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Schwarz
Wolkenfetzen begraben den Vollmond, bis nur noch sein bleiches Schimmern am Himmel liegt - ein Totenschädel unter zerschlissenem Leichentuch.
Die Kirche steht nebelumflossen auf einem Hügel, wo Bethlehem und Golgatha vereint sind. Hier erweckt die Schlange den Geist des Todes zum Leben.
Die Zeit tröpfelt bedeutungsschwanger vom Rand der Stille in die Tiefe, wie das Blut eines Opfertieres in eine goldene Schale. Kein Schrei und kein Lachen - an diesem Ort wird innegehalten und gewartet. Gewartet auf die Ankunft einer heiligen Existenz.
Dies ist die Nacht, in der die Ewigkeiten fortgeweht werden und der Schleier zerreißt. Dies ist die Nacht, in der Ihr Augenblick endlich gekommen ist.
Lange hat Sie hier gekauert. Hoch oben, über dem Altarraum, auf den staubigen Dielen. Nackt, wie ein unschuldiges Kind. Reglos, einer Spinne gleich, die auf das vielsagende Zucken in ihrem Netz lauert.
Die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, das Kinn auf der Brust, unter Ihrem langen, rabenschwarzen Haar – so erwacht Sie und schlägt die Augen auf. Der schwarze Dotter Ihrer Pupillen ergießt sich pulsierend in die Iris, vermengt sich wie hervorquellender Rauch mit dem Weiß Ihrer Augen, bis Ihr Blick unendliche Finsternis ist. Lächelnd richtet Sie sich auf und setzt, ohne zu zögern, einen Fuß vor den anderen. Lautlos gleitet Sie die schmale Holzbrücke über dem Kirchengewölbe entlang und die ausgetretenen Stufen der steinernen Wendeltreppe hinunter. Erhobenen Hauptes schreitet Sie durch das Mittelschiff auf den Altar zu. Die Glocken verkünden donnernd die Mitte der Nacht, die Ostmauer zerspringt, Sturzbäche von Blut umspülen Ihre nackten Füße, als Sie dem Schoß der Kirche entschlüpft und wie aus Fantasie geborene Realität ins Leben hinübergeht.
Biographisches Anamnesegespräch Herr Christian Schwarz, im Rahmen psychiatrischer Begutachtung, 25.09.2018, Klinik Maria Hilf Coburg, Dr. Michael Heweit. Auszug.
„Ach, Herr Schwarz, da sind Sie ja. Hereinspaziert! Bitte, nehmen Sie Platz.“
„Dankeschön.“
„Mit dem Ablauf sind Sie ja soweit vertraut, gell? Dann können wir uns das ganze Drumherum sparen - warum sind Sie hier, was machen wir, dies, das, Ananas. Wasser?“
„Ja klar. Danke.“
„Wunderbar! Ich nehme an, Sie wissen, welcher Tag heute ist?“
„Donnerstag.“
„Datum?“
„Siebenundzwanz…, fünfundzwanzigster September.“
„Weiter?“
„Ach ja. Zweitausendachtzehn.“
„Fantastisch! Wo wir hier sind, können Sie mir auch sagen?“
„Maria Hilf. Coburg.“
„Exakt. Ja gut, dann kommen wir mal zu Ihnen. Geboren?“
„Fünfzehnter Juni einundneunzig. In Rehau.“
„Soso. Verheiratet? Kinder?“
„Nein.“
„Was machen Sie beruflich? Also normalerweise.“
„Ich bin Hebamme.“
„Hebamme? Wie ist das denn passiert?“
„Was?“
„Mmh, wo haben Sie Ihre Ausbildung gemacht?“
„Ach so, in Bayreuth.“
„Und Sie arbeiten in …“
„Als Beleghebamme im St. Elisabeth Krankenhaus in Hof.“
„Ja gut, … Name?“
„Name?“
„Ihr Name!“
„Ah, Ciara Berens.“
„Ciara Berens.“
„Genau.“
„Hmhm … Frau Berens. Ciara. Geboren in Rehau. Achtähsiebenundzwanzig Jahre jung. Ledig. Hebamme … ja gut. Schön. Sagt Ihnen der Name Christian Schwarz etwas?“
„Ja. Das ist ein Name meines Gottes, des Schöpfers.“
„Ein Name Ihres Gottes? Wie darf ich das denn verstehen?“
„Herr Schwarz hat mich erschaffen, er braucht mich. Ich bin seine Muse und aus seiner Inspiration entstanden.“
„Was Sie nicht sagen. Das ist aber … ist das dann nicht irgendwie paradox, eine Art Kreislauf oder so? Wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, gell? Entschuldigen Sie die Formulierung ...“
„Kein Problem.“
„Ja gut …“
Ich bin hier. Ich bin bereit. Endlich bist Du auf dem Weg zu mir. Ich werde warten. Wir wollen uns die Zeit vertreiben, noch einmal hinabsteigen, ein letztes Mal in die Dunkelheit. Also hereinspaziert und willkommen in meiner Existenz. Hier gibt es nur mich allein. Ich bin Gott. Ich bin Alles. Das hier ist meine Welt und meine Welt ist Schwarz.
Ich knie auf dem Boden, inmitten eines dunklen und leeren Raumes. Gebeugt, mit diabolischem Buckel, über meinen Laptop. Die Finger hämmern verkrampft auf die Tastatur, ich arbeite dort unten mit meinen Händen. Aber es fühlt sich nicht gut an, wie bei der Gartenarbeit zum Beispiel, wenn man die Erde spürt, etwas Natürliches anfasst. Vielmehr wühle ich, angeekelt, in einem stinkenden Pfuhl voll klebrigem Teer und stecke ellenbogentief in den schlüpfrigen Eingeweiden eines mir unbekannten Wesens und mein Haar klebt schweißnass an meiner Stirn. Eine Hebamme des Grauens, denn am Ende halte ich nicht mehr in meinen Händen, als ein winziges schwarzes Herz, dessen Pulsieren immer schwächer wird, bis es schließlich für immer verstummt.
Zehn Jahre. Zehn Jahre in dieser Kammer – die Wände, Ränder meines Daseins, saugen sich an mir fest, wie eine zweite Haut. Eine Maske, die sich über mein Gesicht legt, Augen, Nase und Mund verschließt, bis ich keine Luft mehr bekomme. Ich habe Angst diese Haut einzuatmen, dass sie in mich eindringt und sich von innen festsaugt, mich dazwischen zerquetscht und ich halte den Atem an, bis es nicht mehr geht, reiße den Mund auf und hocke dort in der Nacht, mein Gesicht die entstellte Fratze eines Toten. Um mich herum plötzlich eine stockdunkle Kathedrale der Finsternis, endloses Universum der Schatten, in dessen Mitte ich auf kaltem Felsenboden kauere, wahnsinnig vor Angst und Einsamkeit, während ich versuche, die Existenz der monströsen Gestalten zu leugnen, die aus der grenzenlosen Schwärze auf mich herabblicken. Sie flüstern mir zu und dann brüllen sie. Immer dieselben Fragen in meinem Kopf.
Bin ich niemand? Bin ich alle? Bin ich allein, oder nichts?
Es gibt keine Welt da draußen und keine Welt in mir. Es sind nicht einmal die Augen eines Fremden, die mir aus dem Spiegel entgegenblicken; da ist nur eine unendliche Leere und ich kann dem Drang nicht widerstehen - dem Drang, am Rande der Klippe stehend, in meinen inneren Abgrund zu springen. Fallenlassen und mich im Nichts verlieren.
Immer weiter und tiefer in mich hinein. Meine Finger rasen blind über die Tasten, suchen, aber da ist nichts, nur ich selbst im Delirium meiner Einsamkeit und wenn mein Kopf vornübersinkt, explodieren neonschwarze Alpträume und statt mit einem Schrei, erwache ich zum Klickediklack der abgenutzten Tastatur und endlos stürzen immer mehr Buchstaben, Wörter, Sätze und zerfressen das weiße Licht vor meinen tränenden Augen und die Welt wird schwarz. Sie sind die Maske, die mich verhüllt und mich ersticken wird. Ich muss diese Welt der Schwarzen Kunst verlassen, jemand anderes werden, und Du wirst mit dabei helfen. Ich habe Dich erschaffen, damit Du zu mir kommst, in der Mitte der Nacht und Du wirst mich aus dieser Welt in die nächste Heben und den Preis, mein Leben, mein Blut, werde ich mit Freuden bezahlen, damit ich endlich Sterben und Auferstehen kann.
Gib mir keine Liebe. Gib mir die Mutter und den Tod. Gib mir Klotho und Atropos. Anfang und Ende.
Alles dazwischen sei Schwarz.
Forensisch - Psychiatrisches Gutachten Frau Ciara Berens, Untersuchung vom 20.08.2021, St. Elisabeth Krankenhaus Hof, Klara Thurzo FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie, Auszug.
Die Probandin gibt an, sie habe Herrn S. etwa im Herbst 2018 über das Internet kennengelernt. Unter den Pseudonymen „CountessBathory“ (Frau B.) und „Bartleby81“ (Herr S.) habe man sich regelmäßig geschrieben, eine andere Art des Kontakts sei von beiden nicht erwünscht gewesen.
Erst nach einem Jahr sei der Gedanke zur Sprache gekommen, die Probandin könne Herrn S. bei seinem Todeswunsch behilflich sein. Auf die Frage, wer sich als erstes zu dem Thema geäußert habe, antwortet Frau B.: „Ich kann mich nicht erinnern, wer Vater oder Mutter dieses Gedankens ist – auf einmal haben wir darüber geschrieben, es hat einfach angefangen und die Idee war geboren.“
Schließlich habe man sich auf das Treffen am 13.11.2019 geeinigt. Über den geplanten Ablauf sei detailliert korrespondiert worden.
Die Probandin berichtet, sie sei an besagtem Abend pünktlich um neun Uhr bei Herrn S. eingetroffen und habe ihn dort zum ersten Mal gesehen. Sie beide hätten bis zu diesem Treffen auf schriftliche Kommunikation bestanden und auch auf den Austausch von Fotos verzichtet. Der weitere Ablauf des Abends sei wie verabredet durchgeführt worden. Frau B. schildert die Umsetzung wie folgt:
„Es war alles genauso vorbereitet, wie wir geschrieben hatten. Ich spritzte ihm Heparin, dann befestigten wir seine Füße an dieser Vorrichtung - ich konnte ihn da mit so einer Art Seilwinde hochziehen. Er hing quasi kopfüber von der Decke, unter sich die Badewanne. Ich zog mich aus und nahm das Messer. Dann kletterte ich in die Badewanne, machte den Schnitt am Hals und rieb mich mit seinem Blut ein.“ Als Grund für ihre Tat gibt Frau B. an: „Es war sein Wunsch. Er hat mich erschaffen. Er hat mich in diese Welt geholt, damit ich ihn von dieser Welt erlöse. Und ich werde mich in der schweigenden Nacht auflösen, die nun folgt, und ewig leben.“