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Schwarzer See
„Wollen wir weiter? Noch ein kleiner Anstieg, dann sind wir da.“ Unter Carstens Füßen knackte ein Ast. Hanna zuckte zusammen und sah benommen zu ihm auf. Sie nickte und erhob sich von der Bank, die sich an den Berghang schmiegte. Die Stille des Waldes hatte sich wie Nebel um ihren Kopf gelegt. Sie sah auf die dicht aneinander gedrängten Tannen, das tiefe Grün des Schwarzwalds, und spürte es. Unbehagen. Der Wind strich über die Baumspitzen, glitt an den Stämmen vorbei, streifte durch Hannas Haare. Fremder Atem, der nach Rinde und feuchter Erde roch. Die feinen, braunen Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Sie schauderte.
„Hanna? Alles in Ordnung?“ Carstens blaue Augen wirkten trüb, dunkler als sonst. Er stand zwischen den Bäumen und trat mit seinem Fuß immer wieder gegen eine Wurzel, die sich aus der Erde gekämpft hatte. Der schmale Wanderweg war durchfressen von ihnen, schon drei Mal war Hanna gestolpert. Ihre Augen huschten im Zwielicht des Waldes aufmerksam hin und her. „Ja, alles gut, ich komme schon.“ Carsten sah ihr verkrampftes Lächeln nicht. Er stapfte mit festem Schritt vor ihr her und folgte dem Weg, der sich zwischen den dunklen Stämmen den Berg hinaufschlängelte.
Die Bäume ächzten, ihre Äste hingen tief. Hanna spürte Schatten im Nacken, ein dunkles Rumoren unter ihren Füßen. Als sie vor drei Stunden losgelaufen waren, schien die Sonne. Schäfchenwolken am Himmel. Frühlingsluft. Jetzt wurde der Wald zum Fremden. Über ihren Köpfen breitete sich eine graue Decke aus, das Licht kämpfte sich mühsam durch das Dickicht der großen Nadelbäume. Selbst die Vögel schwiegen. Nur ihre Schritte durchbrachen die Stille.
Carsten drehte sich zu Hanna um. Seine Wangen waren gerötet, Vorfreude zitterte in seiner Stimme: „Es wird dir dort gefallen, wirst schon sehen. Auf den Bildern sah es total idyllisch aus. Trotz der Geschichten, die sich die Leute erzählen.“ Er musterte sie. „Ist wirklich alles in Ordnung? Du bist ja ganz blass!“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht, was los ist. Irgendwas ist komisch heute.“
„Dein berühmtes Bauchgefühl mal wieder?“ Carsten zwinkerte ihr zu. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blies sich eine Strähne aus der Stirn. Da stand er vor ihr mit seinen blonden, verstrubbelten Haaren, den frechen Augen und dem kleinen Grübchen in der linken Wange. Ihr Verlobter. Sie berührte ihren Ring, lächelte.
„Mach dich nur lustig über mich.“ Hanna streckte ihm die Zunge heraus. Er machte einen Satz nach vorne, umschlang sie mit seinen kräftigen Armen und hob sie hoch. Ein Lachen platzte aus ihr heraus. Der Himmel schien nicht mehr ganz so düster, der Wald nicht ganz so undurchdringlich. Ihre Gedanken über den See verloren sich in Carstens Umarmung. Für einen Moment.
Plötzlich erstarrte sie. „Hast du das gehört?“
„Hanna, wir sind mitten im Wald. Ich höre ständig irgendetwas knacken oder rascheln.“
„Nein, das klang wie ...“ Sie lauschte. Nichts. „Es klang wie eine Frau“, murmelte Hanna und ging ein paar Schritte.
„Wie eine Frau?“ Carsten legte seinen Arm um sie. „Vielleicht war es ja eine von den Frauen aus dem Mummelsee. Sie sucht nach dir. Will ein bisschen schwimmen gehen.“
Hanna stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Hüfte, schüttelte den Kopf und stapfte entschlossen den Waldweg entlang. Ein paar hundert Meter weiter wurde es lichter zwischen den Bäumen. Sie ging schneller. Konnte die Enge zwischen den Stämmen nur noch schwer ertragen. In ihrem Heimatort weiter südlich von hier war der Schwarzwald heller, freundlicher. Als Kind hatte sie es geliebt, in den kleinen Bächen zu spielen. Beschützt vom Schatten der Fichten. Doch jetzt bekam sie immer schwerer Luft, ihre Kehle war trocken, die Hände schweißnass. Die letzten Meter rannte sie fast, bevor sich endlich der Wald vor ihr öffnete und den Blick auf den See freigab. Dunkel glänzend lag er unter ihnen. Über der Wasseroberfläche schwebte milchiger Nebel. Hanna fröstelte. Sie wollte nicht dort hinunter. Ihr Magen zog sich zusammen, Übelkeit stieg in ihr auf. Sie schwankte. Das Rauschen der Bäume wurde lauter und lauter. Carsten fragte sie etwas. Sie wollte antworten, aber ihre Zunge fühlte sich schwer an. Taumelnd suchte sie nach Halt. Dann wurde alles schwarz.
Langsam kamen die Geräusche zurück. Hanna öffnete die Augen und blickte in Carstens bleiches Gesicht.
„Mann, was jagst du mir denn für einen Schreck ein?“
Sie richtete sich auf. „Was ist denn passiert?“ Benommen blickte sie auf den See hinunter.
„Du bist einfach umgekippt. Ich konnte dich gerade noch auffangen, sonst wärst du mir hier mit dem Kopf aufgeschlagen. Wie fühlst du dich?“ Er hielt ihr Gesicht fest in seinen Händen und sah ihr in die Augen.
Sie lächelte. „Besser. Keine Ahnung, was das war. Mein Kreislauf … Manchmal sackt der in den Keller. Hilfst du mir hoch?“
Er zog sie nach oben und drückte sie an sich. „Schaffst du es nach unten?“ Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den Himmel. Am Horizont zog die Nacht heran.
„Klar, ich schaff das.“ Sie klopfte sich die Tannennadeln von der Hose und stieg mit wackligen Knien den Pfad hinunter.
Je näher sie dem Mummelsee kamen, umso stärker kam das dumpfe Gefühl zurück. Als liefe man auf offenem Feld geradewegs einem tobenden Gewitter entgegen.
Sie wusste, dass es nur Geschichten waren, die man sich über diesen Ort erzählte. Sagen, Märchen, wie auch immer man es nennen wollte. Vor Jahrhunderten stand hier angeblich ein Kloster, genau an der Stelle, wo sich nun der Mummelsee befand. Über Nacht versank es einfach im Erdboden, verschluckt von schwarzem Wasser und für immer begraben. Doch angeblich lebten die Seelen der Nonnen noch immer in der Tiefe, stiegen nachts aus dem Wasser empor und besuchten die nächsten Bauernhäuser im Tal. Die einen sagten, die Geister halfen den Menschen im Haus. Verrichteten nützliche Arbeiten und verschwanden im Morgengrauen wieder. Die anderen jedoch sprachen von finsteren Mächten. Verführerischen Frauen am Seeufer. Sehnsüchtig wandelten sie auf den Wegen im umliegenden Wald umher. Riefen nach Männern, zogen sie mit sich ins Wasser. Ließen ihre Seelen nicht mehr gehen. Auch von Selbstmorden hatte Hanna schon gehört. Menschen seien einfach in den See gestiegen und wurden nie wieder gesehen. Aber dafür gab es keine Belege, nur alte Überlieferungen.
Ihre Oma hatte sie vor diesem Ort gewarnt, als Hanna noch ein Kind war. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie den See auf einer Wanderkarte entdeckt und aufgeregt mit dem Finger auf das zerknitterte Papier getippt hatte. „Mummelsee? Omi, das ist aber ein lustiger Name. Zeigst du mir den mal?“ Ihre Großmutter hatte mit dem Kopf geschüttelt und sich hektisch die Oberarme gerieben, als wäre es in ihrem Wohnzimmer plötzlich zu kalt. Ihr Blick hatte streng auf Hannas Gesicht gelegen und doch für winzige Sekunden unruhig geflackert. „Geh da nicht hin, Kind“, sagte sie damals zu ihr, „solche Orte lässt man lieber in Frieden.“
Irgendwann hatte Hanna Carsten von diesem Gespräch erzählt. Er bekam sofort rote Flecken auf den Wangen, kreisrund und leuchtend. „Das muss ich sehen!“ Er war vernarrt in deutsche Sagen. Eine Kindheitserinnerung an seinen Vater, der ihn oft mitgenommen hatte auf seinen Touren quer durch Deutschland, auf den Spuren der alten Geschichten.
„Ist das weit weg von deinen Eltern?“
Hanna schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht. Aber hinfahren muss ich trotzdem nicht.“
„Ach komm schon, dein Ernst? Nur weil Omi davor gewarnt hat? Du willst mir doch nicht erzählen, dass dich ein paar leichtbekleidete Nymphen einschüchtern?“
Sie schwieg. Sah an ihm vorbei. Manchmal lag da etwas in seiner Stimme, das sie wütend machte. Schwer zu greifen, eine leichte Überheblichkeit, die Hanna das Gefühl gab, Carsten nehme sie nicht ernst. Dass er ihre Oma erwähnte, machte es nicht besser.
Er lehnte sie zurück, musterte sie. Atmete einmal tief durch und sah auf den Boden. „Entschuldige, ich bin manchmal echt ein Depp.“ Er strich sich durch die Haare, blickte auf. „Ich weiß doch, wie sehr sie dir fehlt. Tut mir leid!“
Zwischen den Tannen erkannte Hanna die Umrisse des Berggasthofs. Obwohl es fast dunkel war, brannte in keinem der Fenster Licht. Sie drehte sich zu Carsten um. „Die wissen aber schon, dass wir kommen, oder?“
Lachend winkte er ab. „Na klar, wissen die das. Ich habe gestern erst mit denen telefoniert.“ Er nahm Hanna bei der Hand und zog sie die letzten Meter hinter sich her.
Der einstige Schwarzwaldhof ragte mächtig und düster vor ihnen empor. Komplett aus Holz erbaut, schien das breite Haus mit der Nacht zu verschmelzen. Das Giebeldach reichte bis zum Erdgeschoss hinunter und gab dem Hof trotz seiner Größe ein gedrungenes, verschlossenes Aussehen. Zu ihrer Rechten lag der See, ein schwarzer Fleck, aus dem feiner Dampf aufstieg. Der Wind hatte zugenommen, vertrieb die Wolken. Trüb schien der Mond auf die Landschaft. Sein Licht entzog dem Wald seine Farben, über alles legte sich ein grauer Schleier. Zwischen den Tannen sammelten sich Nebelschwaden, nur die Baumspitzen waren in dem milchigen Dunst zu erkennen.
„Das ist ein Ausblick, oder?“ Carsten klang anders als sonst. Rau, atemlos. Schweigend sah Hanna zu ihm auf. Versunken in dieses Schauspiel aus Licht und Schatten, glich sein Gesicht dem eines staunenden Kindes. Sie nahm seine Hand, doch er erwiderte den Druck nicht. Stand reglos da und starrte auf den See. Seine Züge wirkten entrückt, fast flehend. Hanna spürte ein Ziehen im Bauch. Da war sie, ganz plötzlich. Die Angst, sie könne ihn verlieren, wenn sie jetzt seine Hand losließe.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke noch ein Stück höher und räusperte sich. „Komm, lass uns reingehen, mir ist kalt.“ Carsten drehte ihr ruckartig den Kopf zu und blinzelte. Wie schlaftrunken rieb er sich die Augen und nickte. Sie gingen an der Längsseite des Hofs entlang, bogen nach links um die Ecke und standen vor dem Eingang. Über der massiven Tür waren sorgfältig geschnitzte Holzlettern angebracht: „Berggasthof zur Mummel“.
Carsten schmunzelte. „Klingt niedlich. Mummel.“
„Stimmt“, murmelte Hanna, die hinter dem linken Fenster flackerndes Kerzenlicht wahrnahm. „Seerose. So nennt man die hier. Mummel.“ Sie klopfte an die Tür.
„Frau Kühnle?“ Carsten streckte der kleinen, robusten Frau seine Hand entgegen. Sie kniff die Augen zusammen, ließ ihren Blick über die beiden Gäste streifen und wich einen Schritt zurück. Langsam schüttelte sie den Kopf und griff nach der Türklinke.
Betreten schaute Carsten sie an. „Frau Kühnle? Ich habe doch gestern mit Ihrem Mann telefoniert. Ich bin Carsten Meißner. Wir haben für eine Nacht reserviert. Ist Ihr Mann denn zu Hause?“
Sie schüttelte den Kopf immer heftiger hin und her. „Haut ab“, flüsterte sie. Bevor sie jedoch die schwere Eingangstür zuschieben konnte, ertönte über ihr lautes Poltern. Sie fuhr zusammen. Sah Hanna und Carsten mit schreckgeweiteten Augen an. Hanna fröstelte und starrte auf die Treppe, die hinter der Frau in den ersten Stock führte. Schwere Stiefel stapften die ächzenden Stufen hinunter. Schritt für Schritt wurde ein großer Mann sichtbar. Breite Schultern, dunkles Haar, rote Wangen. Er stellte sich neben seine Frau, legte den Arm um sie und presste sie fest an sich. Brutal. Er lächelte. „Bisch wieder e bissel arg vorsichtig, Regina. Des sin die zwei Gäscht, sell han i dir doch geschtern erscht verzellt.“ Kopfschüttelnd nahm er Carstens Hand und schüttelte sie grinsend. „Kumme nur eini, drusse ischs kalt!“
Sie folgten dem Wirtspaar ins Haus. Es roch nach feuchtem Holz und kaltem Zigarettenrauch. Keine Wärme kam aus seinem Innern. Ein enger Flur führte in die Gaststube, wo ein kleines Feuer im Kamin brannte. „Es duuret no e bissel, bis es warm isch. So e Kälte mitte im Mai, sag e mol, domit rechnet doch keiner. Regina, hohlsch du dene beide was zum esse?“ Die Wirtin verschwand in der Küche. Carsten und Hanna setzten sich nah ans Feuer.
„Die ist unheimlich“, flüsterte Hanna, während sie der Frau nachsah. Der Wirt stand hinter der Bar und zapfte pfeifend zwei Bier. „Warum sagt die denn nichts? Schaut uns an wie zwei Gespenster. Als wollten wir ihr was antun.“
„Pssst. Nicht so laut. Er scheint doch aber ganz nett zu sein. Wir essen schnell eine Kleinigkeit und dann verziehen wir uns auf unser Zimmer, okay?“
Die Tür zur Küche flog auf und die Wirtin kam mit einem Tablett auf sie zu. Mit ernstem Gesicht stellte sie zwei Portionen Käsespätzle vor ihnen auf den Tisch. Sie wandte sich ab, stockte jedoch einen Augenblick. Drehte sich erneut zu ihnen um und beugte sich zu Hanna hinunter. „Mache, dass ihr von do wegkumme, am Seebach lang, nunder ins Tal. Schnell, bevor sie euch hole!“ Dann huschte sie zurück in die Küche.
„Hast du das gehört?“
Carsten blickte auf, Käsefäden hingen von seinem Kinn. „Was denn?“
Hanna sah zu dem Wirt hinüber, der sich mit den vollen Gläsern ihrem Tisch näherte. Hörte Äste im Feuer knacken. Langsam kroch die Wärme in ihren Körper zurück und in ihrem Kopf kehrte Ruhe ein. Sie hatte sich bestimmt verhört. Und selbst wenn … Vielleicht mochte die Frau einfach keine Leute aus der Stadt.
Das Zimmer war schlicht, aber gemütlich. An der linken Zimmerwand stand ein breites Bett, bezogen mit strahlend weißer Wäsche. Gegenüber ein schwerer Schrank. An der Stirnseite des Raumes konnte man durch ein kleines Fenster auf den See schauen. Hanna zog die Vorhänge zu und schlüpfte unter die Bettdecke.
„Du fühlst dich unwohl, oder?“ Carsten kroch zu ihr und nahm sie in die Arme.
„Blöd von mir, ich weiß. Ich werde bestimmt eine nervige Omi. Sehe überall Gespenster. Willst du dich darauf echt einlassen?“ Sie kicherte und schmiegte sich an ihn.
„Klar will ich das“, nuschelte er und küsste sie auf die Stirn. Eine Minute später war er eingeschlafen.
Kehliges Stöhnen ließ Hanna in die Höhe fahren. Tastend huschten ihre Blicke umher. Silbernes Mondlicht fiel ins Zimmer. Sie hielt die Luft an.
Die Vorhänge! Sie waren aufgezogen!
Ihr Körper versteifte sich. Sie starrte auf das Fenster und krallte sich in der Matratze fest. Lauschte. Nur das Rauschen des Waldes und ihr pochendes Herz. Dabei war sie sich ganz sicher gewesen. Dieses Stöhnen. Sie hatte es ganz deutlich gehört. Tief unter ihr, verzweifelt und flehend. Hanna griff nach Carstens Hand, spürte jedoch nur kalte Laken unter ihrer Haut. Sie fuhr herum und sah die zurückgeschlagene Bettdecke. Carstens Seite war leer. Sie sprang aus dem Bett und huschte hinaus in den Flur.
„Carsten“, zischte Hanna in die Dunkelheit. „Carsten!“ Nichts. Das Haus schwieg, kein Laut war zu hören. Sie hastete zurück ins Schlafzimmer, griff nach ihrer Hose. Hektisch schlüpfte sie hinein und warf einen Blick aus dem Fenster. Der Nebel hatte sich verzogen, glänzend und still lag der See im Mondlicht. Am Ufer versanken Büsche und Bäume in einem konturlosen Schwarz. Hanna kniff die Augen zusammen. Da bewegte sich etwas. Jemand. Löste sich aus dem Dunkel und ging langsam auf den See zu. Mit gesenktem Kopf lief die Gestalt hin und her. Die Wasseroberfläche fing an, sich zu kräuseln. Aus den Tiefen stieg ein dumpfes Gurgeln hinauf. Wurde immer lauter. Klarer. Gipfelte in einem Schrei, der gellend durch Hanna hindurchfuhr. Bebend erkannte sie, wer da unten umherirrte. Sein blondes Haar, den leicht zur Seite geneigten Kopf. Carsten!
Sie rannte in den Flur, die Treppe hinunter. Riss an der schweren Tür und stolperte ins Freie. Sie schrie seinen Namen, doch er reagierte nicht. Er lief nicht mehr umher, sondern schlug apathisch mit einem Ast auf das Wasser. Barfuß stand er mit den Füßen im See. Hanna fühlte die Panik in sich aufsteigen. Wie schwarzer, klebriger Teer, der sie langsam umschloss. Lähmte. Sie zwang sich, vorsichtig auf ihn zuzugehen, und legte ihre Hand auf seine Schulter.
„Schatz?“, flüsterte sie und strich ihm sanft durch die Haare. Sie waren feucht. „Was machst du denn hier?“ Keine Antwort. Er schlug weiter mit dem Ast auf das Wasser und sah auf den See hinaus. Da lag etwas in seinem Blick, das Hanna zurückweichen ließ. Sehnsucht.
Sie versuchte, ihn langsam mit sich zu ziehen, doch er schüttelte sie ab. Öffnete die Lippen. Bewegte sie.
„Was sagst du? Rede doch mit mir, mein Schatz!“ Verzweifelt zerrte sie an seinem T-Shirt. Sie schluchzte auf. „Komm schon, lass uns bitte wieder hineingehen.“
„Sie rufen nach uns.“ Er hauchte die Worte in die kalte Nacht. Der See fing erneut an zu brodeln. Heftiger. Wasser spritze in Hannas Gesicht.
„Was redest du denn da? Wer ruft uns?“
„Die Frauen“, sagte Carsten lächelnd. „Sie sind so allein da unten.“ Er machte einen Schritt nach vorn. Hanna schlang ihre Arme um seinen Bauch und versuchte ihn zurückzuziehen. Doch er ging weiter, ganz langsam und bedächtig, als sei sie gar nicht da. Der Boden vibrierte, lautes Grummeln kam aus dem See. Plötzlich tat sich vor ihnen das schwarze Wasser auf. Eine steinerne, von Moos überzogene Treppe führte hinab in die Tiefe. Jetzt hörte Hanna sie auch. Stimmen. Glasklar, herzzerreißend schön. Manche von ihnen sangen. Andere riefen inständig: „Näher. Noch näher. Wir sind so allein. Helft uns …“
Hanna klammerte sich an Carsten, wischte sich zitternd die nassen Haare aus dem Gesicht. Was passierte hier bloß? Sie schaute über die Schulter, sah entsetzt, wie sich das Ufer immer weiter entfernte. Sie konnte ihn nicht loslassen. Konnte nicht zurückrennen und ihn verlieren. Hanna holte tief Luft. Schrie so laut sie konnte nach Hilfe, bis ihre Lungen schmerzten. Carsten nahm die nächste Stufe. Atemlos suchte Hanna in der Dunkelheit nach den Umrissen des Hofs. Was sie dann sah, nahm ihr jegliche Hoffnung. Im Haus brannte Licht. Wie glühende Augen schienen die hell erleuchteten Fenster das Geschehen ohne Mitgefühl zu beobachten. Die Eingangstür stand offen. Auf der Schwelle zeichneten sich zwei Silhouetten ab. Eine war groß mit breiten Schultern, die andere klein und untersetzt. Sie bewegten sich nicht. Starrten einfach nur hinaus auf den See.
Hanna fühlte, wie die Kraft ihren Körper verließ. Sie hörte die Stimme ihrer Großmutter. Warnend hallte sie in ihren Ohren. „Geh da nicht hin, Kind!“ Zu spät. Tränen vermischten sich mit dem kalten Seewasser auf ihrer Haut. Sie legte ihren Kopf an Carstens Schulter, schloss die Augen und spürte, wie das schwere Nass über ihnen zusammenbrach.