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Schwarze Erde
Blutrot stand die Sonne am Horizont. Leise rauschte der Wind in den Blättern der Bäume und brachte die abendliche Abkühlung eines heißen Sommertages. Sie stand vor ihrer Hütte und betrachtete das Schauspiel der Natur. Das tat sie jeden Tag, seit fünf Tagen beginnend. Eine Träne rang aus ihrem Auge und lief die Wange hinunter.
Die alte Frau bewohnte die Hütte in einem kleinen Dorf mit ihrem Sohn. Dieser war um die 20 Jahre, von kräftiger Statur und einem abenteuerlichen Gemüt. Jeden Morgen zog er aus, um das Vieh auf die saftigen Wiesen zu treiben und die Felder zu bestellen. Er war ihr ganzer Stolz.
Die Landwirtschaft blühte gar prächtig in der kleinen Gemeinde, gelegen an einem wasserreichen Fluss inmitten einer weiten Berglandschaft. Der Älteste, ein kleiner grauhaariger Mann gestützt auf einem mit Ornamenten verzierten Stock, kannte den Grund, welcher solch reiche Gaben bescherte. Schwarze Erde nannte er es. Schwarze Erde.
Einige Tagesmärsche westlich befand sich ebenfalls ein kleines Dorf. Die Dürre der Sommermonate traf die Bewohner hier besonders hart. Die Felder waren übersät mit verdorrtem Getreide und auf den Wiesen lagen die Skelette des verdursteten Viehs. Die Bewohner jenes Gebietes nährten sich nur noch von der Hoffnung, dass bald Regen fallen und dem Leid ein Ende setzen würde. Tage, Wochen und sogar Monate vergangen, aber der lebensspende Saft blieb aus. Der Dorfälteste suggerierte nach erfolglosen Warten den Göttern zur Besänftigung ein Opfer zu erbringen. Die Wahl fiel auf eine der abgemagerten Ziegen, von denen nur noch einige wenige vorhanden waren. Diese schien den Bewohner Tribut genug. Regnen, tat es dennoch nicht. Aus dem Missmut heraus, meldete sich ein junger Bursche zu Wort. Er beschimpfte den Alten, der die Gemeinde mit seinem Hokuspokus noch den Untergang bescheren werde. „Verdursten und Verhungern werden wir alle.“, mahnte er. Der Alte winkte ab und ging in seine Hütte. Der Jüngling, er ist von einer kräftigen und anmutigen Gestalt, trat vor die Bewohner: „Ich habe von einem Dorf nur wenige Tagesmärsche nach Osten gehört, bei denen sind die Felder gut bestellt. Auch Wasser gibt es dort im Überfluss. Ich weiß nicht warum Gott uns die Bürde auferlegt hat zu dursten und zu hungern. Einer Schuld bin ich mir nicht bewusst. Seit ihr es? Drum meine ich, diese Ungerechtigkeit geht nicht mit rechten Dingen zu. Der Teufel muss seine Finger mit im Spiel haben.“ Die Bewohner stimmten mit dem Redner ein. Dieser, sich der Aufmerksamkeit seiner Leidesgenossen bewusst, wetterte weiter: „Nicht wir sollten hier krepieren. Nein, die Gottlosen, die sich fälschlicherweise an unseren Früchten nähren, sollten es. Holen wir, was uns zusteht!“ Grölend über diese Worte stand der Beschluss. Das eigene Elend und ein Angriff auf das gottlose Dorf, so war sich ein jeder einig, ist der Wille Gottes, um sich von dem Einfluss des Teufels auf Erden zu befreien. Gewinnen, das Stand außer Frage, konnte nur das Gute.
Die Vorbereitungen für den bevorstehenden Angriff liefen auf Hochtouren. Aus dem Metall, welches an den Karren und Werkzeugen verwendet wurde, diente als Rohstoff für Schwerter, Rüstungen und Speere. Tag und Nacht arbeiteten enthusiastisch die Dorfbewohner, um der Gottesaufgabe gerecht zu werden. In einigen Tagen schon, so sah es der Plan vor, sollte es zum entscheidenden Schlag kommen. An genau diesem entscheidenden Tag stand der Älteste vor den Kriegern und mahnte die Art der Konfliktlösung. Der Anführer trat vor und stieß ihn mit einer kräftigen Armbewegung bei Seite. Grölend und mit den Waffen klirrend, trampelte die Meute los und verschwand in einer dunklen Staubwolke. Zurück blieb der Alte, den, in seinen Augen, Törichten hinterher blickend, und grummelte: „Der Teufel hatte Einfluss auf diese Welt, aber sein Werk ist nicht jenes Dorf, nach dem ihr so begierig seid.“
Ein Wanderer, erschöpft und ausgehungert von seiner Reise, kam in das am Fluss gelegene Dorf. Er beobachtete, den Eifer und die Friedlichkeit, mit der die Bewohner ihrem Tagewerk nachgingen. Idyllisch. Der Reisende ließ sich zum Dorfältesten bringen. „Erlaube, dass ich ihre Zeit in Anspruch nehme. Wie ich sehe betreibt ihr eine ganz und gar florierende Landwirtschaft. Das schafft nicht jeder. Ein Dorf, drei Tagesmärsche im Westen ist es gelegen, geht es bei weitem nicht so gut. Ich durchreiste dieses Dorf und konnte vernehmen, dass es einen Angriff plane. Einen Angriff auf euer Dorf.“ „Auf unser Dorf.“, erwiderte der Alte, „Aber warum?“ „Den Grund habe ich nicht ganz mitbekommen. Nur soviel, es handelt sich wohl um eine von Gott berufene Aufgabe.“ „Von Gott berufen! Wie kann das sein? Wir leben hier friedlich in Gotteswillen. Keiner Sünde sind wir uns bewusst. Warum sollte er ausgerechnet uns bestrafen wollen?“ Der Alte zog seine Stirn in Falten und fragte den Wanderer mit leiser aber kräftiger Stimme: „Gibt es einen Weg diplomatischer Verhandlungen.“ „Die Überzeugung, in meinen Augen eine andere Form von Neid, jener Krieger ist zu stark, soweit ich das mitbekam. Verhandlungen zwecklos.“, erwiderte dieser. „Nun gut. Es bleibt uns ja scheinbar nichts anderes übrig.“ Nach diesem Satz stand der Alte auf, bedankte sich für die Auskunft und trat aus der Hütte.
Das Volk versammelte sich um den Alten. Er fing an mit pathetischer Gestik die drohende Gefahr aus dem Westen darzustellen. Die Bewohner des Dorfes wussten, welche Konsequenzen ein Nachgeben hätte. Besetzung der Gemeinde durch Barbaren. Willkürliche Unterdrückung und Misshandlungen wären an der Tagesordnung. Diese Qualen, welche durch den Ältesten noch lebhafter dargestellt wurden, wollte sich keiner unterziehen. „Kampf.“, so hallte es durch die Menge.
Mit Waffen, die bis weilen nur zur Jagt benutzt wurden, rüstete sich jeder, den die Kontrolle einer fremden Macht widerstrebte. Auch der Sohn jener alten Frau nahm seinen Speer und ein Messer, verabschiedete sich und trat, mit einem leidenschaftlichen Feuer in den Augen, vor die Tür. So hatte sie ihn vorher noch nicht erlebt. Ihr Gefühl sagte, sie sollte ihn nicht ziehen lassen, aber ihr Verstand widerstrebte dem Gedanken sich diesen Barbaren auszuliefern.
Fünf lange Tage ist das nun schon her, seitdem ihr Sohn die Hütte verließ und in den Kampf zog. Fünf lange Tage und noch immer keine Nachricht von ihm. „Ob er noch lebt.“, fragte sie sich. Ihr Herz verbot es diese Frage innerlich mit einem Nein zu beantworten. „Natürlich würde er noch leben. Ganz bestimmt sogar. Aber warum kommt er nicht nach Hause.“ Weinend stand sie vor der Hütte und blickte auf den dunkel gewordenen Horizont. „Warum konnten wir nicht friedlich mit diesen Menschen leben? Welchen Sinn macht all der Schmerz?“ Beschäftigt mit diesem Gedanken, ging sie in die Hütte und verschloss die Tür.