- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Schwarzweissgrau
Er macht den ersten Zug, zieht mit dem Bauer. Ich tue dasselbe.
Er zieht mit dem Läufer drei Felder vor, ich bewege mein Pferd.
Wieder setzt er seinen Bauern ein Feld weiter, entscheidet sich aber dann doch wieder anders und stellt ihn zurück an die Stelle, an der ursprünglich sein Läufer gestanden hatte. Dass die Figur dort nicht stehen dürfte, weiss ich. Aber ich sage nichts.
Als ich an die Tür seines Zimmers geklopft hatte, um ihn zu besuchen, vernahm ich nur ein undeutliches Murmeln. Seine Stimme war leiser geworden, viel leiser noch als vor einem halben Jahr, als ich ihn kennen gelernt hatte. Heute verstehe ich oftmals kaum mehr, was er mir zu sagen versucht.
Die nächsten Züge spielt er schnell. Die Eröffnung gelingt ihm gut, ich entdecke keinen Angriffspunkt. Da ich mich aber auch keiner direkten Gefahr ausgesetzt fühle, ziehe ich angriffslustig mit einem der Bauern ein Feld vor. Er zieht mit seinem Läufer in das Feld schräg vor meinem Bauer. Mein Bauer schlägt seinen Läufer. Ob er denn das nicht gesehen hätte, könnte ich ihn fragen. Wieso er so einen unüberlegten Zug ausführt, könnte ich ihn fragen. Aber ich sage nichts.
Als ich vorhin in sein Zimmer kam, da sass er auf dem Bett und begrüsste mich freundlich. Neben ihm auf dem Kopfkissen lag ein aufgeschlagenes Buch, darin abgebildet eine Partie Schach, nur noch wenige Figuren im Spiel. Auf dem kleinen Tisch auf der anderen Seite des Zimmers stand sein eigenes Brett, hölzern und mit einem Kaffeefleck drauf. Die kleinen und liebevoll gestalteten Figuren standen in Reih und Glied aufgestellt, als wollten sie einen auffordern, sie zu benützen. Ich fragte ihn, ob er eine Partie würde spielen wollen und er erhob sich und ging langsamen und unsicheren Schrittes an den Tisch.
Er schlägt eines meiner Pferde. Ich ärgere mich kurz über den Verlust, die Figur wäre wichtig gewesen für die Umsetzung meiner Strategie. Auf seine Strategie hingegen bin ich noch nicht gekommen. Ich zweifle langsam daran, dass er überhaupt eine hat, seine Figuren bewegt er oft ins Leere. Ich ziehe mit meinem anderen Pferd, schlage einen Bauer. Er bewegt seine Dame diagonal über die weissen Felder, zu stehen kommt sie auf einem schwarzen. Dass er den Zug so nicht ausführen dürfte, weiß ich. Aber ich sage nichts.
Wir setzten uns an den Tisch, Er eröffnete die Partie. Schach ist seine Leidenschaft. Auf dem Tisch, neben dem Brett, lagen zwei Schachbücher, ein weiteres auf dem Nachttisch. Als wir uns vor einem halben Jahr kennen gelernt hatten, hatte er mir einiges von sich erzählt. Er war über fünfzig Jahre Mitglied im Schachklub gewesen, spielte für sein Leben gerne das Spiel der Könige. Einmal, so erzählte er mir, schlug er sogar den damals viertbesten Spieler der Welt.
Ich schlage seinen zweiten Läufer mit einem Turm, sein König steht im Schach. Er zieht mit dem König. Ich ziehe mit dem zweiten Turm nach, sodass seine Figur weiter an den Rand gedrängt wird. Drei Züge später fällt sie. Das Spiel ist zu Ende, er sagt, er hätte von Anfang an schon schlecht gespielt. Ich probiere, ihn etwas aufzumuntern, aber er frägt nur müde ob ich eine weitere Partie spielen möchte. „Ein anderes Mal vielleicht wieder“, antworte ich und er schaut gedankenversunken auf das Brett. Ich hoffe insgeheim, dass er wenigstens Freude daran zeigt, wieder einmal Schach gespielt zu haben, mich kurz anlächelt oder etwas sagt.
Aber er sagt nichts.