Was ist neu

Schwarz

Mitglied
Beitritt
15.10.2017
Beiträge
1

Schwarz

Schwarz

Ich renne.
Ich renne, wie ich noch nie gerannt bin.
Ich kann sie hören! Hinter mir.
Ich höre ihre Rufe,
verstehe nicht was sie schreien.
Ich höre ihre Schritte,
höre sie näher kommen.
Ich renne.
Ich habe Angst!
Ich spüre kalten Schweiß, wie er über mein Gesicht läuft,
wie er meinen ganzen Körper bedeckt.
Ich renne.
Ich weiß nicht mehr wie lange ich schon renne.
Es müssen Jahre sein.
Ich spüre meine Beine nicht mehr.
Unaufhaltsam tragen sie mich vorwärts.
Tragen mich durch die dunkle Straße.
Kaputte Laternen, parkende Autos und Stille.
Kein Mensch ist auf der Straße, in keinem der Fenster brennt Licht.
Niemand sieht mich.
Niemand wird mir helfen.
Die Straße ist leer. Nur ich und meine Verfolger.
Die Scherben kaputter Flaschen bedecken den Weg vor mir.
Nichts ist mehr wichtig. Es zählen nur noch die Verfolger und die
Straße vor mir.
In meinem Kopf herrscht Leere.
Und trotzdem rasen meine Gedanken. Ich sehe nur noch Dunkelheit.
Die Finsternis legt sich über mich wie ein schwarzes Tuch.
Sie droht mich zu erdrücken.
Ich gerate ins Wanken, verliere das Gleichgewicht.
Ich falle.
Die Scherben zerschneiden mich.
Ich stehe auf, falle erneut.
Niemand ist da, der mir hilft.
Keiner, der mich hält.
Schnitte bedecken meinen Körper, werden zu hellen Narben
auf meiner Haut.
Es ist niemand da, der sie sieht, niemand, den es interessiert.
Ich laufe weiter.
Die Schwärze um mich herum betäubt mich.
Ich will weg von dieser dunklen Straße, möchte mich verstecken,
möchte zurück.
Es gibt kein Zurück mehr. Es gibt keinen anderen Weg.
Ich erinnere mich. Erinnere mich an andere Straßen, an Wege, die
mich wo anders hingeführt hätten.
Doch zu dem Zeitpunkt, an dem es noch andere Wege gab, waren
meine Verfolger noch weit entfernt. Waren nur zu erahnen.
Ich war davon überzeugt, dass ich ihnen entkommen könnte,
dass ich schneller sei als sie.
Jetzt ist es zu Spät.
Es gibt nur noch die eine dunkle Straße, schwarze Wände zu beiden Seiten.
Es gibt kein Zurück mehr.
Die Verfolger sind mir dicht auf den Fersen.
Ich renne.
Ich falle, habe kaum noch die Kraft, aufzustehen.
Die Dunkelheit erdrückt mich. Schnürt mir die Luft ab. Macht mich
blind und taub für alles Andere.
Nur noch Schwärze.
Ich schreie!
Es ist niemand da, der es hört.
Ich renne.
Ich renne immer weiter, weiß schon lange nicht mehr wohin.
Ich will nur entkommen.
Die Angst ist zu groß.
Ich zittere am ganzen Körper.
Ich renne.
Ich kann nicht mehr klar denken. Ich weiß nicht, wohin ich laufe,
weiß nicht mehr, warum ich laufe. Ich habe kein Ziel mehr.
Ich bleibe stehen.
Die Straße ist zu Ende.
Ich stehe vor einer Wand.
Schwarz.
Es gibt keinen Weg mehr.
Ich höre die Schritte meiner Verfolger. Ich kann sie spüren.
Gleich sind sie da. Gleich haben sie mich eingeholt. Gleich ist es vorbei.
Ich bin ganz ruhig.
Ich habe keine Angst mehr.
Ich weiß, was ich tun muss.
Ich atme tief ein. Spüre, wie sich meine Lunge mit Luft füllt.
Ich öffne das Fenster, steige auf den Sims, schließe meine Augen und springe.
Unten stehen meine Verfolger und lachen.
Sie haben gewonnen.
Ich konnte ihnen nicht entkommen.
Ich falle.
Schwarz.

 

Bei meinen Wanderungen durch die nähere Zeitgeschichte hierorts treff ich auf diesen vergessenen oder doch eher (bewusst?) übersehenen Erstling,

lieber Sludig -
und damit erst einmal herzlich willkommen hierorts!,

der zwischen Ichbezogenheit und Verfolgungswahn mit der Nähe von Angst und Enge (der Plural der Angst - ahd. angust/mhd. angest - klingt nicht zufällig wie der Superlativ von enge - ahd. engi / mhd. enge = "eingeschnürt/zusammengedrückt" - "am engsten" - da ist also jemand auf der Flucht und da es im stillen Kämmerlein endet wahrscheinlich vor sich selbst ... Die eigenwillige, ich sag mal "hämmernde" Form erinnert eher an Lyrik und Litanei (obwohl es dann doch bestenfalls ein Wechselgebet mit dem stummen Verfolger ist).

Zur Form:

Ein Verzicht auf die massenhaft verwendete erste Person sing. ließe die "Geschichte" realistischer gestalten, die gemeinte Person würde durch die Form des Verbs/Prädikats weiterhin "ich" bleiben und die nun entstandenen Ellipsen erzielten den Effekt eines Brandbeschleunigers: Der Icherzähler übertrüge die Hatz / Hetze auf den Text.

Nehmen wir die ersten Zeilen:

"Ich renne. / Renne, wie ich noch nie gerannt bin. / Ich kann sie hören! Hinter mir. / Höre ihre Rufe,
..." usw. usf., also ein Prinzip zur Regel machen, das Du hier nur gelegentlich verwendest. - Und ist ein "Hab' Angst" nicht viel dramatischer als ein vollständiger Satz der SPO-Struktur trotz Ausrufezeichens sein kann? Hinzu kommt, dass es wie ein un-gewollter/gebellter Imperativ klingt.

Bei aller Angst sollte nicht vergessen werden, dass die Sprache korrekt bleibe, wie etwa hier

...
verstehe nicht[,] was sie schreien.
wenn ein Komma nachzutragen ist. Und dass Du die Regeln kennst, zeigt sich ja gelegentlich, wenn auch immer wieder mal geschludert wird, wie hier
Ich weiß nicht mehr[,] wie lange ich schon renne.
usw.

Hinzu gesellt sich noch ein Denk- oder Sprachfehler, wenn es heißt

Die Scherben zerschneiden mich.
Der Fehler liegt in der Vorsilbe des Verbs, denn Scherben mögen "schneiden" können, zum "Zerschneiden" brauchen sie ein handelndes Subjekt - und wär's das Opfer selbst!, das Dich/sich mittels einer oder mehrerer Scherben foltert.

Selbstverständlich wird die Diskussion auftauchen, ob das überhaupt eine Geschichte sei. Aber das Wort "Geschichte" lässt keine andere Deutung zu, ist es doch eine Partizipbildung des Verbs "geschehen", was in den ursprünglichen Schreibweisen ahd. "gisciht" / mhd. "geschiht" (das "h" ist da noch kein Dehnungs-h, sondern der Reiblaut, den wir heut "ch" schreiben).

"Gern" gelesen ist bei einem solchen Thema etwas viel verlangt, vor allem, wenn nicht klar ist, ob der "Icherzähler" identisch mit dem Autor ist ...

Stattdessen hoff ich, dass Du ein wenig Ironie verkraftest selbst bei einem ernsten Thema wie Verfolgung / Wahn / Selbstmord(gedanken)

Tschüss und schönes Wochenende vom

Friedel

 

Lieber Sludig,

Deine Geschichte - für mich ist es eher eine Ballade - finde ich beeindruckend. Nach meinem Empfinden schilderst Du sehr lebendig einen bösen Traum. Deshalb ist die Verwendung erste Person singular angebracht. Den Abschnitt:

"Ich erinnere mich. Erinnere mich an andere Straßen, an Wege, die
mich wo anders hingeführt hätten.
Doch zu dem Zeitpunkt, an dem es noch andere Wege gab, waren
meine Verfolger noch weit entfernt. Waren nur zu erahnen.
Ich war davon überzeugt, dass ich ihnen entkommen könnte,
dass ich schneller sei als sie.
Jetzt ist es zu spät."

würde ich weg lassen. Ebenso:

"Ich konnte ihnen nicht entkommen."

herzlichen Gruß
Niebla

 

Hallo Sludig,

ich finde den Text wirklich stark. Mich hat er beim Lesen gehetzt, nicht zur Ruhe kommen lassen. Er nahm immer mehr an Fahrt auf. So, wie du es bestimmt wolltest. Ein tolles Tempo. Zudem mag ich die Form. Es hat etwas von Songtext oder Gedicht. Es wirkt sehr strukturiert und abgehackt, wie Gedanken in solchen Situationen wohl auch sind.

Gruß von einem Anfänger
DiPalma

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom