi zum Regal in der Ecke links hinten. Er greift in eine Schachtel und holt ein Bündel FFP2-Masken heraus. Hastig stopft er sie in die Hosentasche. Er atmet aus. Dieser Teil ist geschafft. Auf dem untersten Brett stehen kleine, quadratische Kanister in hellblauer Farbe: Desinfektionsmittel. Er greift nach ihnen so vorsichtig, als würde er eine heilige Reliquie berühren, und klemmt sich drei Kanister unter den linken Arm. Geschafft! Jetzt nur noch zurück zum Aufenthaltsraum und alles im Ironman Rucksack verstauen. Unbemerkt. Dann bin ich auch ein Ironman. Er geht zur Tür und presst das Ohr an das Holz. Undeutliches Lachen vom Ende des Flurs, ansonsten ist alles ruhig. Holzi holt tief Luft, spannt seinen Rücken an, macht das Licht aus und die Tür auf. Mit einem großen Schritt tritt er über die Schwelle.
Vorsichtig, mit dem Oberkörper seine Beute bedeckend, schleicht Holzi über den Flur. Einen Schritt nach dem anderen, noch vier Türen, dann bin ich wieder im Aufenthaltsraum und alles ist geschafft. Die erste Tür. Ein Strichmännchen deutet die Toilettentür an, auf dem Schild neben dran steht Personaltoilette Herren. Holzi stockt in seinem vorsichtigen Gang. Soll ich auch noch Klopapier mitgehen lassen? Nein, heute nicht. Außerdem gibt’s das noch im Supermarkt. Hoffentlich. Er schleicht weiter. Noch zwei Patientenzimmer, dann der Fernsehraum, dann habe ich es geschafft. Im gedimpten Licht schlürft ihm eine Gestalt entgegen. Aus der Ferne sieht sie aus wie ein Wichtel mit Rauschebaart, wirrem Haar und O-Beinen. Herr H., der Obdachlose, der nicht aus der U-Bahn aussteigen wollte und hierhergebracht wurde. Holzi schluckt, beschleunigt seinen Schritt. Er hält auf den Patienten zu, an den beiden Patientenzimmern vorbei und biegt scharf links ab in den Fernsehraum. Der Fernsehraum ist duster, dumpfes Licht dringt von Sternen und Laternen durch die Fenster in den Raum. Im Halbdunkel stehen drei Sofas um einen Flachbildfernseher. Holzi atmet aus.
Auf dem Sofa rührt sich etwas. Wildes um sich schlagen und Gemurmel. Holzis Herz setzt einen Schlag aus. Adrenalin rauscht durch seine Adern, als er sich dem Sofa nähert. Blondierte Haare und ein Mantel mit Leopardenprint - es ist Frau K. Mit geschlossenen Augen schlägt sie um sich. Ein Schweißtropfen löst sich von seinem Kinn. Holzi macht auf dem Absatz kehrt und schleicht zurück zur Tür. Als er den Raum verlässt richtet sich Frau K. auf, schlägt die Augen auf und schaut ihm hinterher. Er beeilt sich, erreicht den Aufenthaltsraum der Pflege und verstaut seine Beute im Ironman Rucksack.
Drei Sekunden später kommt Anne wieder rein. Der Duft nach frischem Zigarettenrauch umgibt sie.
„Alles gut gelaufen beim Rundgang?“
„Ja. Herr H. und Frau K. waren nicht im Bett, der Rest sieht gut aus.“ Holzi fläzt sich auf dem Drehstuhl, die gesamte Anspannung fällt von ihm ab.
Am übernächsten Tag kommt Schwester Anne mit einem breiten Grinsen auf Holzi zu.
„Frau K. brabbelt die ganze Zeit davon, dass du ein Dieb bist.“
„Was soll ich denn gestohlen haben? Ihr Herz?“
„Das habe ich sie auch gefragt, aber sie sagte, es wären Kanister. Sie ist noch wahnhaft.“
Holzis Herz rast. Schwein gehabt.