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Schwarz
Ich stecke den Schlüssel in das Türschloss und mein Blick streift den knallig blauen Herzanhänger, welcher daran baumelt. Hat man mich früher nach meiner Lieblingsfarbe gefragt, habe ich immer sofort Blau gesagt. Deswegen hat Mutter mir genau diesen Anhänger gekauft. Ich drehe den Schlüssel im Schloss und versuche möglichst leise, die Tür aufzuziehen. Ich denke, ich kann unbemerkt in mein Zimmer schleichen und so tun, als wäre ich schon seit Stunden da. Das kann ich gut, unsichtbar sein. Jahrelange Übung.
»Sag mal«, höre ich Mutter aus der Küche rufen und zucke zusammen. Dann kommt sie schon zu mir in den Flur gestapft, bleibt vor mir stehen, einen Arm in die Hüfte gestützt, den Kopf geneigt, »du hast es vergessen, oder?«
Das kann sie gut, mich durchschauen. Jahrelange Erfahrung. Aber ich möchte trotzig sein, wahrscheinlich weil mein Plan mit dem Ins-Zimmer-Schleichen nicht aufging, vielleicht auch weil ich keine Ahnung habe, wovon sie spricht.
»Was denn vergessen?«, frage ich.
Wir stehen uns wortlos einige Zeit gegenüber und starren uns an. Ich werde nicht nachgeben, so viel steht fest.
Da seufzt Mutter schwer, schüttelt den Kopf, fixiert mich, mit ihrem enttäuschten Blick. »Die Überraschung wartet in deinem Zimmer auf dich.«
Erst da fällt es mir wieder ein. Sie hat eine Überraschung angekündigt, schon vor Tagen. Hat versucht, eine große Sache daraus zu machen, immer mit diesem besonderen Lächeln und geheimnisvollen Andeutungen. Und ich habe es vergessen! Heute ist der große Tag. Ich hätte schon vor Stunden zuhause sein sollen. Ich habe es einfach vergessen.
Mutter geht zurück in die Küche, schneidet Tomaten, sagt nichts mehr, schnauft nicht einmal, macht einfach mit dem Essen weiter und ignoriert mich, wie ich sichtlich überfordert regungslos dastehe, mit meinen Gedanken beschäftigt. Wie konnte ich das nur vergessen!?
Ganz benommen gehe ich schließlich in mein Zimmer, was soll ich sonst machen? Noch bevor ich die Tür ganz geöffnet habe, nehme ich einen veränderten Geruch wahr, nach trockenem Gras oder Holz, irgendwie neu, definitiv anders als sonst und dann sehe ich es, direkt auf meinem Schreibtisch steht nun ein großer kuppelförmiger Käfig in Beige und Gold. Darin sitzt ein eisblauer Wellensittich. Vorsichtig nähere ich mich und spüre, wie er mich mustert.
»Hallo mein kleiner Freund«, sage ich ganz leise, »ich bin Lara.«
Ich setze mich an den Schreibtisch und beobachte den Vogel, der ganz still auf seinem Stöckchen sitzt. Der soll jetzt mir gehören? Gedankenverloren zupfe ich an seinem Käfig herum. Mutter hat die Angewohnheit, mir blaue Dinge zu kaufen, das war schon immer so. Meine Augen sind eisblau, dazu habe ich eine helle Haut und pechschwarze Haare, eigentlich eine schöne Kombination, außergewöhnlich und das wurde immer von allen bewundert, schon seit ich ganz klein war; besonders als ich klein war. Damals haben selbst Fremde, Mutter beim Einkaufen angesprochen, sind einfach stehen geblieben und haben mich wie ein Gemälde betrachtet, ganz ungläubig, sich an die Brust gefasst, so ein schönes Kind, so wunderschöne blauen Augen. Mutter hat mir dann immer häufiger blaue Sachen gekauft, blauen Schmuck und Haarbänder, unzählige kleine blaue Kleider, mein Kleiderschrank eine Sammlung aller Farbstufen von Blau. Hat man mich damals nach meiner Lieblingsfarbe gefragt, habe ich sofort Blau gesagt. Jetzt, nach all den Jahren, bin ich gar nicht mehr so sicher. Für Mutter ist das Blau meiner Augen immer noch das Schönste und deswegen auch der blaue Schlüsselanhänger, deswegen genau dieser Vogel. »Weißt du das?«, frage ich ihn, »weißt du, warum ausgerechnet du hier bist?« Er antwortet nicht, aber ich kann ihm ansehen, dass er es weiß. Er weiß es ganz genau.
Früher bin ich nach der Schule immer noch ein wenig umhergewandert, ohne zu wissen wohin. Bei einem dieser Streifzüge bin ich in die Irrgänge eines Maisfeldes geraten und wie zufällig auf einem mit Gras bewachsenen Hügel gelandet, welcher vollkommen abgeschirmt, ringsherum eingefasst von Maisfeldern, absolut verlassen dalag; nur das Summen von Insekten war zu hören. Seitdem verbringe ich meine Nachmittage meistens auf dem Hügel, werfe mich rücklings ins Gras, verschränke die Hände hinter dem Kopf und betrachte den ewig blauen Himmel. Manchmal mischen sich weiße Wolken in das Bild, riesige weiße Wattebäusche, die sich in meiner Phantasie dann zu großen Götterbildern entfalten, ohne mein Zutun zu einem phantastischen Film werden. Das ist viel spannender als mein eigentliches Leben, vor allem aber weniger einsam. Ich mag das Alleinsein. Doch Einsamkeit ist etwas ganz anderes. Ein Gefühl, als würde ein kaltes, dunkles Loch im Bauch sich immer weiter ausdehnen, bis es auch den Kopf einnimmt und dann? Ich spüre Einsamkeit am meisten, wenn ich Menschen um mich herum sehe, überall sind sie in Gesellschaft, nicht nur in der Schule, auch auf den Straßen und beim Einkaufen. Einmal hat mich der Verkäufer vom Kiosk gefragt, wo ich denn meine Freunde immer lasse und da bin ich einfach weggerannt, habe meine Papiertüte mit Schlümpfen und Erdbeeren zurückgelassen und bin gerannt. In den Kiosk bin ich nie wieder gegangen. Dasselbe kann ich mit der Schule ja nicht machen, da muss ich jeden Tag hin, noch für Jahre. Beim Gedanken daran wird mir ganz schlecht. Erst heute habe ich sie wieder über mich reden hören.
»Lara ist so komisch! Wie sie immer an uns vorbeischwebt und sich für keinen interessiert«, hat ein Mädchen aus meiner Klasse zu einem anderen gesagt, »Und besonders hübsch ist sie auch nicht.« Das andere Mädchen sagte darauf: »Ich finde sie sogar richtig hässlich. Die braucht sich mit ihren scheiß blauen Augen nicht einbilden, dass sie was besseres ist.«
Ich versuche, die Erinnerung wegzupacken, in eine Schublade zu stecken und diese abzusperren. Doch egal welche Schublade ich aufziehe, es fliegen mir nur mehr solcher Erinnerungen entgegen. Da schaue ich so lange in den Himmel, bis es keine Rolle mehr spielt.
»Wo warst du schon wieder die ganze Zeit? Ich habe mir Sorgen gemacht!«, höre ich Mutter rufen, noch bevor ich ganz zur Tür herein bin.
»Ich war doch nur draußen«, entgegne ich, schlüpfe aus den Schuhen und will direkt in mein Zimmer gehen.
»Mit jemandem aus der Schule?«
»Ja«, antworte ich, doch wir wissen beide, dass es gelogen ist.
»Ich mag es nicht, wenn du so spät noch unterwegs bist.«
Sie will eigentlich sagen, sie mag es nicht, dass ich alleine unterwegs bin. Nur darum geht es ihr. Meine eigene Mutter hält mich für eine Eigenbrötlerin. Das Schlimmste ist, sie hat Recht. Ich rolle nur mit den Augen.
»Du musst dich um den Vogel kümmern, Lara. Es ist nicht gut, wenn er den ganzen Tag alleine ist. Das ist ein lebendiges Wesen und du hast jetzt die Verantwortung dafür.«
»Echt jetzt? So eine riesige Scheiße!« Ich stürme in mein Zimmer.
»Junge Dame-«, höre ich Mutter noch rufen, doch da habe ich die Tür schon zugemacht und lehne mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen, würde am liebsten mit voller Wucht zwanzig Türen zuknallen, dass es so richtig kracht. Doch so etwas mache ich nicht. Keine lauten Gesten. Laut wird es nur in meinem Inneren. Ich spüre ein Zittern in meiner Brust und meine Hände ballen sich zu Fäusten. Da macht der Vogel plötzlich einen Laut, zwitschert und schlägt ein paar Mal mit den Flügeln aus. Ich mustere ihn, während ich versuche, meine Atmung zu kontrollieren. Jetzt sitzt er wieder ganz ruhig auf seinem Stöckchen, doch verliert mich keine Sekunde aus den Augen, starrt mich reglos durch seine schwarzen Murmelaugen an. Es ist, als würde er mich vorwurfsvoll anglotzen, als würde er mir sagen wollen, wegen dir wurde ich von meinen Freunden getrennt, wegen dir kann ich nicht mehr fliegen und sitze in diesem kleinen Käfig fest, wegen dir bin ich einsam. Und er hat ja Recht, es ist das Blau meiner Augen, das sein Schicksal besiegelt hat. In meinem Kopf entsteht so etwas wie ein Plan, ganz logisch fügt sich ein Punkt an den anderen.
»Du willst nicht bei mir bleiben, oder?«, frage ich ihn, »Du willst nach draußen fliegen?«
Ohne seine Antwort abzuwarten gehe ich ans Fenster, löse die Verriegelung und öffne es weit. Ich verkeile es mit einem dicken Buch und lehne mich einen Moment nach draußen. Es ist angenehm und windstill.
»Wahrscheinlich hast du am Ende sogar Glück, dass du diese eisblauen Federn hast«, erkläre ich ihm, »denn anders als deine ganzen Freunde, die immer noch in dem Käfig im Laden eingesperrt sind, bist du derjenige, der in die Welt fliegen wird.« Ich öffne das Türchen des Käfigs und entferne mich ein Stück.
»Los, Vogel«, fordere ich ihn gönnerhaft auf. »Ich entlasse dich in die Freiheit.«
Schnell und mühelos fliegt er aus dem Käfig und setzt sich auf das Fensterbrett, verharrt dort für einen Moment, mustert mich ausdruckslos durch seine dunklen Augen. Da glaube ich tatsächlich kurz, dass er zögert.
»Oder willst du...«, fange ich an, doch mitten im Satz fliegt er einfach hinaus.
Meine Mundwinkel zucken, und ich spüre, wie meine Augen sich mit Tränen füllen, doch ich schiebe das Gefühl beiseite, unterdrücke den Impuls. Stattdessen mache ich das Fenster wieder zu und schaue in den Himmel. So viele Wolken.
Am nächsten Tag, als ich auf dem Nachhauseweg von der Schule wieder an meinem Haus ankomme, sehe ich den Vogel schon von Weitem. Es sieht aus, als würde er am Treppenabsatz sitzen und auf mich warten. Ich freue mich, weil er offensichtlich für mich zurückgekommen ist, weil er, wie es scheint, doch bei mir bleiben will. Also renne ich los, laufe lachend auf ihn zu, und erst als ich schließlich an der Treppe angekommen bin, erkenne ich, dass der Vogel auf der Seite liegt. Er bewegt sich nicht, auch nachdem ich ihn leicht anstoße, rührt er sich nicht.
Hat man mich früher nach meiner Lieblingsfarbe gefragt, habe ich stets ohne zu zögern Blau gesagt. Doch da ist nur Schwarz, viel zu lange schon nur Schwarz.