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Schwarzweiße Kunst
Fetzige Musik dröhnte durch die großen Lautsprecher. Tiefe Bässe wummerten wie Dampfhämmer. Junge Männer und Frauen zuckten rhythmisch zu den wilden Klängen. Auf der Tanzfläche drängelten sich die schwitzenden Leiber. Kein Wunder, das war der angesagteste Nachtklub der Stadt.
Martin hatte endgültig genug von dem Trubel. Schweißüberströmt ließ er seine Partnerin stehen und zuckte nur entschuldigend mit den Schultern, schließlich kannte er sie ohnehin kaum. Dann schlängelte er sich durch die dichte Menge zur wohlgefüllten Bar.
»Ein Bier«, verlangte er schreiend, um den Krach zu übertönen, sank auf seinem Hocker nieder und schloss erschöpft die Augen. Der Barkeeper brachte das verlangte Getränk, durstig stürzte Martin die kalte Flüssigkeit herunter.
Ein warmer Körper drängelte sich an ihn, unwillig blickte Martin auf; das war ein junges Mädchen. Sie grinste ihn an: »Genug?«, fragte sie und fuhr fort, »Komm!« Sie zerrte ihn zur nächsten Party und seit dieser Nacht waren die beiden unzertrennlich.
Doch Verena hatte noch eine Leidenschaft. Sie besuchte einen kulturellen Höhepunkt nach dem anderen und ließ keine derartige Veranstaltung aus. Martin schleppte sie immer mit. Sie kannte jeden Kunstschaffenden, war mit allen befreundet und huldigte sämtlichen zeitgenössischen Werken.
Dagegen schwärmte ihr Freund von der Kunst der alten Meister, von deren unübertrefflichen handwerklichen Fertigkeiten, von der ungeheuren Mühe, die sie bei ihrem Wirken aufgewendet hatten und von der ellenlangen Zeit, die sie für die Herstellung ihrer Kunstwerke benötigten. Die modernen Künstler sahen ihn an, als käme er von einem anderen Stern.
Martin schauderte es vor dem sogenannten Können dieser jungen Leute. Sie schufen Scheußliches, Absurdes und Monströses; trotzdem wurde von ihm große Bewunderung erwartet.
Da war zum Beispiel ein stinkender Käse, den man an eine Fensterscheibe geklatscht hatte. Es fand sich eine einfache Säule aus Beton, die angeblich das Maß aller Dinge war. Er sah ein Bild, auf dem man lediglich ein dummes Rechteck bestaunen konnte. Und da gab es eine ausgestellte Toilette, die nicht richtig gespült worden war.
Der junge Mann galt in der Kunstszene bald als übler Ignorant, Dummkopf und Banause, weil es ihm nicht gelang seine Ablehnung zu verbergen. Er wurde für seine Ansichten verspottet und geschmäht. Verena war darüber sehr unglücklich und die Beziehung der beiden litt darunter.
Dann schleppte ihn seine Freundin zu einem wichtigen Ereignis mit. Ein moderner Künstler wollte in der Öffentlichkeit ein bedeutendes Werk schaffen. Dazu mussten halb nackte, bekleckste und verschmierte junge Mädchen, Farbbeutel auf eine große leere Leinwand schleudern. Die Zuschauer beklatschten die Spritzer und Flecken von jedem Wurf mit überschwänglichem Beifall.
Das würde ein sehr teures und berühmtes Gemälde werden. Die Kunstliebhaber und Mäzene konnten es gar nicht abwarten und boten bereits jetzt irrsinnige Summen, um dieses Bild zu erwerben.
Verena drängte ihren Freund, an diesem wunderbaren Schaffensprozess teilzunehmen und mit den jungen Mädchen Farbe auf die Leinwand zu werfen. Aber Martin weigerte sich voller Abscheu.
Doch auch seine Freundin war empört, wie konnte er es nur wagen, sich so abfällig gegen diese einzigartige Kunst zu stellen. Das war das Ende ihrer Beziehung, die beiden trennten sich in bitterem Streit.
Jedoch nicht nur Verena wetterte gegen Martin, ihre Gesinnungsgenossen beschimpften den jungen Mann ebenso abscheulich. Diesem blieb schließlich nichts anderes übrig, als wütend und gedemütigt davonzustürzen. Er konnte sich vor den Beleidigungen nicht anders retten.
Martin litt sehr unter den Kränkungen. In Zukunft wollte er mit Künstlern nichts mehr zu tun haben, doch er vermisste Verena. Diese war nicht ganz so traurig, sie hatte genug Freunde und taumelte von einer Vergnügung in die nächste.
Bald darauf sprach man von einem neuen Meister. Durch die Konzertsäle zog ein namenloser Pianist und feierte riesige Erfolge. Niemand kannte seine Identität, denn er hatte einen Tick. Bei allen seinen Auftritten wurde ein weißer Vorhang aufgespannt, hinter dem er sich versteckte. Die frenetischen Zuschauer bekamen ihn nie zu sehen. Er war ein rätselhaftes Buch mit sieben Siegeln.
Der Künstler bot viele Darbietungen. Jeder wollte ihn hören, wenn man ihn schon nicht sehen konnte. Sein Geheimnis machte alle neugierig. Begierig rissen sich die Musikliebhaber um Karten für seine Konzerte.
Die wohlmeinenden Kritiker rühmten den Meister in den höchsten Tönen. Doch selbst die schlimmsten Nörgelfritzen, welche sonst keine guten Worte fanden, hatten viel Lob für ihn übrig.
Bald wollte man ihn auch in den berühmten Konzertsälen der Welt haben. Angeblich wurde bereits eine Welttournee mit vielen Auftritten geplant. Nicht mehr lange würde man den Virtuosen bei den kleinen Veranstaltungen in der Nähe erleben können. Umso freudiger wurden die letzten Gelegenheiten genutzt. Verena hatte großes Glück und bekam einige der seltenen Eintrittskarten. Sie fragte ihre Freunde und diese wollten alle mitgehen.
Dann geschah das Unglaubliche: Die ansässigen Künstler der Szene erhielten eine Einladung zur letzten Vorstellung in der Stadt. Verena und ihre Freunde hätten ihre Karten gar nicht kaufen müssen. Endlich kam der bedeutende Tag.
Vor dem Theater drängten sich erwartungsvoll die Menschen. Es war Einlass, der Gong ertönte, die Zuschauer klatschten begeistert und dann fing die ersehnte Aufführung an. Hinter dem weißen Vorhang begann der große Künstler, zu spielen.
Unsichtbar hämmerten die Tasten. Die geübten Finger des kunstvollen Virtuosen vollbrachten wahre Meisterschaft: Donnernde Töne erschütterten das teure Piano, tosende Gewalten füllten die Halle, schreckliche Disharmonien schwebten zum Himmel. Das waren keine Akkorde, keine Melodien, kein Takt und kein Rhythmus; kreischender fürchterlicher Lärm war zu hören. Doch das war einzigartige, geniale, meisterhafte, nie zuvor erlebte Kunst. Verzückt lauschten die Zuhörer den göttlichen Klängen.
Dieses Erlebnis wollten sie nie vergessen. Sie würden es für immer in ihren Herzen bewahren. Alles andere wurde bedeutungslos. Es zählte nur noch der herrliche Augenblick.
Der großartige Vortrag endete mit einem furiosen Finale. Die jauchzenden Zuschauer spendeten stürmischen Beifall. Dann gab der Meister eine Zugabe. Die Menschen drängten begeistert heran. Was geschah da? Der weiße Vorhang fiel herunter und endlich war die Sicht auf die Bühne frei. Wer war der große Künstler? Doch was musste das Publikum da sehen. Die Leute waren zutiefst entsetzt. Ein riesenhafter bösartiger Pavian saß an dem edlen Konzertflügel und schlug fürchterlich auf die schwarzen und weißen Tasten ein. Hinter ihm stand ein schmächtiger junger Mann und hielt sich abwehrend die Ohren zu.
Das Publikum begann fassungslos, zu toben und zu brüllen, immer wütendere Buhrufe ertönten, in dem Lärm war kaum noch etwas von dem Flügel zu hören. Der Affe hörte auf zu spielen. Der junge Mann sah zu den fuchsteufelswilden Zuschauern.
Verena war fassungslos. Das war ihr Freund Martin. Auch die jungen Künstler waren entgeistert von dem Schauspiel.
Der Affe stand auf und wartete regungslos. Der junge Mann trat vor und hob den Arm. Es wurde still in der Halle. Das Publikum lauschte.
Martin zeigte dramatisch, mit ausgestrecktem Arm, auf Verena und ihre Freunde, die sogenannten Künstler: »Wer ist hier der Dummkopf, der Banause und der Ignorant? Wer ist hier ein wirklicher Künstler? Was ist wahre Kunst? Eure bestimmt nicht! Ihr habt mich beschimpft, beleidigt und gedemütigt! Doch mein Affe versteht mehr von Kunst als ihr! Ich bin nicht der Idiot! Ich bin der Meister! Denn zuletzt lache ich!« Zornig ballte er die Faust.
Der gefährliche Pavian aber begann drohend, zu kreischen und zu schreien, grimmig bleckte er die ungeheuren Zähne, wutschnaubend vollführte er mächtige Sprünge, böse zeigte er seinen bloßen roten Hintern. Das Publikum erschrak und rührte sich nicht.
Dann schritten der hagere junge Mann und der massige ergraute Affe erhobenen Hauptes und mit stolzgeschwellter Brust davon. Verena und ihre Freunde, die jungen Künstler und die schockierten Zuschauer, blieben mit verstörten Gesichtern zurück.