Schutzengel
Ich betrete die Wohnung, von draußen hört man durch die Fenster Vögel zwitschern.
Es wird schon langsam hell, deswegen spare ich es mir, das Licht anzuschalten.
Ein Blick in den Spiegel im Bad; meine Haare unordentlich, weil sie zu oft angefasst worden sind. An meiner Unterlippe noch leichte Spuren von Lippenstift. Mein Hemd riecht noch nach ihrem Parfüm.
Ich ziehe es aus und werfe es in die Waschmaschine. Mit etwas kalten Wasser gespült wirkt mein Gesicht wieder etwas frischer.
Auf dem Weg zur Küche sehe ich sie; statt im Schlafzimmer, liegt sie wieder auf dem Sofa im Wohnzimmer.
Sie liegt ohne Decke, noch angezogen. Ihre Augen sind rot, ihr Make-Up verschmiert. Sie hat geweint.
Auf dem Boden liegt ihr Handy, begraben von Taschentüchern. Sie hat nicht angerufen. Sie ruft mich sonst immer an.
Heute hat sie es geschafft, es nicht zu tun.
Bisher hatte ich eigentlich ein weniger schlechtes Gewissen. Jetzt schon eher.
Sonst weint sie kaum. Diesmal scheint es sie noch mehr fertig gemacht zu haben.
Ich nehme die Decke, die noch gefaltet neben ihr liegt und decke sie zu.
"Es tut mir Leid, dass es wieder so spät wurde", flüstere ich ihr zu, nachdem ihr ihr einen Kuss auf die Stirn gebe.
Während ich mit meinem Kaffee und einer Zigarette auf dem Balkon sitze, versuche ich die vergangene Nacht in Gedanken zu rekonstruieren.
Ich habe sie wieder nicht finden können. Es macht mich langsam depressiv. Sie war zwei Mal da. Zwei Mal habe ich sie gesehen.
Deswegen wird es hier immer schwerer. Immer wenn sie mir in die Augen sieht, erinnert sie mich an sie. Zwar sehen sie sich nicht allzu ähnlich,
dort wie sie mich ansehen, ist absolut identisch.
Sie weiß auch, dass etwas anders ist. Dass ich sie anders ansehe. Dass es mir manchmal wehtut, sie anzusehen.
Ebenso weiß ich, dass sie es sich niemals eingestehen wird, dass es so ist. Sie wird bis zum Ende hoffen. Hoffen, dass sie sich das alles nur eingeredet hat.
Hoffen, dass ich nicht aufgehört habe, sie zu lieben.
Ich merke, dass mir eine Träne die Wange runter läuft.
Ich weiß es selbst nicht.
So sehr ich will, dass sie bei mir bleibt, und unser Leben zusammen weiter läuft wie bisher, so ist es etwas anderes, das ihre Stelle in meinem Kopf einnimmt.
Mein Handy vibriert. Es ist Samstag, 6:05.
Eine Erinnerung, dass ich meinen Verband wechseln sollte und die Finger vom Alkohol.
Ich schmunzel, während ich den kleinen Flachmann mit Gin aus meiner Tasche ziehe.
Der Verband ist schon am ersten Tag ab. Die Wunde tut nicht mehr weh.
Die Erinnerung daran schon.
An dem Tag sah ich sie zum ersten Mal.
Wir hatten wieder einen Streit gehabt, weil ich volltrunken vor der Haustür ihrer Eltern eingeschlafen bin. Das Richtige, um mich davon zu beruhigen, schien mir Alkohol zu sein. Als ich wieder in einem volltrunkenen Zustand aus der Bar geworfen wurde, taumelte ich am Straßenrand. Ohne richtig auf mein Gleichgewicht achten zu können, stolperte ich auf die befahrene Straße.
Als ich das Scheinwerferlicht unmittelbar vor mir sah, dachte ein Teil von mir, es wäre vorbei.
Bis ich von hinten zurück gezogen wurde.
Sie hatte mich an der Jacke weggezogen, fast aus der Fahrbahn des Autos raus.
Deswegen hat es mich nicht so stark erwischt. Ich rollte quer über die Straße.
Mein erster Reflex war nicht, zu prüfen, ob mit mir alles in Ordnung war.
Ich wollte zuerst sehen, wer mich gerade vor dem sicheren Tod gerettet hatte.
Hinter mir stand sie; ihre Augen hatten ein wunderschönes Funkeln, selbst bei Nacht.
Ihr Haar lag leicht aufgeschwungen auf ihren Schultern. Ihre Ausstrahlung wie die eines Engels.
In der Ferne hörte ich Sanitäter. Als ich wieder zu ihr sah, war sie weg. Einfach so. Als hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst.
Ich spüre, wie mich ihre Arme von hinten umarmen. Ihr Haar ist an meinem Ohr. Ihre leicht heisere Stimme fällt mir leise ins Ohr.
"War die Nacht schwer?"
Ich hatte ihr erzählt, wir müssten sehr viele Überstunden machen. Wir seien mit einem sehr wichtigen Projekt sehr stark im Rückstand.
Dass mein Job davon abhinge.
Die Tatsache, dass sie fragt, zeigt mir, dass sie weiterhin hofft, dass ich die Wahrheit sage.
Ihre heisere Stimme das Gegenteil.
Ich hatte mich wieder betrunken.
So wie fast jeden zweiten Tag in den letzten beiden Wochen.
Und habe mich dann wieder in Lebensgefahr gebracht.
Beim zweiten Mal, war sie an einem ganz anderen Ort.
Es war in einer leeren U-Bahn Station.
Dort ist mir etwas ähnliches passiert; ich war wieder zu betrunken, um richtig laufen oder stehen zu können.
Dann bin ich in Richtung der Gleise gestolpert.
Ich wurde wieder aufgefangen. Sie hielt mich an meiner Jacke fest und zog mich in Sicherheit.
Ich konnte sie diesmal richtig ansehen.
Ihre Augen. Ihr Haar. Ihre wunderschöne Ausstrahlung.
Doch diesmal war etwas anders.
Über ihrem Kopf schwebte schwerelos ein goldener Schein.
Hinter ihr, aus ihrem Rücken, ragte ein perlweißes paar Flügel.
Ihre einzigen Worte waren: "Gib bitte Acht auf dich, falls ich es nicht rechtzeitig schaffe."
Ihr Kopf liegt auf meinem Schoß, der Rauch ihrer Zigarette zieht die ganze Zeit an meinen Augen vorbei.
Ich sehe auf ihrem linken Unterarm einen großen, blauen Fleck. Den hatte sie wegen mir.
Ich war wütend, weil sie mich nachts pausenlos angerufen hat. Ich hatte sie im Bad nach hinten gestoßen.
Und sie ist mit ihrem Unterarm gegen die Wanne. Ich streiche mit meiner Hand sanft darüber.
Es ergibt Sinn, warum sie zu den Situationen da war. Wieso ich nicht gestorben bin, beide Male.
Mein Schutzengel hatte mich gerettet. Und ich habe mich in sie verliebt.
Die letzten beiden Wochen hatte ich versucht, sie zu finden.
Dafür gesorgt, dass sie mich retten musste.
Geklappt hat es leider nicht.
Ich begab mich absichtlich in Gefahr. Doch konnte ich dieser im letzten Moment aus Reflex entkommen.
Von Mal zu Mal wurde es immer frustrierender.
Heute Nacht hatte ich beschlossen, mich in eine andere Art von Gefahr zu begeben.
Daher der Lippenstift. Das fremde Parfüm.
Ich hatte irgendwie gehofft, sie würde mich davon abhalten, mit zu ihr nach Hause zu gehen.
Doch das tat sie nicht. Auch nicht davor, mit ihr zu schlafen.
Es war eine dumme Idee gewesen.
Über die letzten beiden Wochen hatte ich mein Leben so oft in Gefahr gebracht und beinahe zerstört.
Ich habe nicht auf sie gehört. Ich hätte auf mich selbst Acht geben müssen, wenn sie es nicht kann.
Es war also reine Glückssache, sie die beiden Male getroffen zu haben. Eine Garantie gibt es also nicht.
Wenn ich mit meinem Leben weiterhin so rücksichtslos umgehe, werde ich sie nie wieder sehen können.
Tote haben keinen Schutzengel. Ich spüre einen ganz kurzen Stich in meinem Herzen.
Ich greife mit meiner Hand nach ihrer. Sie richtet sich auf und sieht mir leicht verunsichert in die Augen.
Ich lächel sie an. "Ich werde zum Glück nie wieder Überstunden machen müssen", sage ich ihr, ihre Haare hinter ihr Ohr streichend.
Ihre Mundwinkel ziehen sich nach oben, und in ihren Augen sehe ich wieder dieses Funkeln; absolut identisch mit dem des Schutzengels.