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Schutzgeld
Wie aus dem Nichts stand er plötzlich neben dem kleinen Fiat Panda und klopfte an die Scheibe. „Verdammt habe ich mich erschrocken!“, rief Adrian, während er das Lenkrad noch in der Hand hielt. Als er das Gesicht des Fremden sah, spürte er Panik in sich aufsteigen. Sicher würden die anderen sein Herz bald pochen hören, dachte er bei sich. „Wer ist das?“, fragte Ana mit unsicherer Stimme vom Rücksitz des Wagens. „Keine Ahnung!“, antwortete Adrian und versuchte dabei gar nicht, seine Beklemmung zu verbergen. „Mach das Fenster auf!“, meldete Pierre sich ungeduldig vom Beifahrersitz zu Wort. Wieder klopfte es an der Scheibe. Diesmal heftiger. Langsam kurbelte Adrian sie hinunter. „Buongiorno, Signore. Can I help you?“, fragte er nervös. „Pizzo!“, sagt der Mann nur, als er seine Hand durch die Öffnung hindurchsteckte. „What? I do not speak Italian“, stotterte Adrian. „Was will er von mir?“, wandte er sich an seine Begleiter. „Wir sprechen diese verdammte Sprache auch nicht, schon vergessen?“, raunte Pierre ihn an, während er seinen Gurt löste.
„Schutzgeld“, sagte Noelle plötzlich. Obwohl noch schlaftrunken, war ihr die Anspannung ihrer Freunde nicht entgangen. Der Fremde vor dem Fenster holte sie augenblicklich in die Realität zurück. Er hatte sich nur kurz heruntergebeugt, nachdem er das erste Mal an die Scheibe geklopft hatte. Dennoch konnte sie deutlich erkennen, was Adrian so sehr in Aufruhr versetzt hatte. Das Gesicht des Mannes war kahl, abgesehen von den zwei wuchernden Brauen über seinen tiefschwarzen, weit aufgerissenen Augen. Sein Gesicht wurde durch eine fleischige Narbe entstellt, welche seine rechte Augenbraue teilte und erst kurz über seinem linken Unterkiefer endete. „Pizzo heißt Schutzgeld“, wiederholte Noelle, diesmal mit Nachdruck. „Was? Vor wem will er uns denn schützen?“ „Vor sich selbst“, entgegnete sie ihm gelassen. „Los, jeder einen Euro, das sollte reichen.“ „Keinen verdammten Penny kriegt der von mir“, keifte Pierre wütend. "Diese Mafiosi-Scheiße zieht bei mir nicht“. Mit einem heftigen Stoß öffnete er die Tür der Beifahrerseite und stieg aus dem Auto. „Hey Don Vito! Wir brauchen deinen Schutz nicht, verstanden? Verschwinde!“. Mit einer wilden Geste deutete er in Richtung des mittelalterlichen Stadttores, durch welches sie gekommen waren. Der glatzköpfige Mann blieb regungslos und starrte Pierre mit durchdringendem Blick an. Wie gebannt wartete der Junge auf eine Reaktion seines Gegenübers. Schließlich griff der Fremde in seine Jackentasche und holte ein kleines schwarzes Handy hervor, auf dem er schweigsam einige Sekunden herumtippte. Nachdem er das Telefon zurück in seine Tasche gesteckt hatte, richtete er seine Augen erneut auf Pierre. Dieser war mittlerweile verstummt. Sein anfänglicher Zorn hatte sich in Unbehagen verwandelt. Noch immer stand der Unbekannte da, ohne jede Rührung. Dann drehte er sich abrupt um und ging. So plötzlich wie er gekommen war.
„Bist du noch ganz dicht?“, schrie Noelle ihren Begleiter an, während sie ihre Tür öffnete und sich vor ihm aufbaute. „Was glaubst du, was du gerade getan hast? In spätestens einer Stunde ist er mit seinen Leuten zurück und unser Auto reif für den Schrott.“ Sie wusste, wovon die redete. Sie kannte Sizilien. Damals, während ihres Auslandssemesters, hatte sie ähnliche Erfahrungen schon einmal machen müssen. Das würde ihr kein zweites Mal passieren!
Lächelnd versuchte Pierre seine Unsicherheit zu überspielen. „Blödsinn! Wir sind hier in Italien, nicht in Afrika und wir haben 2017, nicht mehr 1980. Holt euer Zeug aus dem Auto und lasst uns in die Stadt gehen.“ Fassungslos sah Noelle ihn an. „Ich kann nicht glauben, wie naiv du bist! Auf gar keinen Fall lassen wir das Auto hier stehen.“ Auch die anderen beiden waren mittlerweile ausgestiegen, schwiegen jedoch. „Wie du meinst, dann fahr es eben weg“, erwiderte Pierre mürrisch.
Keine zehn Minuten brauchten sie, um einen neuen Parkplatz zu finden, direkt neben einer kleinen Kirche. Das gut besuchte Café auf der anderen Seite der Straße gab ihnen ein beruhigendes Gefühl. Niemand würde es wagen, hier ein Auto zu demolieren.
Noelle war die erste, die es sah, als sie drei Stunden später aus der Stadt zurückkehrten. Dort, wo der kleine blaue Fiat vor kurzem noch gestanden hatte, war nichts mehr, außer rotem Graffiti. „Pizzo“, stand mit großen Buchstaben auf den Boden der Parklücke geschrieben. „Nein, nein, nein! Scheiße!“, rief Noelle verzweifelt. Sofort füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Das kann nicht sein!“, schrie Pierre. „Diese Schweine!“ Ana stand nur da, schweigend und ängstlich, während Adrian zum Café rannte. „Help! Help!“, rief er wild gestikulierend. „They have stolen our car. Did anybody see anything?“ Als sich niemand rührte, ging er auf einen der Kellner zu. „Signore, please! You must have seen it! Our car was there“ Mit dem rechten Arm deutete er auf die andere Straßenseite, wo sich seine Begleiter befanden. Noelle kauerte mittlerweile auf dem Boden, die Hände vor dem Gesicht. Die anderen beiden standen regungslos hinter ihr. „Scusa, I see nothing“, erwiderte der Kellner. Sein italienischer Akzent war deutlich hörbar, sein Englisch jedoch noch deutlich besser, als das seiner Kollegen. Keiner von ihnen konnte Adrian etwas sagen, selbst wenn sie ihn verstanden.
„Bist du Deutscher?“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich fragen. „Verdutzt drehte er sich um und erblickte einen älteren Mann an einem Tisch. „Ja! Kannst du mir helfen?“, fragte er mit hoffnungsgeladener Stimme. „Weiß nicht“, meinte der Mann. „Hattet ihr so ein kleines blaues Auto?“ „Ja, einen Fiat“, erwiderte Adrian. „Sitze hier schon seit einigen Stunden“, begann der Mann zu erzählen. Erst jetzt fiel Adrian sein italienischer Akzent auf. Behutsam legte der Mann die Zeitung beiseite, in der er bis eben noch gelesen hatte. „Da waren ein paar Männer. Die haben eine ganze Weile neben dem Auto gestanden und geredet. Als ich wieder hinsah, ist einer von ihnen damit weggefahren. Glaube der hatte eine Glatze. Ein anderer kniete ein paar Minuten am Boden. Ich konnte leider nicht erkennen, was er tat“, erklärte ihm der Ältere. Mit weit aufgerissenen Augen sah Adrian ihn an. „Haben sie gesehen, in welche Richtung er gefahren ist?“ „Nein, aber ich glaube, sie wollten zur Via dei Fratelli 34“, antwortete er ihm.
Für einige Momente blickte Adrian sein Gegenüber mit einer Mischung aus Verblüffung und Zweifeln an. Dann verstand er. Der Mann ließ den Anflug eines Lächelns erkennen und griff erneut zur Zeitung auf dem Tisch. „Adri, was ist? Hat jemand etwas gesehen?“, rief Pierre ihm im Laufen aus einigen Metern Entfernung zu. Bestärkt durch die Anwesenheit seines Freundes fasste Adrian neuen Mut. „Der Mann hier weiß wo unser Auto ist. Er ist einer von denen.“ Entgeistert blickte Pierre auf die hinter der Zeitung verborgene Gestalt. Einige Sekunden vergingen, bis sich der Fremde erhob. Behutsam, als wäre er sich seiner absoluten Überlegenheit bewusst, rollte er seine Zeitung zusammen und schob den Stuhl zurück. „Ihr geht jetzt! Sofort!“ Es bedurfte keiner zweiten Aufforderung. Der bedrohliche Unterton in seiner Stimme war unmissverständlich.
„Was? Aber das ist die Straße, in der wir zu Anfang geparkt haben“, stellte Noelle verdutzt fest, während sie eilig durch die Gassen des kleinen Städtchens liefen. Auf einer Kreuzung in der Parallelstraße der Via dei Fratelli blieb Pierre stehen. „Wartet!“, hielt er seine Freunde in gedämpftem Ton zurück. „Es ist meine Schuld, dass wir in der Scheiße sitzen. Wer weiß was uns hinter dieser Ecke erwartet. Ich gehe allein vor!“ „Hör endlich auf den dich in den Vordergrund zu spielen! Wir gehen zusammen“, entgegnete ihm Adrian gereizt. Er spähte als erster um die Ecke des Reihenhauses, hinter welchem sie ihr Auto vermuteten. Nach und nach folgten die anderen seinem Beispiel. Tatsächlich stand es nur wenige Meter von ihnen entfernt, genau dort, wo der Mann mit der Narbe vor einigen Stunden Schutzgeld von ihnen verlangte hatte. Jetzt jedoch, war weit und breit niemand zu sehen. Nachdem sie den keinen blauen Fiat erreicht hatten, stellten sie zu ihrer Verwunderung fest, dass er unversehrt geblieben war. „Leute, seht euch das an!“, sagte Ana. "46, 50 Euro" war das einzige, was sie auf dem Strafzettel in ihrer Hand lesen konnten.