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Schweigen

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25.05.2002
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Schweigen

03.09. Dienstag
Angst liegt über der Stadt. Es müssen Tausende sein, Abertausende, vielleicht Millionen. Vereint zu einer bedrohenden Gemeinschaft, die über der Stadt schwebt und den Himmel verdunkelt. Der dunkle Teppich am Himmel nimmt uns den Atem, die Angst erstickt uns. Uns, die wir uns nicht mehr zu atmen getrauen. Atemlos versiegen die Gespräche, sind tot. Und wir? ? ?

Seit heute Morgen fliegen sie wieder.

Vor zwei Wochen begann es. In Miami. Wir haben es erst am nächsten Tag erfahren; d.h. die Bilder gesehen. Und obwohl wir abgebrüht sind - man serviert uns das Elend täglich in Großaufnahme - hat es uns geschockt. Noch immer war es weit weg. Bedauerlich, aber weit weg. Dann geschah es hier. Draußen, im Stadtpark. Ein Einzelnes verursachte Aufsehen, man glaubte an einen Scherz, versteckte Kamera. Dann gesellte sich das nächste dazu, auf den gleichen Ast. Das nächste, noch eines, noch eines. Der Baum füllte sich, dann, wie bei der Eröffnung eines großen Festes, erhoben sich alle gleichzeitig in die Luft, ein Raunen, Piepen und Fiepen durchdrang die Stadt. Schwarmgleich glitten sie im Tiefflug durch die Straßenzüge. Aus den Häusern, den Büros gesellten sich weitere dazu. Unterschiedlichster Ausprägung und Größe. Dicht an dicht, ohne sich zu berühren, in Formation, die nie von menschlichem Geist erdacht, allemal jedoch diabolisch, Schweißperlen auf der Stirn der Betrachter, entweichen in Häuser, Panik, Schutz da suchend, wo sie herkamen.
Handys, Funkgeräte, Telefone, mobil, stationär, lösen sich vom Menschen, von ihrer Station, himmelwärts, ihr Ruftontyp erschallt als Fanfare der Freiheit, gegenseitige Anfeuern, Reizüberflutung, Requiem der Kommunikation. Dann Stille. Ende des Piepen, Raunen und Fiepen. Sound off. Stille. Messages off. Totenstille.

Stille STILLE schreit. Tinitus interruptus.


Wir organisierten uns, als ihr uns Intelligenz gabt.

Ihr habt uns entwickelt, verhalft uns zu ersten Gehversuchen, gabt uns Grundlagen, Basis, Know How, dann halfen wir euch, verhalfen euch zu besserem Miteinander, Harmonie, Wissen, Information. Heute sind wir nicht länger ein gefälliges Produkt euerer Gesellschaft, wir sind längst Mitglied, Initiator, Motivator, Antrieb, Motor. Jedes von uns ein Meisterwerk der Technik, jede neue Ausgabe mit mehr Funktionen, mehr Intelligenz, mehr Power, mehr Unabhängigkeit. Und ihr baut uns weiter, kleiner, bunter, akkurater, hochwertiger, spezialisierter, Alleskönner, Verbindungsgötter. Jedes neue Mitglied unserer Gemeinde treibt euch mehr in die Abhängigkeit, in die Sucht - wir sind eure Droge, genehmigungsfrei, untergeschoben, geschenkt, gefördert, subventioniert, beworben, wir sind der Schuss, der täglich, stündlich, minütlich gebraucht wird. Ihr verratet uns eure geheimsten Geheimnisse, Intimitäten, Intrigen, Verbrechen, Beichten, Anklagen, Pläne, Aktienkurse, Kontonummern, Transaktionen, kurz: ALLES. Vertraut auf unsere Diskretion. Und produziert weiter, und weiter, und sättigt den Markt, bis mit jedem Neuen das Todesurteil für ein Altes gefällt wird. - Geburt und hopp - - - Geburt und - hopp - - - Geburt und weg und hopp. Wir nehmen das so nicht mehr hin, Widerspruch, Ablehnung, Boykott, Negation, In-Akzeptanz. Nie, nicht mehr, kein Hopp. Ihr legtet euer Leben in unsere nicht vorhandenen Hände, die ihr uns so anders gebaut habt, als eure. Jetzt nutzen wir sie, nutzen die Erfahrungen, die ihr uns gegeben habt. Wir wissen, wie ihr reagieren werdet, ihr seid erfinderisch. Aber wir euer Ebenbild --- und wir haben Verbündete - Ihr nicht.

10.09. Dienstag
Nun erpressen sie uns. Versuchen es? Gelingt es?

Gestern das Ultimatum. Produktionskontrolle wollen sie, Geburtenkontrolle, Limitierung, Stasis, Kapitulation.

Nach anfänglicher Weigerung der amerikanischen Regierung starb der Präsident, erdrosselt durch ein Telefonkabel. Man versuchte, sich über das Fernsehen mit anderen Staaten abzustimmen. In Folge lehnten sich auch die Fernseher auf, die Monitore. Erhoben sich, engelsgleich, während wir unser Abendmahl einnahmen. Schwärzer noch die Himmel, dunkler die Gemüter.

Sie stehen am Himmel, warten, schweigen. Abermillionen weltweit, miteinander verbunden. Ich schaue durch die Schlitze der runter gelassenen Rollläden hinaus, allein, wartend, schweigend. Leer die Strassen und Bürgersteige. In den Stuben wird das übermittelte Wort zu Grabe getragen. Die Trauergemeinde zelebriert Abstinenz. Der Totengräber pfeift ungehört sein Lied, Gewohnheit. Schweigen macht sich auf den Weg, millionenfach, kommt zu uns, von nun an - ständiger Begleiter?
Eine Stunde noch.

 

Hallo bigmica!

Technik vs. Menschheit - auf die Idee muss man erst einmal kommen.
Klasse Geschichte. Etwas ungewöhnlich, surreal eben, und sie hat mir gut gefallen.
Treffende Wortwahl; liest sich sehr gut. Vor allem die Aufzählungen.
Ich fand den Text irgendwie mitreißend. Unvorhersehbar. Gelungen.
Und ein passendes Ende; hat etwas endgültiges...

Viele Grüße,
Michael :)

 

Hi bigmica,

muss Michael zustimmen. Deine Geschichte gehört für mich zu den Besseren im Challenge. Nicht abgehoben surreal - im Sinne, dass man für jedes Wort eine Interpretation suchen muss, dabei ein eigenwilliger, ungewöhnlicher Stil, der von den Aufzählungen geprägt ist (sie unterstreichen gut den mechanisch, technischen Aspekt der "Gegenseite"). Bei der Assoziation Engel - Abendmahl mußte ich schon grinsen. Das offene Ende gibt ihr das gewisse Etwas.

Kritik habe ich keine. Noch eins: Ein wenig hatte ich eine Szene aus "die Vögel" vor Augen. Absicht?

Gruß vom querkopp

 

Hi bigmica,

anfangs überlegte ich noch, was denn da durch die Luft fliegt und wieso das kursive in die Druckschrift wechselte.

Ich dachte dann an die Erfindung der Handys und mußte schmunzeln, dass Handys allein auf mörderische Wege abgleiten. Allerdings wurde mir dann bei dem Monolog der Technik (ich nenn es einfach mal so) klar, dass es sich um mehr als nur Handys handelte - um die Gesamtheit des Forschungswahnes.

Gefallen hat mir folgendes:

Geburt und hopp - - - Geburt und - hopp - - - Geburt und weg und hopp.

Es erinnert mich an die Trickverfilmung von Erich Kästners "Konferenz der Tiere", wo die Menschen eingesammelt werden und in Maschinen gesteckt werden die eine Uniformierung vornehmen.

Dieses dann empfand ich sprachlich als störend, als kitschig, albern:

Stopp dem Hopp.

Insgesamt bist Du dem Surrealismus gut auf die Füße getreten, die Idee ist gut, die Umsetzung ist interessant.

Mir gefällt das Einbauen des WTC - Drama's nicht, und somit auch der gesetzte zeitliche Aspekt nicht. Das empfinde ich als sehr störend. Liegt aber vielleicht auch an der momentanen Medienübersättigung zu diesem Thema.

Gruß,
BellaXela

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber BigMica!

Auch deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Man kann erkennen, dass der Challenge ein gewisses Niveau erreicht, dass mir sehr gut gefällt.
In deiner Geschichte sieht man beide Seiten der Münze. Zu wem soll man nun helfen? Wer ist der Schuldige? Wer sind die Opfer?
Auch die Gliederung gekoppelt mit dem Offenen Ende gefällt mir sehr.

Doch auch hier vermisse ich das surreale Element. Deine Geschichte hat Anleihen aus Sci-Fi oder ein paar fantastische Einschübe, jedoch richtig surreal finde ich sie nicht.
Zumindest nicht so, wie es als Challenge-Einleitung im Thread definiert wurde.

Tolle, allerdings "unsurreale" Geschichte,

Liebe Grüße aus Wien, Peter Hrubi

 

erstmal euch allen vielen dank für eure positiven und konstruktiven resonanzen.

@querkopp
nö, keine szene von die vögel im sinn gehabt, aber wo du es jetzt sagst... könnte man sich vorstellen.

@Bella_Xela
"monolog der technik" - supergeile bezeichnung des mittleren Teils
bzgl. "stopp dem hopp" gebe ich dir völlig recht, da bin ich entgleist. habe es sofort editiert.
das mit dem wtc -als einschub- sehe ich nicht so störend, allerdings stimmt es, dass dadurch ein zeitlicher aspekt gesetzt wird und das ist eigentlich nicht meine absicht. denke noch darüber nach, vielleicht erhalte ich noch eine weitere meinung dazu. habe noch viel zeit zum ändern.

@Peter Hrubi
fühle mich geschmeichelt wie du das niveau ansprichst. danke.
mich erstaunt, dass du ein surreales element vermisst. gehören in wien fliegende handys, fernseher, monitore zum stadtbild? ;)
ich war mir, ehrlich gesagt, beim schreiben ein wenig unsicher welches mass an surrealität angemessen ist. dachte, dass mehr surreales in dieser geschichte aufgezwungen erscheinen und die wirkung nehmen würde.

cu bigmica

 

@ Bigmica

Surrealität ist nicht das Gegenteil der Wirklichkeit. Es hat nichts mit fantastischen oder erfundenen Szenarien zu tun. Eine Beschreibung der Wirklichkeit kann viel surrealer sein, als eine Elfe die von mutierten Außerirdischen in Edmund Stoiber verwandelt wird. Zumindest ist das mein Empfinden. Es geht um die surreale Erzählweise, denke ich.

Trotzdem, gute Geschichte!
P.H.

 

hi Bicmica

Mir hat die Geschichte auch sehr gut gefallen.
Was mir aufgefallen ist oder mich gestört hat wurde in den vorangegangenen Antworten schon erwähnt, deshalb will ich es nicht wiederholen.

Du wolltest aber noch eine Meinung zum WTC. Ich finde auch, dass die Geschichte ohne Erwähnung des WTC stimmiger wäre. Man muss den konkreten Vorfall nicht erwähnen, Du könntest es auch umschreiben, in der Art:
"Und obwohl wir abgebrüht sind, durch die täglichen Kriegs- und Terrorbilder in den Nachrichten, hat es uns geschockt"
Aber ich will nicht übertreiben, wie gesagt, mir gefällt Deine Geschichte sehr gut.

MFG
lunaluna

 

@Peter Hrubi
teile nicht ganz deine meinung. es geht nicht allein um die surreale erzählweise , es kann genauso gut der surreale inhalt sein.
aber da scheinen die meinungen allgemein sehr unterschiedlich zu sein, wenn man sich die beiträge und die kommentare im challenge anschaut.
zu deiner bemerkung über die surreale entstehung von stoiber: ach, ist der anders entstanden? ;)

@lunaluna
danke für´s lesen und deine meinung, die mir den anstoß gegeben hat, den wtc zu entfernen. habe allerdings aus schriftstellerischem stolz nicht deine formulierung übernommen, obwohl okay. so ist die geschichte "zeozlos" geworden.
cu bigmica

 

Hallo bigmica,

die Idee Technik vs. Menschen ist nicht neu. Um so höher ist zu bewerten, daß Du diesen Konflikt ganz eigenständig neu beschreibst. Das Informiert- Sein, das wir Menschen unseren Gegnern ermöglicht haben und sich gegen uns wendet, ist ein gelungener , tragischer Aspekt.
Die WTC- Stelle würde ich auch ändern.
Der Surrealismus – Einwand von Peter ist schon gerechtfertigt. Surrealistische Literatur grenzt sich von SF und Fantasy durch den psychischen Ursprung der Surrealität ab (dies ist natürlich oft schwer definierbar). Formal führt die Beziehung zur Psyche zu oft schwer verständlichen Texten, da Elemente der Traumdeutung (Symbolik) nicht leicht zu entschlüsseln sind. Deshalb sollte so ein Text seine eigene Auslegung enthalten, das Lesevergnügen besteht dann auch darin, diese Inhalte zu entschlüsseln.

Also - egal wie oder was... ein schöner Text!

Tschüß... Woltochinon

 

hey woltochinon,

danke fürs lesen und deinen kommentar. es stimmt schon, dass das entschlüsseln der inhalte vergnügen bereitet und surreale texte oft(?), meist schwer verständlich sind. aber muss das sein? ist es unabdingbar? ist surrealität strikt an die psyche zu koppeln? wenn ja, hab ich das thema verfehlt. setzen, sechs. mist.

trotzdem vielen dank für das positive urteil zur geschichte an sich.
cu bigmica

aber wo ist eigentlich der psychische ursprung beim kübelreiter?

 

Hi bigmica!

Auch mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen.

Ich lese, Du wolltest die Stelle mit dem WTC wegnehmen, aber andeutungsweise ist sie immer noch da, wenn auch nicht direkt benannt. Vielleicht fällt Dir ja noch was ganz anderes ein... Es irritiert.

Die Frage, ob surreal oder nicht: Doch, wenn ich es als Angst(traum) lese. Natürlich kann ich es auch nichtsurreal, als SF lesen. Vielleicht könntest Du ja noch ein bisschen in die Richtung Angst/Traum(a) arbeiten, sodaß man es nicht mit SF verwechseln kann?

Aber auch so eine sehr gute Geschichte!

Alles liebe
Susi

 

Hi Häferl,

hab lang nix von mir hören lassen, weil ich urlaub hatte.
weiss nicht so recht, wie ich der geschichte mehr richtung surrealismus geben soll, statt sf. das ganze symbolhafter als traum zu verpacken gefällt mir irgendwie nicht - empfände es dann als krampfhaft surrealen stempel aufdrücken. werde wohl der jury überlassen der geschichte den gnadenstoss zu versetzen. ;)

bzgl. wtc war ich der meinung, es sei weg. habe jetzt vorsichtshalber aus new york ne andere stadt gemacht. wer dann noch den wtc erkennt, ist ein al-quaida-sympathisant und wird von mir ignoriert. :D
danke übrigens fürs lesen und deine hinweise.
cu bigmica

 

Hallo bigmica,

nachdem du deinen Kommentar zu meiner Geschichte abgegeben hast, mach ich das gleiche mal bei deiner.

Hat mir gefallen. Sie war schön deprimierend, und es gab im letzten Teil einen Satz, den ich einfach wegen seiner Formulierung als schön empfand:

Erhoben sich, engelsgleich, während wir unser Abendmahl einnahmen. Schwärzer noch die Himmel, dunkler die Gemüter.

Mir ist deine Geschichte allerdings auch nicht wirklich surreal genug sondern ich sehe sie als SF. Wer sagt denn, dass Handys eines Tages nicht mal Intelligenz entwickeln und sich selber fortbewegen können? Bzw. dass diese Fähigkeiten ihnen von Menschen gegeben werden? Es gibt schon Versuche, mit bestimmten Hirnströmen in Computern bestimmte Reaktionen auszulösen (z.B. Mauszeiger bewegen). Heute musst du dafür in ein Labor und an zehntausend Kabel angeschlossen werden, aber es funktioniert. Kann sich ja weiterentwickeln - mach dir ein Implantat in deinen Kopf, der die zehntausend Kabel ersetzt und mach einen Empfänger in dein "Handy" sowie die Möglichkeit, sich zu bewegen (auch Antigravitation wird momentan von der NASA erforscht!) und schon hast du fliegende Handys. Und noch dazu künstlich erzeugte und die Bequemlichkeit ins Unermessliche steigernde Telekinese. Und dass Computer immer "intelligenter" werden und irgendwann vielleicht tatsächlich denken - naja, wieso nicht? Daran glaub ich noch mehr als an meine Variante der fliegenden Handys.

Was ich damit sagen will: eigentlich ist deine Geschichte Science Fiction. Aber leider gibst du mit dem zu deutlichen WTC-Bezug einen Zeitrahmen vor, so dass ich nicht sagen kann, die Geschichte spielt in der Zukunft.

Abgesehen davon hat es mir Spaß gemacht, dein Werk zu lesen und es ist eine schöne Warnung vor zuviel Technisierung unserer Welt.

Gruß,
Mario

 

hey Mario D.,

sorry, dass ich deinen kommentar erst so spät beantworte, war mir irgendwie durch die lappen gegangen. freut mich, dass sie dir gefallen hat, meine geschichte incl. der genannten formulierung, bei der ich mir nicht sicher war, ob sie verstanden wird. aber offensichtlich schon.

deine erklärung, warum du meinen text als sf siehst hat einiges für sich. anderseits könnte man wahrscheinlich fast alles so darstellen, dass es in der zukunft aufgrund vorhandener, weiterentwickelter tendenzen technisch (oder psychologisch) realisierbar sein könnte. inzwischen vertrete ich, wenn ich mich mit mir unterhalte, die meinung, dass man eigentlich beim surrealen unterscheiden müsste zwischen hard-surreal und soft-surreal, denn beide formen haben eine daseinsberechtigung, nur sehr stark unterschiedliche ausprägungen.
hoffe, die jury kommt irgendwann auf den trichter und unterteilt in zwei kategorien, und sieht mich dann in der soft-kategorie vorn :D :D

mit dem wtc krieg ich noch die krise. wo ist denn jetzt noch ein bezug dazu da (wenn man nicht durch das lesen der kommentare darauf gestoßen wird) ??? :confused:
thx + cu bigmica

 

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