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Schwarzwaldklinik
Trübe Augen blickten ihn aus dem Spiegel an. Sie waren welk und formlos wie der Rest von ihm. Mit denselben Augen hatte er einst Rita angesehen. So musste es gewesen sein, er glaubte es selbst nicht mehr so recht. Manchmal wog er ungläubig seine schlaffen Brüste in den Händen wie eine Frau in den späten Vierzigern. Ohne anzuklopfen riss der Mark die Tür auf.
„Huiuiui, Herr Riesner, was haben Sie denn vor?“
Der Mark macht noch dies, der Mark macht noch das, sagten die Schwestern immer, die lieben und die Fotzen gleichermaßen. Und dann bringt der Mark Sie ins Bett.
Willy zog seine Krawatte fest. Sie zu binden, hatte fast eine halbe Stunde gedauert. Die Finger voller Flecke taten ihm weh. Endlos ließ die Schlinge sich zuziehen, so dürr war sein Hals inzwischen. Er war einmal athletisch gewesen. Dann war er alt und fett geworden, aber er war schon lange nicht mehr einfach nur alt.
„Spazierengehen.“ Wessen Stimme war das? Ein Krächzen wie das eines sprechenden Raben in einem Märchen.
„Huiuiui.“ Der Mark machte ein beeindrucktes Gesicht und musterte ihn respektvoll von den sauberen Schuhen zum Sakko, von dem Willy stundenlang Haare und Flusen gepflückt hatte.
„Sie denken aber daran, dass Sie sich unten abmelden und genau sagen, wo Sie lang wollen, ja?“
Willy nickte.
„Und haben Sie an Ihre Packung gedacht?“
Willy nickte wieder und stellte sich vor, wie der Blitz ihn traf, falls der Mark ihn zwang, ein drittes Mal zu lügen. Obwohl er streng genommen tatsächlich an seine Windel gedacht hatte. Er hatte daran gedacht und sie mit voller Absicht nicht umgebunden. Fast ein Jahr harten Trainings hatte er nicht hinter sich gebracht, um die stolze Stimmung dieses Tages voller Souveränität und Selbstbestimmung durch das Tragen von Pampers zu ruinieren, auch wenn es die für Erwachsene waren.
„Na dann, alles gut“, sagte der Mark und unterstrich diese Einschätzung mit ausgestrecktem Daumen.
Willy hasste den Mark nicht. Für eine derart intensive Emotion hatte er keine Kraft mehr. Er mochte den unrasierten Bengel nur nicht besonders. Vorwürfe machte er sich deswegen keine. Wie sollte er einen Mann mögen, der ihn regelmäßig ins Bad begleitete und dort Zeuge einst zutiefst privater Vorgänge wurde? Der ihm die Achseln gewaschen hatte, den Schritt, die Füße und den Hintern? Da waren noch immer diese in den Spiegel gespuckten Augen, von denen er wohl annehmen musste, dass es seine waren. Die Rabenstimme war nämlich auch seine, ätsch. Kein Wunder also, wenn die Leute draußen ihn nicht einmal mehr als die Luft wahrnahmen, in die er sich mit Mitte sechzig verwandelt hatte. Er hatte irgendwann Geisterfinger bekommen, die nur an der Kasse sichtbar wurden, wenn sie viel zu lange nach Kleingeld wühlten, bis die aus den Lautsprechern säuselnde Einkaufsmusik und das Anpreisen der Schweinekoteletts im Angebot das ungeduldige Schnaufen hinter ihm nicht mehr zu übertönen vermochten. Inzwischen aß er nur noch, was die Schwestern und der Mark auf den Tisch stellten, und Schweinekoteletts waren das noch nie gewesen, jedenfalls nicht in nachvollziehbarer Form.
Willy lächelte, der komische Rabenvogel im Spiegel tat es ihm gleich. Heute war ein besonderer Tag, Gedanken so trüb wie die Spiegel-Augen entbehrten jeder Grundlage. Er fühlte sich vorbereitet und fit, und das hatte er dem Mark zu verdanken. Auch deshalb wäre es unfair gewesen, ihn zu hassen.
Seine Enkelkinder hießen Steffen und Christiane, oder Stefan und Christina, und ihre Gesichter waren genau so unbestimmt wie ihre Namen, so selten hatte er sie gesehen. Er war umgeben von Leuten, denen er sich zu jeder Mahlzeit aufs Neue vorstellen musste. Auf den Fluren roch es nach Putzmittel mit Limette, sie schienen die Gänge damit zu fluten, ab 19 Uhr, wenn alle sich hingelegt hatten, ein paar für immer. Hektoliterweise mussten sie das Zeug einsetzen, aber statt das Aroma eingekackter Betten zu übertünchen, vermengte es sich damit zu einem ganz eigenen Geruch: Sterile Scheiße.
Mit der resignierten Geduld eines Verdammten hatte er seine Zeit abgesessen. Wegen des Marks hatte er diese Geduld verloren und seine Leibesübungen aufgenommen. Ohne den Mark also auch kein Tag ohne Pampers. Der Mark verdiente es, nicht gehasst zu werden.
Im Dritten hatten sie Der grüne Bogenschütze gezeigt. Willy hatte ihn im Kino gesehen, mit Rita. Klausjürgen Wussow spielte Jahre später einen Arzt in dieser furchtbaren Fernsehserie für Frauen. Willy hatte zu Rita gesagt, dass er tief gesunken war, der Inspektor von damals, aus dem Edgar-Wallace-Film. Sie hatten immer mal wieder über Wussows Karriere gestritten, es war so leicht gewesen, sie damit aufzuziehen. Er zettelte noch Dispute an, als die Klinikserie längst nicht mehr lief, bis Rita starb, und als er sechs Wochen nach der Beerdigung den Fernseher anmachte und der Wussow seinem Assistenzarzt in einer Wiederholung die Frauen erklärte, hatte Willy vor Erinnerungsschmerz aufgejault wie ein getretener Hund.
Die Wunde war längst zur Narbe gereift, als Der grüne Bogenschütze lief. Willy sah ihn, ohne zu jaulen. Gläubig gewesen war er nie, er wusste, dass er allein war. Trotzdem sagte er zu Rita: „Das waren noch Zeiten, der Wussow als Inspektor, was hat den bloß geritten mit dieser Krankenhaus-Quatschsendung?“
Etwas Wunderbares geschah.
„Wie viele Filme hast du denn schon gedreht, dass du über so etwas urteilen kannst?“, fragte Rita zurück, giftig wie zu Lebzeiten, sie mochte Wussow wirklich. Willy grinste in der Fernsehflimmer-Dunkelheit. Sie ließ sich noch immer so leicht foppen mit dem Thema. Einen Augenblick lang dachte er, er hätte sich die Stimme nur eingebildet, doch dann legte Rita nach.
„Ein gutaussehender Mann ist das, auch schlank, in dem Alter.“
So fies hatte sie ihn manchmal gestochen, damals, als er noch alt und fett gewesen war, bevor er die nächste Stufe erreicht hatte. Rita war hier mit ihm, sie gab seinen Frotzeleien Contra und lobte die sensible Männlichkeit des schönsten Arztes aller Zeiten. Der Schönste, für sein Alter unbedingt. Schade fand sie, dass man den nur fürs Fernsehen erfunden hatte. Gott sei Dank, fand Willy dagegen, war das alles nicht echt.
Der Art gemäß, in der der Mark die Tür aufriss, hätte er eigentlich in die Knie gehen und Willy mit einer Waffe bedrohen sollen: „Hände hoch, keine Bewegung!“ Das grelle Flurlicht schlug Rita in die Flucht. Jetzt war Willy wieder nach Jaulen zumute, aber er schluckte den Klagelaut hinunter.
„Huiuiui, Herr Riesner.“ Es war nach Mitternacht, erklärte der Mark, so als könnte er, der Willy, keine Uhr lesen.
„Den habe ich mal im Kino gesehen“, sagte Willy. Er zeigte auf die schwarz-weiße Welt in der Röhre. Das Licht aus des Marks limettiger Flurwelt durchdrang alles, in seinem Schein wurden Willy seine nassen Augen peinlich bewusst.
„Ach so“, sagte der Mark, kam langsam näher und legte Willy die Hand auf die Schulter, väterlich eher als freundschaftlich. „Was ist denn das?“
„Edgar Wallace.“
„Ach ja.“ Es klang, als hätte er den Namen noch nie gehört. Der Mark rieb seine Hand auf Willys Schulter und sagte, es wäre Zeit fürs Bett. Nochmal ins Bad, aber dann ins Bett.
Willy flüsterte ihren Namen, einfach so, und der Mark fragte: „Was?“
„Kann ich den Film nicht noch zu Ende sehen?“
„Um die Zeit? Haben Sie keine Angst, dass Sie morgen ganz kaputt sind?“
Er hatte lediglich Angst, der Mark könnte mit seinem Auftritt Rita unwiderruflich verscheucht haben. Statt zu antworten, schüttelte Willy nur verschmitzt grinsend den Kopf. Die Schwestern fanden es süß, wenn er das machte, er hatte sie darüber kichern hören. Bei dem Mark funktionierte es nicht. Er stellte den Fernseher aus, zog Willy unter dessen Protest eine frische Windel an und steckte ihn ins Bett.
„Morgen werden sie's mir danken“, sagte der Mark, und das tat Willy, gleich am nächsten Tag, als er entschlossen seine Übungen begann.
Die Spaziergänge durfte er zunächst nicht allein machen, deshalb konnte er diesen Teil nicht täglich trainieren. Die Schwestern waren zu wenige, als das immer eine Zeit für ihn gefunden hätte. Durch die vielen Male, die er immer wieder unter Bewachung dieselbe Strecke zurücklegte, schaffte er es aber schließlich, sie davon zu überzeugen, dass er den Weg auch allein und notfalls ohne Brille bewältigen konnte. Die Mädchen und er lachten gemeinsam über diese herrliche Metapher für „blind“. Die war fast so süß wie sein goldiges Kopfschütteln mit dem pfiffigen Grinsen. Abmelden und Anmelden, das war die Bedingung. Keine Extratouren, keine Umwege. Mussten sie nur ein einziges Mal die Polizei einschalten, wäre es zu seinem eigenen Besten ganz schnell wieder vorbei gewesen mit der neuen Freiheit.
Doch zu derartigen Sanktionen kam es nie. Willy verhielt sich stets regelkonform. Etwa dreißig Minuten dauerte der Spazierweg, und er prägte ihn sich ein wie die extrem klugen Räuber in den Filmen die Blaupausen der Banken. Der Zebrastreifen vor dem Haus, die alte Schule auf dem Weg – vor der er immer kurz verharrte, um sich nicht daran erinnern zu können, hinter welchem der kaputten Fenster sich sein altes Klassenzimmer befand – das kurze Waldstück, die Brücke und wieder zurück. Bald gehörte sein autonomer Spaziergang für die meisten Schwestern zum Alltag, sie sagten nur: „Bis gleich, Herr Riesner“, und: „Sie waren heute aber schnell, Herr Riesner“, und verzichteten auf jeglichen Appell. Manchmal sahen sie kurz von irgendwelchen Formularen hoch und verabschiedeten sich mit einem Winken, irgendwann taten sie nicht einmal mehr das. Nur der Mark bestand weiterhin auf einen ordnungsgemäßen Ein- und Ausgang Willys, ein Pflichtbewusstsein, das er in einer früheren Phase seines Lebens gelobt hätte. In der Vorbereitungsphase, stellte er fest, konnte er nur sehr wenig damit anfangen, da hätte er sich ein bisschen mehr Mut zur Anarchie gewünscht.
Ebenso wichtig wie das Vertrauen der Schwestern in seine tägliche Rückkehr war die Wiederbelebung seiner Beinmuskulatur. Was davon geblieben war, musste er sich eingestehen, verdiente es ungefähr so sehr, Muskulatur genannt zu werden, wie die verschrumpelte Gurke zwischen seinen Beinen es verdiente, weiterhin den Namen Penis zu tragen. Zentimeter für Zentimeter tastete Willy sich an das Ziel heran, wenigstens das Bein noch einmal hochzubekommen. Zuerst zog er das Knie an und stellte den Fuß auf die Sitzfläche seines Fernsehsessels, immer wieder, rauf und runter, bis er für eine Bewegung gefühlt nicht mehr als zehn Sekunden brauchte. Als diese Praktik nach ein paar Wochen zur Routine geworden war, begann er, sein rechtes Bein auf die Lehne des Sessels zu heben. Beim ersten Mal stürzte und prellte er sich die Hüfte so hart, dass er auf dem Boden liegend anfing zu schluchzen, weil es so weh tat. Er wünschte sich Ritas Geist zurück, der ihn tröstete und ihm Mut machte, aber nach der Nacht, in der die Entscheidung gefallen war, hatte sie nie wieder von sich hören lassen. Statt ihrer Stimme drang ein alberner Singsang an sein Ohr. Der Lärm kam aus dem Aufenthaltsraum. Die Blagen waren wieder da, eine Grundschulklasse oder eine Kindergartengruppe. Ständig brachten sie Kinder herein, so als wollten sie die Insassen daran erinnern, was sie verloren hatten.
Willy stöhnte den Schmerz in seiner Hüfte weg und trainierte weiter, lächelte beim Mittagessen wie gewohnt, während sie ihm weiches Fleisch schnitten. Sie lächelten zurück, weil sie keine Ahnung davon hatten, was ihn wirklich so erfreute, und das machte ihn stolz. Es war etwas Besonderes, ein Geheimnis zu haben, wenn man sich nicht einmal mehr selbst den Hintern abwischte.
Es ging los. Gleich nach dem Zebrastreifen kam ihm ein dickes Mädchen entgegen, das einen Kinderwagen vor sich her schob. Weil sie auf ihrem tragbaren Telefon herumtippte – was, um Gottes Willen, waren das heutzutage für endlos lange Telefonnummern, dass die Leute ständig auf die winzigen Tasten einhacken mussten? – sah sie nicht, wie ihr Hund auf Willy zulief und ihn ansprang. Sie schien auch nicht zu hören, wie das Tier dabei bellte. Es war kein großer Hund, nur ein schwarzer Wadenbeißer mit ein paar weißen Flecken und drei weißen Pfoten. Trotzdem fürchtete Willy, der Kläffer könnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen.
„Weg!“, krächzte er und wedelte mit der Hand. „Weg, weg!“
Stürzte er, würde er wahrscheinlich hilflos liegenbleiben, während der Hund ihm über das Gesicht leckte und die dicke Mutter mit ihrem tragbaren Telefon den Notarzt rief. Willy machte einen Schritt vom Bürgersteig runter. Der Hund sah ihm enttäuscht hinterher, so als stünde es für ihn außer Frage, auf der Straße weiterzuspielen. Er kläffte noch ein letztes Mal und setzte dann seinen Weg fort, um das Bein an einem Kettcar zu heben, das ein Kind auf dem Bürgersteig geparkt hatte. Die Herrin des Hundes und des Kindes im Wagen sah kurz von ihrem Telefon auf und Willy an. Ihrem Blick zufolge hielt sie es für das Mindeste, dass er den Weg für sie und ihr pinkelndes Haustier frei gemacht hatte.
„Guten Tag“, sagte Willy. Sie nickte kurz und wählte dann wieder ihre Endlosnummer.
An der Schule blieb er vor dem Zaun stehen und klammerte sich an das Eisengitter wie an die Stäbe eines Zellenfensters. Der berüchtigte Folterknast Gegenwart, Stalins Gulags waren doch Taubendreck dagegen.
Er hatte Rita in diesem jetzt runtergekommenen Bau mit den zerschlagenen Scheiben kennengelernt. Ihm fiel noch immer nicht ein, wo einmal sein Klassenraum gewesen war, aber er kannte noch die geheime Ecke, in der Rita ihm einmal einen Kuss gegeben hatte, da waren sie was gewesen, zwölf, dreizehn? Max Kinkelbur hatte es gesehen, und Willy hatte sich mit ihm prügeln müssen, damit er aufhörte, es überall herumzutratschen. Der miese Querulant hatte den Kampf auch noch gewonnen, er war ein Bulle gewesen wie die Tiere auf den Wiesen seiner Eltern.
Den Sieg trug Max mit blutender Nase davon. Und überhaupt war es nach dem Kampf, als hätte Willy gewonnen. Der Bulle sagte nichts mehr, er ignorierte sie beide. Wahrscheinlich hatte er beschlossen, dass sie den Aufwand nicht wert waren. Es gab genügend Schulkameraden, die sich gar nicht wehrten. Max fand sie alle und Willy half keinem. Er war froh, mit Rita seine Ruhe zu haben. Erst Jahrzehnte später fragte er sich manchmal, ob er nach dem Tod irgendwie für diesen Egoismus würde büßen müssen. Dann starb Rita und er fragte sich, ob er schon tot war und büßte. Er war nie gläubig gewesen, aber Angst hatte er schon.
Leere Bierflaschen lagen da, wo sie sich einmal geküsst hatten. Zigarettenstummel. Bunte Schmierereien an den Wänden, die er aus der Entfernung nicht lesen konnte.
„Unmöglich, was?“
Willy fuhr zusammen. Neben ihm stand Max, die Rechte zur Faust geballt in der Linken ruhend, bereit zuzuschlagen und zuende zu bringen, was vor rund achtzig Jahren begonnen hatte.
Natürlich stimmte das nicht. Max war im Krieg gefallen. Angeblich hatte eine Mine ihn mit runtergelassenen Hosen in die Höhe katapultiert, nachdem er sich in einem russischen Wald zum Geschäft hinter ein paar Bäume zurückgezogen hatte. Auch so eine Sache, die Willy eigentlich nicht glaubte. Die Leute erzählten viel Mist über den Krieg. Trotzdem eine schöne Geschichte.
Statt des Quälgeistes von einst stand neben Willy ein kleiner dicker Glatzkopf von vielleicht sechzig Jahren auf der Suche nach einem Gespräch.
„Wird Zeit, dass die Stadt das alte Dinge endlich abreißt“, sagte der junge Mann. „Tagsüber spielen Kinder drin, irgendwann wird mal eins von einem Trägerbalken erschlagen. Und abends kann man sich hier nicht lang trauen, weil die Halbstarken auf dem Gelände herumlungern.“
Schimpfen auf die, die mehr Leben vor als hinter sich haben. Willy seufzte. Er war schon so viel weiter, sein Neid schlaff wie sein Zorn und sein Schwanz. Hier war keine Grundlage für ein Gespräch gegeben, aber der Kahle interpretierte den Seufzer als Einladung und stellte sich vor. Willy nahm die Hand und ignorierte den genannten Namen, ohne den eigenen preiszugeben. Er ging einfach weiter und hörte nach ein paar schlurfenden Schritten, dass der sich selbst Überlassende nicht länger über die Jugend, sondern über das demente Greisentum lästerte. Setz dich doch auf eine Mine, dachte Willy.
Das Waldstück brachte er hurtig hinter sich, sein nächster Halt war die Brücke. Einen Großteil des Weges hatte er nun geschafft. Wahrscheinlich hatte er sich zu lange an der Schule aufgehalten und sie suchten bereits nach ihm, schmiedeten Pläne zur Einschränkung seiner Privilegien. Er umklammerte das Geländer wie zuvor die Eisenstäbe des Zauns. Die Straße auf- und abgeblickt sah er Menschen, die sich um sich selbst kümmerten. Gut so. Schlecht war, dass er in einigen Metern Entfernung den Miesepeter wiedererkannte, der ihn vor der Schule angesprochen hatte. Erschrocken wich er Willys ertappendem Blick aus und fixierte den Hund, den ein Junge an der Leine spazieren führte.
Willy fühlte einen Fluch auf seiner Zunge tanzen, ein raues Wort, das ihm seit Jahrzehnten nicht mehr über die Lippen gegangen war. Es dachte an das teils schmerzhafte Training. Sollte alles umsonst gewesen sein, sollte eine einzige dumme Zufallsbegegnung sich nun zwischen ihn und Rita stellen? Wenn der Kahle das tat, würde er ihm die Nase blutig schlagen wie einst Max Kinkelbur? Wäre er dazu in der Lage, oder würden seine morschen Fingerknochen einfach am Gesicht des Verfolgers zerbrechen?
Das Geländer ging ihm bis über die Hüfte. Unten plätscherte der Fluss dahin. Eine Plastiktüte trieb vorbei. Willy schwang das Bein hoch, so schnell er konnte. Die Übung hatte sich ausgezahlt.
„Hallo, was machen Sie da?“, sagte der Miesepeter. Fragendes Gemurmel überall um ihn herum schwoll zu lauten Rufen an, während Willy das zweite Bein auf die andere Seite des Geländers zog. Der Junge rief etwas und sein Hund kläffte. Willy ließ los. Der Quatschkopf von vorhin hatte ihn erreicht. Die verspätete Hand reichte nutzlos über das Geländer in die Leere.
Willy fiel dem Wasser entgegen, erst in Zeitlupe, dann so schnell, huiuiui. Aus dieser Höhe war es hart wie Beton. Den Vergleich hatte er mal im Fernsehen gehört. Selbst der schönste Arzt der Welt würde ihm nur kopfschüttelnd ein Tuch über das Gesicht ziehen können wie dem Mordopfer in einem Edgar-Wallace-Krimi. Als wäre er nicht in die Weser gestürzt, sondern in die Themse, nach all der harten Arbeit.