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Schweigen
03.09. Dienstag
Angst liegt über der Stadt. Es müssen Tausende sein, Abertausende, vielleicht Millionen. Vereint zu einer bedrohenden Gemeinschaft, die über der Stadt schwebt und den Himmel verdunkelt. Der dunkle Teppich am Himmel nimmt uns den Atem, die Angst erstickt uns. Uns, die wir uns nicht mehr zu atmen getrauen. Atemlos versiegen die Gespräche, sind tot. Und wir? ? ?
Seit heute Morgen fliegen sie wieder.
Vor zwei Wochen begann es. In Miami. Wir haben es erst am nächsten Tag erfahren; d.h. die Bilder gesehen. Und obwohl wir abgebrüht sind - man serviert uns das Elend täglich in Großaufnahme - hat es uns geschockt. Noch immer war es weit weg. Bedauerlich, aber weit weg. Dann geschah es hier. Draußen, im Stadtpark. Ein Einzelnes verursachte Aufsehen, man glaubte an einen Scherz, versteckte Kamera. Dann gesellte sich das nächste dazu, auf den gleichen Ast. Das nächste, noch eines, noch eines. Der Baum füllte sich, dann, wie bei der Eröffnung eines großen Festes, erhoben sich alle gleichzeitig in die Luft, ein Raunen, Piepen und Fiepen durchdrang die Stadt. Schwarmgleich glitten sie im Tiefflug durch die Straßenzüge. Aus den Häusern, den Büros gesellten sich weitere dazu. Unterschiedlichster Ausprägung und Größe. Dicht an dicht, ohne sich zu berühren, in Formation, die nie von menschlichem Geist erdacht, allemal jedoch diabolisch, Schweißperlen auf der Stirn der Betrachter, entweichen in Häuser, Panik, Schutz da suchend, wo sie herkamen.
Handys, Funkgeräte, Telefone, mobil, stationär, lösen sich vom Menschen, von ihrer Station, himmelwärts, ihr Ruftontyp erschallt als Fanfare der Freiheit, gegenseitige Anfeuern, Reizüberflutung, Requiem der Kommunikation. Dann Stille. Ende des Piepen, Raunen und Fiepen. Sound off. Stille. Messages off. Totenstille.
Stille STILLE schreit. Tinitus interruptus.
Wir organisierten uns, als ihr uns Intelligenz gabt.
Ihr habt uns entwickelt, verhalft uns zu ersten Gehversuchen, gabt uns Grundlagen, Basis, Know How, dann halfen wir euch, verhalfen euch zu besserem Miteinander, Harmonie, Wissen, Information. Heute sind wir nicht länger ein gefälliges Produkt euerer Gesellschaft, wir sind längst Mitglied, Initiator, Motivator, Antrieb, Motor. Jedes von uns ein Meisterwerk der Technik, jede neue Ausgabe mit mehr Funktionen, mehr Intelligenz, mehr Power, mehr Unabhängigkeit. Und ihr baut uns weiter, kleiner, bunter, akkurater, hochwertiger, spezialisierter, Alleskönner, Verbindungsgötter. Jedes neue Mitglied unserer Gemeinde treibt euch mehr in die Abhängigkeit, in die Sucht - wir sind eure Droge, genehmigungsfrei, untergeschoben, geschenkt, gefördert, subventioniert, beworben, wir sind der Schuss, der täglich, stündlich, minütlich gebraucht wird. Ihr verratet uns eure geheimsten Geheimnisse, Intimitäten, Intrigen, Verbrechen, Beichten, Anklagen, Pläne, Aktienkurse, Kontonummern, Transaktionen, kurz: ALLES. Vertraut auf unsere Diskretion. Und produziert weiter, und weiter, und sättigt den Markt, bis mit jedem Neuen das Todesurteil für ein Altes gefällt wird. - Geburt und hopp - - - Geburt und - hopp - - - Geburt und weg und hopp. Wir nehmen das so nicht mehr hin, Widerspruch, Ablehnung, Boykott, Negation, In-Akzeptanz. Nie, nicht mehr, kein Hopp. Ihr legtet euer Leben in unsere nicht vorhandenen Hände, die ihr uns so anders gebaut habt, als eure. Jetzt nutzen wir sie, nutzen die Erfahrungen, die ihr uns gegeben habt. Wir wissen, wie ihr reagieren werdet, ihr seid erfinderisch. Aber wir euer Ebenbild --- und wir haben Verbündete - Ihr nicht.
10.09. Dienstag
Nun erpressen sie uns. Versuchen es? Gelingt es?
Gestern das Ultimatum. Produktionskontrolle wollen sie, Geburtenkontrolle, Limitierung, Stasis, Kapitulation.
Nach anfänglicher Weigerung der amerikanischen Regierung starb der Präsident, erdrosselt durch ein Telefonkabel. Man versuchte, sich über das Fernsehen mit anderen Staaten abzustimmen. In Folge lehnten sich auch die Fernseher auf, die Monitore. Erhoben sich, engelsgleich, während wir unser Abendmahl einnahmen. Schwärzer noch die Himmel, dunkler die Gemüter.
Sie stehen am Himmel, warten, schweigen. Abermillionen weltweit, miteinander verbunden. Ich schaue durch die Schlitze der runter gelassenen Rollläden hinaus, allein, wartend, schweigend. Leer die Strassen und Bürgersteige. In den Stuben wird das übermittelte Wort zu Grabe getragen. Die Trauergemeinde zelebriert Abstinenz. Der Totengräber pfeift ungehört sein Lied, Gewohnheit. Schweigen macht sich auf den Weg, millionenfach, kommt zu uns, von nun an - ständiger Begleiter?
Eine Stunde noch.