Schwarzer Reis
André kommt nach Hause. Er wohnt in einem grossen Haus an der Goldküste, mit einer Glasfront, welche auf den See und die Berge dahinter zeigt. Er öffnet die Wohnzimmertür, das Mädchen und der Junge sitzen auf dem Fussboden und spielen mit Bauklötzen.
„Papa“, ruft der Junge, „Schau wie gross mein Turm ist“.
Das Mädchen ist eifersüchtig, sie beugt sich vor und macht den Turm kaputt. Der Junge beginnt zu weinen. Andrés Frau kommt mit dem Kochlöffel in der Hand herbeigeeilt, sie begrüsst ihn mit einem warmen Kuss und kümmert sich anschliessend um die Kinder.
„Heute Abend gibt es schwarzen Reis“, ruft sie André nach, während dieser bereits auf dem Weg nach oben ist. Sie hört eine gemurmelte Antwort und dann das Rauschen der Dusche.
Während dem Abendessen erzählt er von seinem Tag bei der Arbeit. Seine Frau hört ihm aufmerksam zu, während sie um den Tisch geht und das Essen verteilt. Die Kinder quengeln, weil sie mehr Nachspeise wollen. Später, als die Kinder schon schlafen, sitzen sie in der Küche und trinken Rotwein. Sie unterhalten sich leise. Als sie müde wird, setzt er sich vor den Fernseher und checkt seine Mails. Dann legt er sich neben ihr schlafen.
In der Nacht hat er einen Traum. Er befindet sich auf einem schmalen, steilen Pfad, welcher sich um einen hohen Berg windet. Tosender Wind und Regen umgeben ihn. Jeder Schritt bereit ihm Schmerzen, aber er beisst die Zähne zusammen und setzt seine mühselige Reise fort. Ein paar Mal rutscht er auf dem Geröll beinahe aus, fängt sich jedoch immer wieder im letzten Moment. Der Gedanke ans Ziel treibt ihn voran, lässt ihn alles um ihn herum vergessen. Trotz seiner misslichen Lage hat er sich noch nie so lebendig und energiegeladen gefühlt. In seiner Vision sieht er sich selbst auf dem Gipfel, stolz, glücklich, die Welt zu seinen Füssen liegend. Als er schliesslich die letzten Schritte macht, fühlt er in das Gefühl des Triumphes in sich aufsteigen. Er steht auf der Spitze und reisst die Arme in die Luft, seine Begeisterungsschreie übertönen beinahe das stürmische Gebrüll um ihn herum. Er hat es geschafft, er hat sein Ziel erreicht, er hat sich Allem und Jedem widersetzt. Glücklich atmet er tief ein, dann auf einmal legt sich der Wind und um ihn herum wird alles ruhig und friedlich. Er setzt sich auf den Gipfelstein und schliesst die Augen.
So bleibt er für eine Weile, bis sich tief in ihm eine Stimme regt. Er wird vom Gefühl ergriffen, dass etwas nicht stimmt. Zuerst versucht er es zu ignorieren, doch die Stimme wird immer drängender und beharrlicher. Schliesslich gibt er nach und setzte sich auf. Ratlos sieht er sich um, bis er schliesslich von einer bösen Vorahnung ergriffen wird. Er steht auf und macht probehalber einen Schritt vorwärts. Sogleich weicht er wieder zurück. Dann versucht er, einen Schritt zur Seite zu machen. Abermals weicht er wieder zurück. Das gleiche wiederholt sich, als er einen Schritt zurück macht. Panik ergreift ihn, er versucht es immer und immer wieder, bis er sich schliesslich keuchend im Kreis dreht. Ihm wird schwindlig, er bleibt vornübergebeugt stehen, die Arme auf die Schenkel gestützt, während er versucht, einen klaren Kopf zu kriegen.
Schliesslich ordnen sich seine Gedanken und auf einmal sieht er das Problem ganz klar und deutlich vor sich. Jeder weitere Schritt würde ihn nicht weiter nach oben, sondern nach unten führen, weg vom Gipfel. Alles, was er tut, würde nur zu einer Verschlechterung seiner jetzigen Position führen. Es gibt keinen weiteren Weg mehr, welcher ihn weiterbringen würde, nichts, was ihm noch in irgendeiner Weise erstrebenswert erscheint. Seine Jagd nach dem Ziel hat ihn jung und lebendig gehalten, nun gibt es nichts mehr, für dass es sich zu leben lohnte.
Nachdem er das realisiert hat, heult der Wind um ihn herum mit neuer Kraft wieder auf. Der Regen setzt wieder ein, doch nun ist er viel stärker als zuvor. Bald verwandelt sich der Regen in einen Sturm und Blitze mit zerstörerischer Gewalt donnern um ihn herum nieder. Von seiner Umgebung vermag er nur noch schwache Umrisse wahrzunehmen, welche ihm von Minute zu Minute verschwommener erscheinen. Schliesslich sieht er um sich herum nur noch schwarze Leere, er versucht sich zu wehren, aber es scheint ihm, als würde er von einem gewaltigen Strudel eingesaugt werden. Von einem Moment auf den anderen wird er vom Wind erfasst, er verliert den Boden unter den Füssen und wirbelt hilflos durch die Luft, er versucht, sich gegen den Sog zu wehren, aber es gibt kein Entrinnen, der Wind wirft ihn rücksichtslos hin und her. Er kommt dem Strudel näher und näher, und kurz bevor er von der Schwärze verschluckt wird, wacht er schweissgebadet auf.
„Papa“, fragt das Mädchen. „Wie war es im Land der Träume?“
Sie sitzt im Nachthemd auf seiner Bettdecke, den Teddy unter den Arm geklemmt. Als er nicht antwortet, fährt sie fort.
„Träume können böse sein“, sagt sie. „Zum Glück sind es nur Träume.“
In der Küche begegnet ihm seine Frau. Sie steht mit dem Rücken zu ihm und bereitet das Frühstück vor. Als sie ihn hört, dreht sie sich um und empfängt ihn mit einem warmen Lächeln.
„Gehst du für heute Abend einkaufen?“
„Ja“
„Pass auf, dass du nicht zu viel Fleisch kaufst. Ich wüsste nicht, was ich mit zu viel Fleisch anfangen sollte.“
„Ich weiss.“
André stösst die Tür auf. Draussen scheint die Sonne, die noch kühle Morgenluft streicht ihm über das Gesicht. Mit mechanischen Schritten geht er über die Strassenkreuzung, an der schon zu dieser Zeit reger Verkehr herrscht. Ein Obdachloser hält ihn an und bittet ihn um Geld. Zu seiner eigenen Überraschung zieht André seinen Geldbeutel hervor und drückt ihm zwanzig Franken in die Hand. Der Obdachlose bedankt sich überschwänglich und setzt seinen Weg fort. André schlägt die entgegengesetzte Richtung ein, gelangt zum Kreisel und biegt in die nächste Strasse ein. Seine Schritte sind schwer, sein langgezogener Schatten hebt sich dunkel vom Asphaltboden der Strasse ab. Erst jetzt wird ihm klar, wohin er geht. Er steuert nicht auf den Supermarkt zu, sondern auf den Bahnhof.