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Schwarzer Planet und weißes Licht

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17.04.2011
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Schwarzer Planet und weißes Licht

Immer wenn die Büchereitür geöffnet wird, flitze ich wie eine Maus in mein Versteck. Ein Oberstufenschüler kommt herein, verschwindet zwischen den Regalen, taucht mit einem Buch wieder auf und setzt sich an einen der Tische. Ich schiebe meine Hände in die Hosentaschen. Wenn sich jemand setzt, dann bleibt er länger. Durch das Regal gucke ich zu, wie er in einem Bildband blättert. Das ist doch der Junge, der nie was zum Schreiben dabei hat. Stattdessen streicht er immer wieder mit einem Finger mitten über die Seiten. Er guckt in die Runde, knöpft sein Hemd auf. Seine Finger berühren den Oberkörper, kreisen langsam. Warum macht er das jedes Mal, wenn er hier ist?
Sein Blick geht in meine Richtung, reißt mich aus meinen Gedanken. „Gefällt dir, was du siehst?“
Woher weiß er, dass ich hier bin? Ich bin doch ganz leise und die Regale sind so voll mit Büchern, dass man kaum hindurchsehen kann.
„Du kannst dich ruhig zeigen. Ich verpetze dich nicht.“
Ich starre auf meine Füße, traue mich nicht, hervor zu treten. Er darf hier sein, als Oberstufenschüler. Ich dagegen muss mich verstecken, wenn jemand in meine Bücherei kommt. Ein Stuhl wird zurückgeschoben. Schritte. Das erlösende Geräusch der sich schließenden Tür. Meine Nase berührt einen Buchrücken, als ich wieder durch den Spalt spähe. Er ist weg. Aber er hat den Bildband liegen lassen! Wenn man mit einem Buch fertig ist, dann räumt man es wieder ein. Sonst macht er das doch auch!
Ich rücke seinen Stuhl an den Tisch. „Birke?“ Müsste das nicht Plural sein? Überhaupt, wie kann jemand sechshundert Seiten Fotos von Birken machen? Ich schlage den Bildband auf. Keine Birken. Stattdessen guckt mir jemand mit narbigem Oberkörper entgegen. Ich lasse das Buch zufallen. So was hat er sich angesehen?
Ich brauche beide Hände, um den Bildband vom Tisch zu heben. Sie wirken winzig neben dem großen Buch. Die Signatur beginnt auch nicht mit „Na“ für Naturkunde, sondern mit „Ku“ für Kunstgeschichte. Die Lücke dort im Regal ist an der richtigen Stelle. Warum hat er sich bloß gestreichelt?
Kopfschüttelnd gehe ich zum Startpunkt meiner Tour. Ich laufe an allen Regalen entlang, meine Hand streift über die Buchrücken. Ich richte sie an der Bordkante aus, korrigiere falsch gestellte Bücher. Erst die Regale in der Mitte, Reihe für Reihe, dann einmal außen herum. Nur mit Ordnung kann eine Bücherei funktionieren. Ich bin gerne alleine hier.

Vor meinen Augen breitet sich die Landschaft des Roten Planeten aus. Krater und weite, eisen-(III)-oxid geprägte Flächen lösen sich ab. Wenn ich diese Bilder sehe, kann ich alles um mich herum vergessen. Dort oben würde ich gerne leben. Mit Blick auf Syrtis Major.
„Die Fotos sehen toll aus.“ Seine Stimme lässt mich von meinem Bildband aufschrecken. Direkt hinter mir steht der Junge, den ich gestern gesehen habe. Wieso habe ich ihn nicht reinkommen hören? Ich muss besser aufpassen. „Das ist ein Planet, nicht wahr?“ Zwei Hände legen sich auf meine Schultern und lassen mich steif werden. Er soll sie wegnehmen. Sofort! Meine Hände schlagen nach seinen. „Verzeihung!“, sagt er und weicht zurück. Endlich.
Ich weiß, dass ich das nicht machen soll. Ich soll immer zuerst sagen, wenn ich etwas nicht möchte. Das klappt aber nur, wenn ich nicht überrascht werde.
Er greift nach dem zweiten Buch, das ich zurechtgelegt habe. „Ist das auch über Planeten?“
Schnell halte ich es fest, spüre die Kraft, mit der er an dem Buch zieht. Ich halte dagegen, doch er streckt seine freie Hand aus und berührt meine. Sofort ziehe ich sie zurück. Das Buch entfernt sich aus meiner Reichweite. Mein Herz klopft. Ich will da heute weiter lesen. Ich brauche die Antworten in dem Buch. Aber wenn ich das sage, dann wird er fragen, warum. Und das soll er nicht wissen. Ich könnte zwar sagen, es ginge um meinen Bruder. Doch das wäre gelogen. Warum muss er mir das Buch wegnehmen?
„Falscher Planet. Fragen und Antworten für Eltern autistischer Kinder.“ Es klingt seltsam, wie er das sagt.
Ich spüre seinen Blick auf mir. Jetzt setzt er sich mir gegenüber, schaut direkt in meine Augen. Sofort senke ich den Blick. Die Seite rascheln ein wenig, wenn er umblättert. Immer wieder guckt er mich kurz an. Solange er da sitzt, kann ich mich nicht auf den Roten Planeten konzentrieren. Warum macht er das?
„Bist du der Junge, den sie ,heiße Herdplatte‘ rufen? Weil du nicht angefasst werden willst?“
Ich blättere langsam um. Das nächste Foto zeigt das Mare Erythraeum. Dabei ist das kein Meer.
„Ich habe beobachtet, wie du dich durch die Regale bewegst. Erst durchquerst du die Mittelgänge, dann passierst du die äußeren Reihen. Mit dem Finger wanderst du über die Buchrücken.“
Die Fingernägel meiner linken Hand graben sich tief in meine Handfläche. Die rotbraune Wüste vor meinen Augen verliert an Details.
„Seit du hier bist, herrscht in der Bücherei eine beeindruckende Ordnung.“ Er deutet auf die Tür. „Was für ein Kontrast zur Welt da draußen.“
Meine linke Hand schmerzt. In mir spannen sich Muskeln. Warum erzählt er das? Kann er nicht einfach abhauen?
„Weißt du, dass du niemandem in die Augen guckst? Weder auf dem Schulhof noch hier drin?“ Stille. Nicht mal Schritte draußen auf dem Flur. Er hält das Buch hoch. „Seit wann hast du diesen Verdacht?“
„Sei still!“ Ich springe vom Stuhl, er kippt, knallt auf den Boden. Ich will zur Tür, aber um mich herum verschwimmt alles, dreht sich. Mein Fuß bleibt an einem Stuhlbein hängen. Einen Moment später kauere ich auf dem Boden, die Knie unters Kinn gezogen. Ich hasse es, wenn das passiert. Aber ich kann es nicht steuern. Mit dem Ärmel wische ich mir über die Augen.
„Nach den Kriterien hier drin ist Autismus bei dir sehr wahrscheinlich.“
„Nein.“ Meine Stimme ist ganz leise. „Das darf niemand wissen!“
„Ich werde dich nicht verraten.“
Er schiebt seinen Stuhl zurück, kommt näher. „Was für ein Motiv!“ Er betrachtet mich von allen Seiten, eine Hand tastet durch die Luft. „Da trifft sich das Subtile und doch expressionistisch Grelle ...“ Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Ich will auch nicht fragen.
„Ich heiße Rüdiger.“ Rüdiger hockt sich vor mich. Meine Augen weichen seinem Blick aus. „Wie darf ich dich nennen?“
„Mein Name ist Simon. Ich bin elf Jahre alt.“ Mehr soll ich beim Vorstellen nicht sagen. Er ist älter als ich und kein Polizist.

In Rüdigers Bildband sind nur Körper. Alte Körper. Junge Körper. Männer. Frauen. Nackte Körper. Warum hat Birke so viele Menschen mit Narben fotografiert?
„Willst du nicht neben mir Platz nehmen, Simon? Birkes Bilder haben es verdient, richtig herum betrachtet zu werden.“
Ich schüttele den Kopf. Beim Betrachten drehe ich sie einfach um. Ich kann auch über Kopf lesen, allerdings bin ich dann langsamer und beim Blättern muss ich aufpassen, dass die Richtung stimmt. Ich soll aber nur so lesen, wenn mich andere nicht sehen können. Warum, weiß ich nicht.
„Daheim probiere ich mich auch an solchen Bildern.“ Er blättert weiter und weiter. Er stoppt an einem Bild von einem Mann, dessen Knochen unter der Haut deutlich hervorscheinen. In seiner Linken entdecke ich einen Totenkopf. Ob der echt ist? In der anderen Hand hält er ein Glas Wasser. Licht funkelt darin. „Das Wasser steht für das Leben. Der Totenkopf ist natürlich das Symbol den Tod. Hast du schon mal von Thanatos gehört? Dem Totengott?“ Er guckt mich kurz an. Klar weiß ich, was ein Totengott ist. „Birke wägt hier Leben und Tod gegeneinander ab. Das Bild heißt ...“ Ich höre nicht zu. Da fehlt doch ein Zahn im Gebiss des Totenkopfes. Der ist echt! Rüdiger seufzt und blättert weiter zum nächsten Bild. Hin und wieder fährt er mit einem Finger über einen der Körper. „Willst du das auch?“

In so einem Raum war ich noch nie. Was für eine Unordnung! Ich weiß gar nicht, wo ich hinsehen soll. Auf dem Schreibtisch liegen Berge von Papier. Ein paar Fotos, einige hinter Glas. Auf einem liegt eine Rasierklinge. Stifte. Kaffeebecher mit angetrockneten Resten. Ein Tütchen mit Tabletten. An der Wand dahinter hängen viele Fotos, alle zeigen Rüdiger. Auf einem sehe ich ihn mit Totenkopf und Wasserglas. Das von Birke gefällt mir besser. Mit einem Finger richte ich es aus, damit es parallel zu den anderen hängt.
Die Wand neben dem Fenster wird fast völlig von einer weißen Leinwand eingenommen. Sogar auf dem Boden läuft sie weiter in den Raum. Sie zieht mich magisch an.
„Vorsicht! Zieh die Schuhe aus!“
Das vierfache Ritsch der Klettverschlüsse erfüllt den Raum. Tastend betrete ich die Leinwand. Sie fühlt sich glatt an. Zwei Schalter klicken. Es wird hell um mich herum. Sehr hell. Ich kneife die Augen etwas zusammen. In der Mitte steht ein weißer Würfel.
„Setze dich!“
Ich streiche mit einer Hand drüber. Er fühlt sich genauso an, wie die Leinwand. Das gleiche Material?
„Setze dich, bitte!“
Die Hände in den Schoß gefaltet, blicke ich zur Kamera. Blitz. So grell, dass ich die Augen zukneife.
„Ja, das ist gut. Ein Stück nach rechts.“
„Was soll nach rechts?“
Rüdiger stöhnt. „Dein Kopf. Schau bitte zur Tür.“ Blitz.
Er sucht etwas, hebt einen Teddybär auf und wirft ihn mir zu. „Fang!“
Der Teddybär fliegt an meinem Kopf vorbei, prallt gegen die Leinwand und rutscht vor meine Füße. Ich hebe ihn auf. Er ist schön, obwohl an ein paar Stellen das Fell fehlt. Ich drücke ihn an meine Brust. Blitz. Ein stechender Schmerz füllt meinen Kopf.
„Das ist so grell. Ich mag nicht mehr. Ich hab‘ Kopfweh!“
„Eines noch. Du machst das sehr gut.“
Ich nicke und atme tief durch. Fotografiert zu werden, ist anstrengend.
„Setze dich vor die Kiste. Knie an die Brust. Arme drumherum. Den Kopf legst du auf die Knie.“
Kauernd hocke ich vor dem Würfel. Den Teddy habe ich an meine Seite gesetzt. Rüdiger kommt hinter der Kamera vor, schiebt den Teddy weiter von mir weg, guckt nochmal durch die Kamera. Er schiebt ihn etwas an mich heran, dreht ihn und kehrt wieder zurück. Blitz.

Rüdiger legt vier Fotos auf die Planetenlandschaft vor meiner Nase. Ich ziehe den Bildband drunter vor und lege ihn zur Seite. Er rückt die Fotos wieder zurecht.
„Ich verstehe es, dein Wesen auf Papier zu bannen, was?“ Ich erwidere seinen Blick nicht.
„Welches Wesen?“ Die Fotos sind schwarzweiß, als wären sie auf einem anderen Planeten gemacht worden. Man kann sehr viele Details erkennen. Sogar einzelne Haare. Und wo dem Teddy das Fell fehlt.
„Wenn du die Augen nicht jedes Mal geschlossen hättest, würdest du darauf aussehen, wie ein normaler Junge.“
„Das Licht war so grell.“
„Soll ich dich im Dunkeln fotografieren?“ Er wuschelt mir durch die Haare. Ich ziehe den Kopf weg. „Die Augen geben den Fotos sehr viel Ausdruck.“
„Die sehen toll aus.“ Mein Blick wandert von einem Foto zum anderen. „Darf ich die haben?“
„Natürlich. Die sind für dich.“
„Können wir auch so eines machen, wie über deinem Schreibtisch? Mit Totenkopf?“
Er sinkt auf den Stuhl neben mir, schließt die Augen. „Diese Symbolik! Leben und Tod, abgewogen durch einen jungen Autisten.“ Luft entweicht aus seinem Mund. Eine Hand krallt sich in sein Hemd. „Fantastisch!“
Ich frage nicht nach, wovon er da redet. Mein Blick klebt wieder an den Fotos. Ich möchte auch ein Totenkopffoto haben.
„Einfach fantastisch!“

Heute ist es warm und stickig hier drin. Barfuß und mit nacktem Oberkörper huscht Rüdiger zwischen der Kamera und den Lampen hin und her. Sind das mehr als letztes Mal? Das Fenster hat er mit einem weißen Laken zugehängt.
„Ich habe Durst. Kann ich was trinken?“
„Unter dem Schreibtisch steht eine angefangene Flasche Wasser. Bediene dich.“
Der Verschluss knirscht ein wenig beim Öffnen. Ich schaue mich um. Kein sauberes Glas weit und breit. Aber es geht auch ohne. Ich nehme einen großen Schluck und verziehe sofort das Gesicht. „Das schmeckt bitter!“
„Verzeihung. Ich trinke es immer mit einem Spritzer Grapefruitsaft.“
Mein Durst ist stärker. Ich nehme einen weiteren Schluck. Und noch einen. Warum guckt Rüdiger mir dabei zu? Hat er auch Durst?
Etwas klackt leise. Aus dem Augenwinkel sehe ich Rüdiger von der Tür zurückkommen. „Warum schließt du ab?“
„Damit wir ungestört sind. Die Totenkopfszene braucht höchste Konzentration.“
Ich schraube die Flasche wieder zu und stelle sie unter den Tisch.
„Zieh dein T-Shirt aus. Und die Socken auch. Das gibt mehr Atmosphäre.“
Mein T-Shirt hänge ich über die Stuhllehne, die Socken lege ich nebeneinander auf die Sitzfläche. „Jetzt sehe ich aus, wie du. Bis auf deine Narben.“ Stille.
Rüdiger holt den Totenkopf und das gefüllte Kristallglas aus einem Regal, stellt beide auf den Würfel, winkt mich herüber. Er schiebt mich in die Mitte vor die Leinwand, richtet meinen Körper mit sanftem Fingerdruck aus. „Bewege dich nicht.“ Ich halte die Luft an. Wie bei einer Puppe positioniert er Kopf, Arme und Beine. In meine linke Hand legt er den Totenkopf. Kunststoff. In meine Rechte drückt er den Stil des Glases.
Er guckt durch die Kamera, kommt zu mir, hebt die Hand mit dem Totenkopf ein wenig an, huscht zur Kamera zurück. Ich schließe die Augen. Blitz. Tiefes Ausatmen.
„Etwas mehr Sorgfalt, bitte. Nicht bewegen!“
„Mir ist schwindelig.“
„Nicht reden!“ Blitz.
„Rüdiger!“ Jemand drückt die Klinke runter, rüttelt an der Tür. Das Glas rutscht aus meiner Hand und zerbricht auf dem Boden. „Rüdiger? Bist du da drin?“
„Jetzt nicht. Wir arbeiten!“ Er kommt mit großen Schritten zu mir herüber.
„Das, das wollte ich nicht!“ Hektisch lege ich den Totenkopf auf den Würfel. Er soll nicht auch kaputtgehen. Ein großer Schritt rückwärts.
„Halt! Die Scherben!“ Sein Ruf erschreckt mich, ich verliere das Gleichgewicht, mache einen Schritt zur Seite. Mein Fuß rutscht in der Pfütze weg und ich lande hart auf dem Boden. Glücklicherweise nicht in den Scherben.
„Wessen Stimme war das?“, tönt es durch die Tür. Wieder Rütteln. „Rüdiger! Mach auf!“
„Ja, ich bin nicht alleine. Simon hat mich gebeten, ihn zu fotografieren. Nun lass uns in Ruhe.“ Kopfschüttelnd hockt er sich neben mich und schiebt mit einer Hand die Scherben zusammen. „Einfach ignorieren.“ Ruckartig zieht er die Hand zurück. Blut tropft auf die Leinwand. „Ist nicht schlimm. Mit Glück gibt es eine Narbe.“ Mit blutigen Fingern greift er nach meiner Linken und dreht meine Handfläche nach oben. „Lass uns gleich werden!“ Die Kratzer, die meine Fingernägel hinterlassen haben, sind in dem hellen Licht deutlich zu sehen.
Ich rutsche ein Stück zurück. „Mir ist komisch. Ich will aufhören.“ Sein Griff wird fester. „Ich will nach Hause!“
„Das geht nicht. Spürst du denn nicht die Intensität dieses Momentes? Das muss festgehalten werden!“ Er dreht meine Hand zur Kamera, guckt selbst hinein. Blitz. Warum blitzt es, wenn er doch neben mir hockt?
Meine Linke hält er immer noch fest umklammert. Mit der freien Hand hebt er eine Scherbe auf. Ich will von ihm weg, aber meine Beine finden keinen Halt. Die Leinwand ist so glatt. Ein Fuß rutscht in die Scherben. Ich will mich nicht schneiden! Blut. Mein Blut. Nicht viel, aber deutlich zu sehen. Mein Atem wird immer schneller. Warum spüre ich keinen Schmerz? Da ist doch Blut! Wenn man sich schneidet, tut das immer weh! Ich versuche, mich von ihm weg zu drehen, aber er ist stärker.
„Halt still, verdammt! Um so schneller sind wir fertig.“ Jetzt ist seine Hand mit der Scherbe kurz vor meinem Oberkörper. Zwei Finger Abstand, dann nur noch einer, dann wieder zwei Finger, dann einer. Mein Brustkorb hebt und senkt sich ganz schnell. Ich schnaufe.
„Ich will das nicht! Hör auf!“
Rüdiger drückt die Scherbe an meine Brust und zieht sie langsam herunter. Warum spüre ich nichts? Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er voller Watte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Ich sehe Blut. Viermal ritzt er meine Haut auf. Und einmal schräg herüber. Er wartet, betrachtet die Schnitte. Blut läuft herunter. Blitz. Er dreht den Kopf zur Kamera. Blitz. Jetzt setzt er sich neben mich, legt meine Hand fest umklammert in seinen Schoß, drückt die Scherbe an mein Handgelenk. Blitz. Auch dort ist Blut. Ich weiß, dass ich schreie, aber ich kann mich nicht hören. Blitz. Alles verschwimmt. Es wird dunkel.

An meinem Schreibtisch sitzend, blicke ich auf den Roten Planeten. Dort hätte ich gerne ein Häuschen. Das wäre so schön. Jeden Tag könnte ich auf die Landschaft gucken.
Nach der Schule begleitet mich jetzt immer jemand nach Hause. Aber das macht nichts. Ich habe mein Lieblingsbuch jetzt hier für mich alleine. Und das Buch mit den vielen Antworten steht im Wohnzimmer.

 

Hallo Peter Franke,

vorab erst mal, ich hoffe doch das Du und Timo, also ihr beide in der nächsten Copywriterunde mit am Start seid. Das ist nämlich ein feiner Ansatz (einer von vielen anderen möglichen), zwei Protagonisten in einer neuen Geschichte zusammenzuführen. Also, auf in die Kreativwerkstatt mit Euch!

Ich denke, der Ansatz war, hier zwei neue, eigenständige Geschichten zu entwickeln. Und Du hast das große Glück, hier tatsächlich aus einem Fundus von Möglichkeiten zu schöpfen, den diese beiden Helden ermöglichen. Das ist schon ein großes Glück. Vom Handlungsverlauf finde ich das durchaus auch gelungen. Also die Entwicklung der Geschichte. Aber - und nun das aber :), also, wenn ich Rüdiger nicht kennen würde, würde er sich aus Deiner Geschichte heraus sich für mich nicht erschließen und würde wie ein Fremdkörper auf mich wirken, den ich nicht zu greifen vermag; aber ich denke, dass die Geschichte für diejenigen, die jetzt nicht die Lust haben, die anderen beiden Vorgänger zu lesen, schwierig ist, wenn es um die Figur des anderen Jungen geht. Bevor es zu der blutigen Szene vor der Kamera kommt, wirkt Rüdiger wie ein recht normaler Junge und man fragt sich sowieso schon, warum er sich mit dem viel jüngeren Sonderling einlässt. Aber gut, das charakterisiert ihn ja dann doch. Was ich aber überhaupt nicht nachvollziehen konnte, waren die Schnitte, die er ihm zufügt. Warum tut er das - hab ich mich gefragt. Du erwähnst zwar das Totenkopfbild, aber du ersparst es Dir, zu beschreiben wie es aussieht, was dargestellt wird. Es könnte ein fröhliches, lustiges, heiteres, verspieltes Bild sein. Ebenso den Bildband, den Rüdiger sich anschaut. Körper. Aber nicht von zerstörten Körper. Das kann genauso ein Bildband über ein Nudistencamp sein. Ich will damit sagen, dass Rüdigers Wahnsinn am Ende ein bisschen wie aus der Luft gegriffen erscheint. Es wirkt wenig glaubhaft, eher konstruiert, damit die Geschichte einen Höhepunkt hat.

Er sitzt genauso versunken in einen Bildband am Tisch, wie ich.
in einen Bildband - über einen Bildband?

„Die Fotos sehen toll aus. Allerdings könnte die Ausleuchtung noch besser sein.“ Seine Stimme lässt mich von meinem Bildband aufschrecken. Er steht direkt hinter mir. „Ist das der Mars?“

Die Ausleuchtung. So so. Und er weiß, dass es sich um den Mars handelt. Und wie bitte, leuchtet man den Mars besser aus? :D

Er soll sie wegnehmen. Sofort! Schneller Atem. Meine Hände schlagen nach seinen. „Verzeihung!“, ruft er und weicht zurück. Endlich.

schneller Atem ist fast zu viel - ich könnte auch ohne
und ruft finde ich over, ein einfaches sagt, fände ich der Situation entsprechender

„Du magst keine Berührungen?“

Von einer Geste - fass mich nicht an - gleich auf etwas allgemeines und nicht situationsspezifisches zu schließen - naja. Ohne die Frage funktioniert es auch.

Warum erzählt er mirKOMMA was ich mache?

Warum erzählt er mir das?

Beide Hände liegen auf den Ohren.

Wer den Vorgänger nicht kennt, wird damit nichts anzufangen wissen. Daher ein Satz der im luftleeren Raum steht und eigentlich auch nicht sein muss.

Ich will zur Tür, aber um mich herum verschwimmt alles. Alles dreht sich.

Ich will zur Tür, aber um mich herum verschwimmt alles, dreht sich.

„Nach den Kriterien in dem Buch ist Autismus bei dir sehr wahrscheinlich.“

Hat er es gelesen?

In Rüdigers Bildband sind keine Fotos vom Mars, nicht mal von Planeten, nur Körper. Alte Körper. Junge Körper. Männer. Frauen. Hässliche Körper. Nackte Körper.

Hier muss mehr hin. Wie gesagt - ein FKK-Badestrand wäre auch zutreffend. Alles fröhliche Menschen da ;).

An der Wand dahinter hängen ganz viele Fotos. Sind die alle von ihm?

ganz will mehr, als es liefert - ganz kann man streichen

„Vorsicht! Zieh bitte die Schuhe aus, bevor du die Leinwand betrittst.“

"... bevor du die Leinwand betrittst." Klingt mir nicht nach einem Jugendlichen.

Vorsichtig tastend betrete ich die Leinwand.

Auch so ein Streichkandidat.

„Die ersten Abzüge der Bilder, die ich von dir gemacht habe.“

Der redet aber auch ... :) Probiere den Absatz mal ohne die Einleitung?

„Können wir auch so eines machen, wie auf deinem Schreibtisch? Mit Totenkopf?“
Er sinkt auf den Stuhl neben mir, schließt die Augen. „Diese Symbolik! Leben und Tod, abgewogen durch einen jungen Autisten.“

Spätestens hier sollte der Leser mehr wissen, als, dass es auf dem Bild, irgendwo und irgendwie einen Totenkopf gibt.

„Ist nicht schlimm. Mit Glück gibt es eine Narbe.“

Und hier denkt der Leser - äh - wieso ist es Glück, wenn da eine Narbe bleibt? Jetzt kann man sagen, dass sich erst ab da Rüdigers "wahres" Wesen dem Leser erschließen soll, wäre ja dramaturgisch denkbar, aber dann muss es subtiler in seiner Steigerung erfolgen. Bei Dir - oh, er steht auf arben- zu oh - er scheidet Simon. Zack, zack und Ende. Da komm ich nicht nach.

Einmal. Zweimal. Dreimal. Ich sehe Blut. Viermal ritzt er meine Haut auf. Und einmal schräg herüber. Er wartet, betrachtet die Schnitte. Blut läuft herunter. Warum tut das nicht weh? Blitz. Er dreht den Kopf zur Kamera. Blitz. Jetzt setzt er sich neben mich, legt meine Hand fest umklammert in seinen Schoß, drückt die Scherbe an mein Handgelenk. Blitz. Auch dort ist Blut. Blitz. Alles verschwimmt. Dann wird es dunkel.

Da denke ich nur, warum tut der eine das und warum lässt der andere sich das gefallen? Ich komm da nicht mit.

Ich habe mein Lieblingsbuch jetzt hier für mich alleine. Und das Buch mit den vielen Antworten steht im Wohnzimmer.

Das ist irgendwie kein befriedigendes Ende. Das mit der Begleitung schon eher. Für mich jetzt. Ich verstehe die Aussage hinter diesen Sätzen nicht.

Überhaupt die Aussage der Geschichte ... ich finde das Thema nicht. Ich finde nur die Erfüllung der Aufgabenstellung, aber eben nicht das Eigenständige. Aber wie gesagt, wäre schön, die Geschichte ohne Vorkenntnisse lesen zu können.
Aber das ist generell ein Problem bei den Copywrites. Deshalb gibt es auch so ganz wenige, die gelingen - es ist wirklich eher die Ausnahme, als die Regel. Das ist schon eine echt schwere Angelegenheit, aber auch eine verdammt gute Übung.

Beste Grüße Fliege

 

Moin Fliege,

die kleinen Sachen habe ich eben eingebaut, für die Großen brauche ich noch etwas Zeit.

Die Geschichte soll durchaus eigenständig sein, aber dafür ist das Bild von Rüdiger tatsächlich noch zu dünn. Dass er als normaler Jugendlicher durchgeht, war nicht jedenfalls geplant. Aber die abgehobene Sprache alleine reicht da nicht. Es fehlt z.B. dass er Simon schon eine Weile beobachtet hat, dass er gesehen hat, welche zwei Bücher Simon sich "reinzieht", dass er das Fachbuch selbst gelesen hat.
Ich werde Simon nochmal interviewen und ein paar Passagen ergänzen. Dann wird auch klar, warum er sich nicht wehren kann.

Was das Thema angeht, da habe ich mir zwar eines zurecht gelegt, aber wenn Du schreibst, dass Du keines entdeckt hast, dann kriege ich Zweifel, ob ich das wirklich durchgehalten habe. Ich werde da nochmal drauf gucken, wenn ich die fehlenden Stücke ergänzt habe.

Dein Kommentar hilft mir richtig weiter. Danke!
Peter

 

Moin,
nachdem sich gezeigt hat, dass die erste Version die Kenntnis der Vorgängergeschichten vorausgesetzt hat, habe ich die Geschichte nochmal überarbeitet, damit sie eigenständig wird.

Ich bin gespannt, ob das gelungen ist und freue mich auf Eure Kommentare!
Peter

 

Hey Peter,

ja, sie funktioniert :). Sogar sehr gut. Also, ich kann ja nur für mich sprechen, aber ich finde sie jetzt sehr rund. Rüdigers Narbensucht wird sehr viel deutlicher und dadurch liegt die Szene vor der Kamera nun auch gleich auf einer ganz anderen Ebene. Man erfährt im Vorfeld genug, um über Rüdiger "Bescheid" zu wissen und die Handlung einordnen zu können. Denk ich, natürlich hab ich inzwischen durch die anderen Geschichten genügend Infos bereits im Kopf und kann die ja nicht klar ausgrenzen. Besser gefällt mir auch das Ende, aber das ist ja eh immer was Subjektives. Kann jetzt gar nix mehr mit Kritik ;).

Besten Gruß Fliege

 

Moin Fliege,
danke für die Rückmeldung. Es freut mich, dass sich die Überarbeitung gelohnt hat.

Gruß Peter

 

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