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Schwanensee
Allein. Ganz allein. Allein? Er war nicht allein. Da war noch jemand. Er war allein! Ein Steg weiter, mit der blauen Mütze. Er sieht niemanden! Etwa einunddreißig Meter nördlich, dreißig Meter westlich. Da war sie, allein. Auch ganz allein, hier am See. Jetzt sieht er sie! Sie ist hübsch.
Er beobachtet sie. Schaut zu ihr. Kann den Blick nicht abwenden. Sie sieht ihn nicht, steht einfach nur da. Allein. Eingehüllt in ein schlichtes Gewand. Und neben ihr, diese Tiere. Große, weiße Tiere. Schöne Exemplare. Schwimmen auf dem Wasser. Friedlich.
Die Sonne! Sie war rot. Glühend. Heiß! Taucht die Landschaft in liebes Licht. Das Schilf steht hoch. Sehr hoch. Licht und Schatten fließen – laufen – brennen! Die Welt brennt!
Nun setzt sie sich hin, steht auf. Gefesselt, gefangen. An Händen, an Füßen. Der Blick: gesenkt. Er schaut noch immer, bewundert sie, himmelt sie an. Sie hört ihn nicht. Es wird Nacht. Die majestätischen Tiere schwimmen im Mondenschein. Sie waren allein. Ganz allein.
Er steht auf der Spitze eines hohen Berges. Matterhorn? Zugspitze? Egal! Ringsherum war nichts. Nur das schwarze, düstere, endlose Nichts! Plötzlich ist sie auch da, lächelt ihm aufmunternd zu. Darauf springt er, fliegt! Fällt! Schreit! … Und wacht auf. Schweißgebadet. Oder doch nur vom eisernen Tau durchnässt?
Die Sonne geht auf. Er schaut zu ihr rüber, wie in Trance. Sie ist nicht mehr da. Das Einzige, was von ihr übrig blieb, ist die blaue Mütze, die nun neben den weißen Vögeln ihre Kreise zieht, auf der endlosen Suche nach Halt. Der See wird getaucht in ein goldenes Licht. Die Welt ruft, sie singt! Der Hades hat gerufen.
Er geht, er rennt. Sieht nichts mehr, hört nichts mehr. Nur das schwarze, düstere, endlose Nichts. Als man ihn fragt: Großes, schlankes Mädchen, sechzehn Jahre, Simone Bauer, Kennzeichen blaue Mütze, zuletzt gesehen an 'ner Rheinaue, da wo dran steht „Bade_ verboten“, weil jemand das „n“ weggemacht hat, schüttelt er nur den Kopf. Er sagt nichts, weiß nichts, reagiert nicht. Er kam allein, war allein, ging allein. Ganz allein! Doch schon beim nächsten Mal, seinem letzten Mal, an dem die brennende Sonne im tiefblauen, eiskalten Wasser versinkt, setzt er sich hin, steht auf. Gefesselt, gefangen. An Händen, an Füßen. Der Blick: gesenkt.
Die Tiere schwimmen wieder im Wasser, Licht und Schatten fließen. Er lacht. Ein letztes Mal. Er war allein. Allein am Schwanensee.