Schutzwesten für Alle!
Diese Geschichte basiert auf der Wahrheit - vielleicht ist Sie sogar - etwas abstrahiert - die ganze Wahrheit. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind dann dennoch rein zufällig und resultieren lediglich aus der Darstellung der vom Autor erdachten Ereignisse.
Schutzwesten für Alle!
1.
Schußsichere Westen für Streifenpolizisten forderte die Gewerkschaft der Polizei.
Die Dienststelle, so hieß es da, sei aus fürsorglichen Aspekten gehalten, ihre BeamtInnen nach bestem Wissen und Gewissen gegen Angriffe bei der Verrichtung ihres Dienstes zu schützen.
Die Maßnahme fand sich auf Position 239 der Reformliste "moderne Polizei" unter "Beschaffung von Westen zum Schutz vor Geschossen".
Die Aktionsliste ging durch viele Hände und Köpfe. Sie lag mannigfach kopiert auf vielen Schreibtischen. Unzählige Streichungen und Zusetzungen wurden vorgenommen. Nachdem Sie geprüft war, landete Sie nach Einsichtnahme der Personalabteilung und Stellungnahme der Stabsstelle "Reform der Polizei 1998" schließlich...
nein:
Es waren befasst: Die Landesbeschaffungsstelle, der.....
nein:
verehrter Leser, stellen Sie sich hier bitte ca. 20 Dienststellen, die sich gegenseititig mit Stellungnahmen traktieren vor. Nein, es ist nicht übertrieben. Im Gegenteil. Ich habe 5 Seiten gelöscht, weil es zwar richtig, aber langweilig ist.
Wir machen einfach beim Polizeipräsidenten weiter.
...kam zum Polizeipräsidenten Westhessen. Das Wunder geschah. Er sandte das Papier, ohne den Reformprozess weiter zu verzögern, an seine vorgesetzte Dienststelle, das Ministerium des Inneren des Landes Hessen.
In nur eineinhalb Jahren war damit erreicht, das Vorschläge in der entscheidenden Behörde eintrafen.
Karl Schneider, seines Zeichens Oberamtsrat wechselte vor 20 Jahren vom Polizeidienst in den allgemeinen Verwaltungsdienst des Innenministeriuims. Dies brachte ihm noch heute in der Behörde den unangetasteten Ruf des "Praxiskenners" ein.
Karl Schneider war das Nadelöhr. Er mußte beurteilen, wie sinnvoll die einzelnen Aktionspunkte waren, er mußte versachlichen und die Dinge mit Zahlen füllen. Ersteinmal strich er "Reform 1998" mit dem Lineal durch und schrieb mit gestochener Handschrift "Reform 2000" rot darüber.
Bei ihm auf dem Schreibtisch, so sagte er mit Stolz allen die es wissen und nicht wissen wollten, vereine sich Polizei - mit Ministerialarbeit und Politik.
Das sei nicht einfach. Oft seien es beinahe unlösbare Probleme (weshalb er für die Vorgänge beinahe unlösbar lange brauchte), die einer sorgfältigen, vorurteilslosen Begutachtung bedurften.
Auch unser Punkt 239 bedurfte seiner Kritik. Er gab dessen Prüfung mit den Worten "Beurteilen Sie mir bitte, weshalb wir diese Westen nicht beschaffen können. Rational und mit Zahlen.", an seinen Sachbearbeiter Kramer weiter. Er hatte glücklicherweise einen Wink aus der Fraktion bekommen, das der Innenminister bei der gegenwärtigen Konstellation der Machtverteilung im Parlament unmöglich weitere Kosten für die bloße Aufgabenerfüllung der Polizei durchbringen konnte.
Ja, die Kriminalstatistik war landesweit sogar rückläufig.
Kramer tat seinen Job. Er ermittelte die Kosten pro Weste von 499 .- DM als billigstem Modell, multiplizierte den Preis mit der Anzahl der infragekommenden Beamten und machte 2 dicke Striche unter das Ergebnis von 2,8 Mio DM. Mengenrabatt war egal.
Danach ließ er sich die Statistik über Unfälle mit Todesfolge durch Schußwaffengebrauch im Dienst kommen. Danach gab es in den letzen 30 Jahren im Land Hessen lediglich 16 Polizisten, die durch Schußwaffengewalt bei der Ausübung ihres Dienstes umkamen.
Nicht schlecht.
Er strich 3 fort, wo ungeklärt war, ob es sich womöglich um einen Fall von grober Fahrlässigkeit handelte.
13 Polizisten.
Gut.
Jetzt nur die aktiven, streifetuenden, nicht im Vorbereitungsdienst stehenden etc. Polizisten übriglassen.
5 Polizisten.
Vorzüglich.
Er mochte es, wenn die Fakten seinem Ziel zusprachen. Sonst mußte man so viel begründen. Die Wahrscheinlichkeit des Risikos jedes einzelnen Beamten sank damit unter 3 Promille. Demgegenüber wäre eine Investition von 2,8 Mio DM beinahe ein Fall für den Bund der Steuerzahler gewesen. Jedenfalls sagte er das abends seiner Frau und dachte sich, man kann es so darstellen.
"Aber das ist doch für den Einzelnen egal!", meinte die, während sie sich eine Tüte Chips holte.
"Wie meinst Du das?"
"Na, ich wollte nicht, das Du ohne Weste - wenn Du Polizist wärest - zum Dienst gingst. Ich hätte Angst um Dich. Ich mein, so ja nicht. Dir passiert ja nichts an Deinem Schreibtisch. Aber die kaufen sich doch auch schon alle Westen von ihrem Privatgeld!"
"Erstens, liebe Gaby, mußt Du da global denken sozusagen, zweitens rational und nicht emotional, und drittens könnten auch wir das Geld sinnvoller einsetzen, weil das Risiko eben minimal klein ist. Es ist kleiner, als an einer Fischgräte zu ersticken."
Das mußte er sich merken, dachte er sich noch. Das würde er morgen vergleichend noch in seinen Bericht mit aufnehmen.
Tat er auch.
Die Unfälle durch das Ersticken wegen Fischgräten ermittelte er in der nächsten Woche sogar bundesweit - ja er machte seinen Job wirklich ordentlich. Natürlich war das Äpfel mit Birnen verglichen, aber egal, Ziel-ori-enti-iert denken war angesagt.
Demnach war schließlich das Ersticken an einer Fischgräte - statistisch - 100 Mal wahrscheinlicher als das Erschossen Werden im Dienst und die ganze Maßnahme geradezu grotesk, ja lächerlich.
Schneider, sein Chef, war nicht nur zufrieden, nein, der war hocherfreut.
Ja. Der wußte schon, wem er die brisanten Dinge geben konnte. Führungsqualität eben. Mitarbeiterpsychologie. Er setzte noch - als i - Punkt sozusagen - hinzu, das es kein Konto gab, wo das Geld verausgabt werden konnte. Paar rein technische Hindernisse rundeten das Bild immer gut ab.
Der Innenminister segnete schließlich die Liste ab und der Punkt war gestrichen.
Keine Schutzwesten. Irrwitzig das.
2.
Horst Bremer, Hauptwachtmeister und 13 Jahre im Dienst, hat 4 Kinder und eine Frau. Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen hat er sein Familienleben mit der Toleranz seiner Frau und dem Aufeinanderzugehen - immer wieder - regeln können, und mit dem Dienst im Laufe der Jahre in Einklang gebracht.
Es ist manchmal hart. Gerade dann, wenn Nachtschichten auf dem Plan stehen und er seine Liebsten einige Tage kaum sieht.
Wenn diese Zeiten dann mal wieder für eine Weile vorüber sind und Sie mit den Kindern beim Abendessen sitzen, scherzen Sie, das es so sei, wie vor 15 Jahren, als sie sich nur am Wochenende sahen, und versuchen immer etwas von dieser Anfangsfreude in den Schichtplan ihrer Ehe mit hereinzudeuteln. Augenwischerei. Aber Heilsame.
"Wie jungverliebt eben, mein Schatz! Ich muß gleich weg."
Heute ist es anders. Jetzt beginnen die Nachtschichten wieder.
Horst kramt noch in seiner Aktentasche, steckt ein paar Brote ein und verabschiedet sich.
Bis 5 Uhr morgens läuft alles normal. Paar Betrunkene - man sagt auf dem Revier "eingezogene Führerscheine" - dazu, eine Schlägerei im Westend, einmal Gewahrsam. Nichts Besonderes für eine Großstadt.
Als er einen Kraftfahrer wegen einer defekten Rückleuchte anhält und ihn standardmäßig um dessen Ausweis - und Fahrzeugpapiere bittet, dreht sich der junge Mann im Fahrzeuginneren kurz weg, zieht eine Pistole und schießt aus 1 Meter Distanz.
Horsts Kollege wird später von 3 Schüssen sprechen, die in die Brust trafen. Davon, das dessen Körper regelrecht durch die Luft katapultiert wurde und auf dem nassen Beton aufschlug. Wahrscheinlich war da schon kein Leben mehr in ihm. Auf keinen Fall mehr, als nur 7 Minuten danach der Notarztwagen am Einsatzort erschien.
Die Sanitäter blickten nur herunter auf Bremer. Einer ging in den Wagen und rief über Funk den Leichenwagen.
Der jüngere Kollege konnte detaillierte Angaben zum Täter liefern. 3 Tage später war er gefasst. Heute befindet sich der junge Polizist in psychologischer Behandlung. "Eingeschränkt innendiensttauglich" heißt das im Polizeijargon.
3.
"Was für eine Scheisse. Was für eine verdammte Scheisse.", schrie Schneider im Innenministerium. Er war allein. Keiner hörte ihn. Seine Tür war zu.
"So eine Sauerei. So ein Pech.", hektisch wählte er eine Nummer auf dem Telefon.
"Den Kramer her!", schrie er ins Telefon.
Kramer tanzte an.
"Kramer. Es ist dick. Sie haben schon von diesem Bremer gehört. Veranlassen Sie alles Weitere: Kranz mit Widmung, Anteilige Übernahme der Beerdigungskosten aus dem Personalhilfefonds, Trauerbrief an die Familie. Alles vorher zu mir." Zum Glück war genügend Geld im Haushalt für solche Sachen wie Kränze, Beerdigung und anderen Schnickschnack veranschlagt. War ein Sammeltitel.
Kramer ging.
Schneider würde sich nun mit der Vorbereitung der Stellungnahme durch den Innenminister vor der Presse befassen. Es war eilig.
Gut war ja, das es so schrecklich war. Also erst einmal 3,4 Zeilen Anteilnahme und das übliche Gefühlsgeblubber eben. Danach volle Hilfe für die Hinterbliebenen betonen. Kriegen wir schon hin. Geht schon. Die Rente wird nachher von den untergeordneten Dienststellen geregelt, wenn keiner mehr nach kräht, dann sind die Pressefuzzis wieder mit was Anderem beschäftigt. Dann gibts was zusteht. Nach Gesetz halt. Nicht sein Bier jetzt. Er braucht viel Gefühl und viel Loyalität für das statement des Herrn Minister.
Auch diesen Job machte er überdurchschnittlich gut und der Herr Minister war wieder einmal vollauf mit ihm zufrieden.
Ja. Schneider hatte seine Leute sogar so gut im Griff, das der Kranz pünktlich zur Beerdigung am Grab lag und die anteiligen Beerdigungskosten (55% der Gesamtkosten!) nur 2 Wochen nach der Bestattung bereits auf dem Konto der Familie waren. Und die Rede erst! Er konnte einen alten Freund Kramers dazu gewinnen, einen Nachruf zu formulieren und weil der es ehrlich meinte, war der richtig ergreifend und wahr und berührte alle Anwesenden.
Schneider überkam am Tag des Begräbnisses so etwas wie Unbehagen. Die Witwe weinte stumm, die Kinder begriffen scheinbar nicht recht, es regnete und dann noch der Freund mit den vielen guten Worten voller ehrlicher Traurigkeit und Anteilnahme. Er trat insgeheim von einem Bein auf das andere und hoffte, das der Horror hier bald rum sei.
4.
Der Polizistenmord ging durch den Blätterwald. Und nicht nur da. Im Radio berichteten Sie ständig drüber, ja sogar im Fernsehen wurde es gesendet. Immer wieder.
Hintergründe wurden aufgeklärt. Horst Bremer habe gegen die Dienstvorschrift verstoßen, nach der zu überprüfende Kraftfahrer aufzufordern wären, die Hände auf das Lenkrad zu legen. Habe er fahrlässig gehandelt?
Die Polizeiverwaltung jedenfalls sah das so. Die Hinterbliebenenrente wurde um 20 % gekürzt.
Nach dem Einspruch der Witwe gegen den Rentenbescheid wurde das allerdings wegen "unzumutbarer Härte" wieder fallengelassen. Volle Rente. Irgend so ein Idiot handelte da nach den Gesetzesbuchstaben. Wenn man nicht alles selbst machte. Öffentlich war der Fall, verdammt. Kreativ mit dem Recht arbeiten war gefragt. Volle Rente - was sonst? Knallkopp! Dann muß man eben so lange Gerichtskommentare suchen, bis es passt. Warum die auch nicht mal mitdenken!
Die Mutter von Horst Bremer wollte gegen die Polizei Hessen klagen, wegen Verletzung der Fürsorgepflicht. Schutzwesten hätten angeschafft werden sollen.
Schneider sah es in den Nachrichten. Jetzt ging es zu weit! Das konnte ja noch richtig böse enden, wenn das so weitergeht!
Glücklicherweise wurde ihr die Klagebefugnis abgesprochen. Die Klage sei nicht zulässig.
Der Mutter fehle die persönliche Beschwer. Juristendeutsch. Sachlich korrekt, wenngleich etwas uneinfühlsam.
In der Basis der politischen Parteien, bot sich der Vorfall einigen Funktionären als ideales Ereignis (öffentlich = extrem bedauernswertes) um Profil zu zeigen. Keine Kosten und Mühen dürften gescheut werden, um die Staatsdiener zu schützen. Schutzwesten für alle Polizisten. Man tat das der Presse kund. Man formulierte es in Zeitungen. Es war in aller Munde. Sogar im Kommentar der Tagesthemen wurde es positiv und bejahend aufgegriffen.
Wie ein Lauffeuer ging es durch die politischen Instanzen und landete schließlich beim Innenminister. Der erkannte die Chance sich öffentlichkeitswirksam für seine Polizisten einzusetzen und erklärte kurzerhand "Schutzwesten werden für Alle beschafft". Er hatte Rückenwind.
Und es gab keine Zahlenspiele mehr.
Und keine Haushaltsdefizite. Nicht für Schutzwesten.
Keine Verwaltungshindernisse und Haushaltsstellen.
Innerhalb von 3 Monaten waren sie beschafft. Für alle. Sogar für Polizeibeamte im Innendienst. Egal.
5,2 Mio DM kostete die Maßnahme, plus die anteiligen Beerdigungskosten für Horst Bremer, die Witwen - und Waisenrente und den Kranz .
Das waren sogar bessere Westen als die, mit denen damals kalkuliert wurde.
5000 Beamte hatten sich vorher schon privat mit Westen eingedeckt. Die bekamen noch eine. "Westen für alle", sagte der Minister und hielt Wort. Fragt man die, tragen Sie ihre Alten weiter. "Die sind nicht so gut, die Neuen!"
Karl Schneider?
Karl Schneider der Praxiskenner wäre nicht Karl Schneider, wenn es ihn den Stuhl gekostet hätte. Es wurde zwar ziemlich eng, als bekannt wurde, das seine Abteilung damals bei der Reform die Westen abgelehnt hatte, ja, er kam richtig ins Kreuzfeuer der Kritik, aber er konnte es glücklicherweise auf seinen Mitarbeiter abwälzen.
"Karl", sagte der Minister, denn Sie duzten sich, wenn die Tür zu war, "Karl, mach Dir wegen der Sache, nicht so einen großen Kopf, wir alle wissen, das die beste Führungsperson nichts nutzt, wenn man sich nicht auf seine Mitarbeiter verlassen kann."
Stimmt schon, denkt sich Schneider. Wenn der Kramer ihm damals gesagt hätte... Er ist wirklich empört! Kritikloser Befolger. Man muß doch auch mal selbst denken können. Kann er das nicht erwarten?! Überall Idioten.
Kramer ging fort vom Innenministerium. Heute tut er Dienst im Statistischen Bundesamt.
Zurück blieben:
5000 Westen zuviel und
eine Weste zuwenig
trauernde Kinder, Witwe, Freunde
vermeidbare Mehrkosten
erfolgreiche Funktionäre
eine beruhigte Öffentlichkeit
und ein paar Spinner, die behaupten, "das alles schon früher gefordert zu haben"
und viel Papier mit Zahlen.
Auf einem kleinen Etikett liest man heute den Hersteller der Westen. "Bremser" heißt der. Einige zynische Polizisten meinen, das wäre "fast oder gerade der richtige Lieferant" gewesen.
Und während Sie das hoffentlich durch die bürokratischen Hürden des Anfanges, die ich Ihnen so gut es mir gelang und möglich war, erspart habe, zu Ende gelesen haben, ist schon wieder das nächste Thema "draußen". Am Fernsehbildschirm, im Radio und der Zeitung. Und wir erfahren ein kleines Stück vom großen Puzzle. Einen Teil der Wahrheit. Den für uns.
[Beitrag editiert von: Frank am 10.12.2001 um 11:39]