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- 10.07.2002
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Schwarzer Freitag
Er rülpst vernehmlich.
„Sorry.“ Robinson blickt sich am Tisch um, doch da ist niemand, der ihm diesen Faux Pas ankreiden könnte.
Vollgefressen erhebt er sich, steckt das Messer in die Gürtelscheide und macht sich auf den Weg zu seinem Ruheplatz am Strand. Warm kitzelt der Sand die nackten Füße. Das Meer kommt ihm in langgezogenen Wellen entgegen, schaut sich in aller Ruhe um und beschließt, wieder umzukehren. Robinson lehnt sich mit dem Rücken an eine Kokospalme uns schabbert sich mit einem wohligen Grunzen an der rauen Rinde. Der Wind säuselt mit den Stimmen tausend arabischer Jungfrauen durch die Palmenzweige. Robinson gähnt. Er legt sich in den Schatten der Palme und ist schon am Hinüberdämmern, als ihm eine Kokosnuss auf den Kopf knallt. Erschrocken springt er auf.
„Verdammte Scheiße!“
Doch das interessiert niemand. So wie es keinen interessiert, ob er früh des Morgens aufsteht oder eine volle Woche nicht aus den Binsen kommt, ob er sich täglich wäscht oder ob er vor sich hinstinkt, ob er sich rasiert, ob er isst, ob er trinkt, ob er atmet oder verreckt. Interessiert nicht. Keiner da. Nur die Ziegen. Und diese nicht allzu neue Erkenntnis ist ihm einen weiteren Fluch wert.
„Verdammte Scheiße!“
Er wiederholt sich. Doch auch das interessiert niemand. Das Wissen um seine Einsamkeit und der immer größer werdende Wunsch nach Gesellschaft bringt ihn in gefährliche Nähe zu dem, was er am meisten fürchtet: Wahnsinnig zu werden. Vielleicht sollte er sich ablenken. Kurz schaut er zu den Ziegen, doch es ist heiß, er ist träge und irgendwie fehlt die rechte Lust. Er schaut zu den drei durch Kokosfasern zusammengehaltenen Baumstämmen, die er in Ermangelung eines besseren Wortes Boot nennt. Sein Blick wandert weiter den Strand entlang. Er sieht Mangroven sich wie skelettierte Finger aus dem Dschungel nach dem Wasser strecken. Er sieht einen Menschen schwankend über eine am Boden liegende, langsam vor sich hinfaulende Kokospalme balancieren. Er sieht einen aufgeschreckten Papagei lauthals vor sich hinschimpfend in den Mangroven...
Moment mal. Leichte Drehung des Kopfes. Tatsächlich. Was da ungeschickt über die Palme kraxelt und gerade ausrutscht ist keine Fata Morgana. Leider aber auch keine Frau. Ein kurzer Blick zu den Ziegen. Robinson seufzt. Na ja, man kann nicht alles haben. Mit einem satten Platscher landet der Fremde im seichten Wasser der Dünung. Ungeschickt rappelt er sich hoch und schüttelt sich dann das Wasser aus seinen krausen Haaren.
Robinson nähert sich vorsichtig, doch von dem Kraushaarigen scheint keine Gefahr auszugehen. Jetzt popelt er sich Wasser aus den Ohren. Doch was ist das? Je näher Robinson dem Fremden kommt, umso deutlicher bringt es die Sonne an den Tag. Der Mensch ist ausländischer Herkunft, ein Farbiger gar. Leider muss Robinson nach den ersten freundlichen Worten der Begrüßung feststellen, dass dieser Fremdling noch nicht einmal die einfachsten Regeln der englischen Grammatik beherrscht. Konversation ist schwerlich möglich. Robinson versucht dem Fremden einen Namen zu entlocken. Vergebens. Das aber geht nicht. Da ein jegliches Lebewesen einen Namen haben muss, sucht Robinson nach einer Inspiration. Das Boot, die Palmen, die Ziegen, das Haus, der immerwährende Palmenkalender. Was haben wir heute für einen Tag? Freitag! Na also.
Er tauft den freundlich vor sich hingrinsenden Schwarzen Freitag. Sozusagen sein Schwarzer Freitag, aber das ahnt Robinson zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wenigstens kann er sich jetzt die Zeit vertreiben, indem er vor diesem Barbaren den Zauber der englischen Sprache ausbreitet. Und Freitag lernt schnell, sehr schnell. Ist doch intelligenter als gedacht, denkt Robinson.
Die erste Konversation:
Robinson: „Ich Robinson, du Freitag.“
Freitag: „Die Substanz dieser Sentenz scheint mir scharf umrissen und in ihrer Logik nicht zu widerlegen, auch wenn mir die Kürze des Satzbaus nicht ganz geläufig ist.“
Schon hier zeigt sich, dass Freitag kein Freund kurzer Statements ist. Noch aber dünkt Robinson nichts arges.
Wochen später jedoch ist es nicht mehr zu überhören. Freitag labert. Von seiner Heimat erzählt er, von seinem Dorf, seiner Familie, seiner Frau, seinen Kindern, von seinen Ziegen sogar. Wozu braucht der Mensch Ziegen, wenn er doch eine Frau hat, fragt sich Robinson. Und immer die selben Geschichten. Robinson könnte heulen vor Wut. Er kann sie nicht mehr hören. Doch sobald Freitag seiner angesichtig wird, fängt er an: „Hab ich dir eigentlich schon erzählt?“
Mit der Zeit wird es immer schlimmer. Robinson reagiert körperlich. Anfangs noch ein harmloses Ohrensausen, wird es mit der Zeit spektakulärer. Er bekommt eitrige Hautausschläge, konvulsivische Zuckungen und Zahnfleischbluten. Schüttelfrost und asthmatisches Husten wechseln sich ab, Fieber stellt sich ein. Freitag kümmert sich rührend um ihn, bereitet ihm das Frühstück, kocht ihm das Mittagessen, und schildert ihm des Abends bei gegrilltem Fisch in Kokossauce in epischer Breite von den namenlosen Krankheiten seiner Heimat. Der Heilungserfolg dieser fürsorglichen Belagerung ist enorm. Schon am nächsten Tag macht Robinson sich auf, den Hausberg der Insel zu besteigen. Es sei unbedingt notwendig, dies allein zu unternehmen, da es sich hierbei um ein kompliziertes englisches Ritual handele, von dem Robinson bisher nur noch keine Gelegenheit gehabt habe zu berichten. In drei bis vier Tagen sei er zurück, ganz bestimmt aber in einer Woche. Freitag solle diesbezüglich nicht so ungeduldig sein.
Tage später sitzt Robinson auf der Spitze des Berges, kaut gedankenverloren an einem Grashalm und genießt die Aussicht. Plötzlich raschelt es im Dschungel hinter ihm. Er fürchtet ein wildes Tier, auch wenn das wildeste, was er auf dieser Insel bisher gesehen hat, ein besoffenes Ferkel gewesen war. Besoffen, weil es seinen Rumvorrat geplündert hatte; gewesen, weil es unverzüglich in den Zustand eines Spanferkels überging.
Doch was da schweißgebadet aus dem Grün hervortritt ist weder wildes Tier noch besoffenes Ferkel. Schlimmer. Es ist Freitag, der, kaum zu Atem gekommen, kundtut, welch Sorgen er sich gemacht habe, immerhin seien schon mehr als zwei Wochen ins Land gegangen. Dann lässt er sich aus über den beschwerlichen Aufstieg, um sofort zu versichern, dass sich wegen der phänomenalen Aussicht aber jegliche Anstrengungen gelohnt hätten. Und so weiter und so fort.
Robinsons Laune sinkt so schnell wie sein Blutdruck steigt. Er köchelt, er schmaucht, erste Rauchwolken umwölken seinen Kopf, Dampf dringt aus Nase und Ohren, die Augen sind blutunterlaufen, die Arme flattern auf und ab, gleich wird er abheben und von des Gipfels Höh´ herniederschweben, einem Adler gleich. Aber selbstverständlich kann er noch so sehr flattern, ein Vogel wird er nimmermehr. Stattdessen öffnet sich sein Mund und ein Schrei bahnt sich seinen Weg, steigt empor aus der Tiefe der gepeinigten Seele, um sich malträtierend in die Gehörgänge des Schwarzen zu quälen:
„Halt die Fresse!“
Und als Freitag tatsächlich verstummt, zu verdutzt ob der Lautstärke und des Inhalts des Gehörten, fährt Robinson fort:
„Halt die Fresse. Verpiss dich. Lass mich in Ruhe. Schwing deinen schwarzen Arsch auf das Boot und hau ab.“
Nichtahnend, dass die Feinheiten der englischen Grammatik zu solcherart Äußerungen missbraucht werden könnten, zieht sich Freitag ohne eine Erwiderung zurück. Tief an der Seele verletzt steigt er den Berg hinab, spürt weder spitze Steine noch dornige Ranken, sieht nicht Hütte noch Ziegen, immer weiter wandert er Richtung Strand. Er geht zu den drei Baumstämmen, die er in Ermangelung eines besseren Wortes drei Baumstämme nennt, schiebt sie ins Wasser, springt auf und entschwindet langsam in der blauen Unendlichkeit des träge vor sich hinschlafenden Meeres.
Tage später sitzt Robinson wieder vor seiner Hütte und pult sich die letzten Reste eines kargen Abendessens aus den Zähnen. Er ist einsam, fühlt sich im Stich gelassen und fragt sich zum wiederholten Male, warum Freitag seinen kleinen Ausbruch so wörtlich genommen hat. Da ihm aber keine Antwort einfallen will, rülpst er kurz und beschließt, die Ziegen zu besuchen.